Lesen Sie im Buch, was bis hier berichtet wird! Leseprobe: ...MS „OSTFRIESLAND“ - 1962 Der nur einen Reise auf GESTEMÜNDE folgte meine Versetzung auf den noch in der Ausrüstung bei den Howaldtwerken Hamburg liegenden Reederei-Neubau „OSTFRIESLAND“, einen Nachbau bzw. ein Schwesterschiff von NEUHARLINGERSIEL. Auf letzter Fertigungsphase der OSTFRIES-LAND sollte ich also wie auch seinerzeit bei Entstehen der NEUHARLINGERSIEL wieder ein Mitglied der Werftaufsicht beim Einbau der FT-Anlage durch die Debeg Hamburg sein. Mit Infahrtkommen von OSTFRIESLAND nahmen ab Juli 1962 rund drei Jahre lang stete Reisen nach Brasilien in Charter von Lloide Brasileiro ihren Anfang. Das waren im genannten Zeitraum acht Reisen dorthin mit OSTFRIESLAND und eine weitere als Urlaubsablöser auf NEUHARLINGERSIEL. Auf meinem letzten Reedereischiff „HANNOVERLAND“ bin ich dann noch einmal auf drei Reisen in Charter der brasilianischen Firma „Alianca“ nach Brasilien und Argentinien hingekommen. Ich erwähne letzteres nur darum, weil ich das Erlebnis Brasilien mit seinen mannigfaltigen Begebenheiten sozusagen in einem Ritt wie die Westküstenreisen Nord und Süd abtun möchte. Es wäre zu uninteressant und langatmig, wollte ich jede Brasilreise einzeln behandeln, ganz davon abgesehen, dass ich mich gar nicht recht daran erinnern könnte, wann was genau nach Datum geschah. Das Riesenland Brasilien ist alles in allem jedenfalls ein besonders schillernder Teil unseres Globus, wo man auf Schritt und Tritt Neuem begegnet und Seltsames erleben konnte und kann, ein Land, reich an Naturschönheit und voll von Kontrasten, seine Bürger sind zum anderen eine Mixtur aus vielen Völkerrassen, Hautfarben und Kulturkreisen. Wenn diesem Land, diesem buntfarbigen Menschengemisch die Portugiesen als ehemalige Kolonialherren neben einer Menge anderer Tugenden und Untugenden nicht auch einen großen Schuss gegenseitiger Toleranz, heiterer Weltaufgeschlossenheit und die Maxime der „allein selig machenden (katholischen) Kirche“ in die Wiege gelegt hätten, dann wäre Brasilien, politisch gesehen, vermutlich schon längst explodiert. Dass solches noch nicht geschah, das verdankte und verdankt dieses aus vielen einzelnen Bundesstaaten zusammengesetzte, eigenständige Groß-land Brasilien außer der bisherigen politischen Lethargie seiner unterschiedlich weit verstreuten Bevölkerung seinem Reichtum an abbaufähigen und zum Teil noch schlummernden Bodenschätzen und anderen Naturprodukten für Eigenernährung und Welthandel. Nicht ganz abwegig schien mir der dortzuland oft gehörte Ausspruch zu sein, dass 100 Millionen auch nur fauler Brasilianer nicht imstande seien, ihr Land kaputt zu kriegen. Das klingt wohl reichlich großmäulig, ist aber durchaus charakteristisch für die Mentalität der „Brasis“ als Ausdruck ihres in mancher Hinsicht unmotivierten Selbstbewusstseins einerseits und ihres übersteigerten Nationalstolzes andererseits, welche beiden - allerdings nur aus der Sicht der absoluten Fanatiker unter ihnen - stark angekratzt werden, wenn wider alles Erwarten Brasiliens Söhne nicht Fußball-Weltmeister und Brasiliens Töchter nicht Weltschönheitsköniginnen werden. Wie lange man dortzuland zum einen seinen Stolz und Schlendrian, zum anderen seinen Raubbau am Leichtgreifbaren in der scheinbar unerschöpflichen Natur noch hegen und pflegen kann, weiß allein der liebe Herrgott. Vermutlich wird die stete hohe Zunahme der Einwohnerzahl im Land Brasilien bald strengere Maßstäbe an die Verwertung des Vorhandenen und in jungfräulichem Boden noch Verborgenen stellen. Außerdem ist anzunehmen, dass in Bälde das gewaltige Heer der Armen im Lande - wie allerorts in lateinamerikanischen Staaten - seinen sicher berechtigten Anteil am großen Kuchen des Verteilbaren mehr oder weniger energisch erheischen wird. Im Gegensatz zur Mehrzahl meiner Bordkameraden war ich selber nach den gemachten Erfahrungen der beiden ersten Brasil-Reisen trotz des vielen Schönen und Wechselvollen im Erleben von Landschaft und Menschen im Wunderland Brasilien nicht so absolut entzückt über den jahrelangen Einsatz der Bugsier-Frachter seitens brasilianischer Charterfirmen. Das an jenen „Eldorado“-Gestaden Gebote-ne barg besonders für unsere meist jungen Seeleute viele Momente der Herausforderung an ihre moralische Haltung in sich, eine Forderung, der junge Männer wegen der meist noch fehlenden charakterlichen Reife kaum gerecht werden konnten. Ich hatte bis dato in all meinen Seefahrtjahren kein anderes Land mit so viel käuflicher Liebe - staatlich kontrollierter und „freiberuflicher“ Prostitution – kennen gelernt wie Brasilien. Dieser Um-stand bekundete zweifellos zu seinem Teil den Verfall von Anstand und Sitte als - in meinen Augen zumindest - eindeutige Folgeerscheinung einer seit Jahrzehnten falschen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in diesem Land des Überflusses. Anstieg von Kriminalität und laufender Währungsverfall waren weitere Anzeichen dafür, von dem erbärmlichen, aller Hygiene widersprechenden Zustand unzähliger Slum-Viertel in den Großstädten des Landes schon ganz abgesehen. Ganz bestimmt war im Staat Brasilien vieles „oberfaul“. Ganz gewiss hatten wir deutschen Seeleute mit guten Ami-Dollars oder harter DM in der Tasche vom zunehmend abgrundtiefen Sturz des brasilianischen Cruzeiros finanziell nur Vorteile, an denen die Seemannsbräute bei entsprechendem Arbeitseinsatz ihrerseits kräftig partizipierten, sozusagen als eine Art Empfänger von stiller „Entwicklungshilfe“. Dagegen wäre an sich nicht unbedingt etwas einzuwenden gewesen, der hautritzende Haken im Umgang mit den in reicher Auswahl sich anbietenden in allen möglichen Körperfarben schillernden Schönen war leider sehr oft deren Vor- oder Nachliebe, ihren gewesenen Galanen etwas zu hinter-lassen, was als absolut unerwünschtes Erbe dann von gewinnlüsternen Ärzten mit millionenstarken Penicillin-Einheiten mehr oder weniger erbittert bekämpft werden. Kurz gesagt, es gab auf Schiffen der Brasil-Fahrt, so-bald sie die jungfräulichen Gestade Brasiliens erreicht hatten, in zunehmender Zahl geschlechtskranke Seeleute. Mir als abkömmlichem Besatzungsmitglied während meines Schiffes Hafenliegezeit, der außerdem sowieso bei den örtlichen Agenturen, Postämtern, Wechselstuben usw. Schiffsdienstliches zu erledigen hatte, fiel die zeitraubende Aufgabe zu, die „Eros-Ritter“ den Ärzten zum Fraß vorzuwerfen. Ich fand es dabei gar nicht lustig, dass die klugen Männer im weißen Kittel mich - gewissermaßen als Zeugen ihres redlichen Tuns - unbedingt bei ihrer Arbeit am Kunden zu-schauen lassen wollten, mir nach Begleichung des Entgelts für ihre geleisteten guten Dienste zum Abschied lautstark „auf Wiedersehen“ sagten, zum anderen bei Abmarsch „Funkoffizier mit Kranken“ von Bord die Szenenbeobachter auf dem Schiffsdeck die Abziehenden mit hämischen Anspielungen bedachten. Vielleicht sah es für Zuschauer auch tatsächlich urkomisch aus, als ich mal in Porto Alegre, unserem mehrmals letzten Ausreisehafen, mit einem guten Dutzend mir genau im Gänsemarsch folgenden, seelisch sichtlich geknickten Männern zur Visite im dortigen deutschen Hospital auf-brach. Ausgesprochen originell fand ich meinerseits allerdings einen Arzt-besuch mit drei oder vier Bordkranken in Vitoria. Der mir angewiesene, noch junge Arzt hielt seine Praxis an einem Schreibtisch in einer Ecke eines Großraumbüros ab. Auf seinen wohl schon oft erfolgten Wink hin erhoben sich die Büroangestellten, Weiblein (hübsche „Bienen“ unter ihnen) und Männlein wie Zirkuspuppen und verließen in geordneter Formation den Saal. Die „Aussteiger“ waren noch nicht ganz draußen, als auf einen weiteren Wink des medicos bei meinen Männern die Hosen fielen. Was im Übrigen allgemein hin brasilianische Mädchen und Frauen für den Ausländer aus nördlichen Ländern - anfänglich zumindest - überaus anziehend machte: Außer derer in jungen Jahren meist guten Figur und Haltung, ihr Aus-druck eines natürlich wirkenden Selbstbewusstseins und die stete Betonung ihrer Weiblichkeit durch Anmut in Gesten und Auftreten und eine Kleidung, die - nach damaliger Ansicht zumindest - ihrem Geschlecht mehr entsprach als der im Norden Europas derweil modern gewordene Gammel- oder Kosakenlook. Natürlich fielen nicht alle Mädchen oder Frauen dem fremden Seemann, sobald er nur aufkreuzte, um den Hals, und selbstverständlich war auch in Brasilien, wie überall in der Welt, die käufliche „freie“ Liebe in jeder Erscheinungsform verpönt und verboten. Aber welcher Staat könnte denn schon das heimliche Gewerbe des „Anschaffens“ ernsthaft kontrollieren, schon gar nicht dort, wo außer angeborener Sinnenfreude und verspielt optimistischer Lebenseinstellung der Landesbevölkerung viele andere Mängel irgendwie selbstverständliche Erscheinungen sind, z. B. weit verbreitetes Analphabetentum, Arbeitslosigkeit, zeitweilig monatelanger Lohnzahlungsverzug in privaten und staatlichen Betrieben, alles Dinge oder Umstände, die Hunger und Armut breiter Volksschichten fördern, die zum anderen aus Selbsterhaltungstrieb heraus Menschen zu unlauteren Mitteln - siehe Prostitution der Frauen - greifen lassen. Hinsichtlich Thema Prostitution konnte ich mir im Übrigen gut vorstellen, dass die seit Olims Zeiten für sich beanspruchte Ausschließlichkeit und erotische Großzügigkeit des brasilianischen „Herrn der Schöpfung“ für die brasilianische Frau nicht nur ein sehr schlechtes Lehrbeispiel, sondern im Zeitalter der aufgekommenen Frauen-Emanzipation für die bisher diesbezüglich „Eingeengten“ geradezu eine Herausforderung gewesen sein mag, den Herrenmenschen nun Gleiches mit entsprechendem Gleichen zu vergelten. Nun, kei-ne Regel ohne Ausnahmen, es gab ohne jeden Zweifel auch noch reichlich züchtige Frauen im Lande Brasilien, Hein Seemanns Missgeschick lag eben zur Hauptsache darin, dass diese Spezies wertvoller Frauen für ihn nicht greifbar war, er darum mit seinen mitgebrachten Einsatzmitteln Gutgläubigkeit, Gesundheit und Geld ein gefundener Leckerbissen für die „Eros-Profis“ in den Hafenstädten war. Bedingt durch die kurzen Hafenliegezeiten war und ist sicher auch heute noch eine Kontaktaufnahme der Seeleute mit ehrbaren Menschen und Familien im Ausland, egal wo es auch sein mag, im allgemeinen schwierig, weil meistenteils das verbindende Glied sprachlicher Verständigung fehlt, viele Seeleute außerdem auch gar nicht bereit sind, an Land weite Wege zu gehen. Liegen seine Stätten der Freude weiter ab vom Schiffsliegeplatz, dann warten ja Taxis darauf, von Janmaat benutzt zu werden, und am erreichten Ziel wartete bestimmt ein Mägdelein, schön und treu, wie es ihm bisher nirgendwo in weiter Welt „untergekommen“ war. Nur wenige Tage später verblassten allerdings die an-geblichen Qualitäten dieser Schönen, wenn Hein zum Arzt hin musste. Als unsere Schiffe nach den Krankheitserfahrungen von zwei Brasil-Reisen zu viele „an Liebe Erkrankte“ auswiesen, entschloss sich Bugsiers Seniorchef aus Verantwortungsbewusstsein für seine „unaufgeklärten“ und darum so gefährdeten Besatzungsmänner in Brasilfahrt, dass jedes seiner Schiffe in dieser Marschroute hinfort einen deutschen Arzt zusätzlich anmustern solle. Das war für unsere jungen Seeleute sicher eine gute Vorsorgemaßnahme, brachte mir selber zum anderen durch Wegfall der Arztgänge eine Arbeitserleichterung, ansonsten aber - leider und unerwartet - stieß nicht selten mit dem neuen Dienstgrad „Doktor“ nur ein weiteres schwarzes Schaf zu den bereits reichlich an Bord vorhandenen, es war eben nur ein wenig schlauer als die anderen. Das Weshalb möchte ich der Phantasie des Lesers über-lassen, Reden ist Silber, Schweigen oftmals Gold.
Nun, es gab im Land Brasilien nicht nur die biblische „Eva“ als „Schlange“ und etwaige Menschenschlangen - wenn man beispielsweise auf den „Zuckerhut“ an Rios Hafeneinfahrt per Drahtseilbahn hinauffahren wollte, sondern auch eine Masse richtiger, sich ringelnder Schlangenviecher. Vor denen mussten sich in Feld und Wald, auf entlegenen Stränden und Viehweiden, ja sogar wenig begangenen Wegen auch sonst hochanständige Menschen nach bester Möglichkeit vorsehen. Ich selbst habe zwar bei Exkursionen ins Inland keine Schlange auf freier Wildbahn gesehen, aber in „Butantan“, Brasiliens Schlangeninstitut in Sao Paulo zur Verhaltenserforschung und Giftabnahme von Schlangen, mich „an lebenden Objekten“ von der Vielzahl dieser Reptilien dortzuland durch Augenschein unterrichtet. In den Weiten Brasiliens sterben in jedem Jahr à cto Schlangenbiss und nicht sofort möglicher Injektion eines Anti-Serums viele Menschen. Natürlich wissen die Einheimischen sich irgendwie gegen in Häuser verirrte Schlangen und giftige Spinnen (Vogelspinnen und „Schwarze Witwe“ z. B.) zu schützen, gewisse Hundearten sind großartige Aufspürer und Verbeller von Schlangen, aber die Unmasse der armen Barfuß-Läufer in den ländlichen Bezirken lebt eben trotz aller Vorsicht gefährlich, Giftschlangen sind fast allesamt kleine, wegen ihrer unauffälligen Körperfärbung kaum beizeiten erkennbare Tiere mit keiner Angriffsabsicht auf Menschen von sich selbst aus. Natürlich wehrt sich solch Viech, wenn jemand dieses tritt, bevor es selber fliehen konnte oder weil es selber überrascht wurde. Während zum anderen an Brasiliens Ostküste das Baden und Schwimmen im Meer, in Ufernähe zumindest, ziemlich gefahrlos ist, Haie sich dahin aus mir unbekannten Gründen selten verirren, sind in Brasiliens Süßwassern speziell Piranhas, kleine, salmähnliche, in riesigen Schwärmen auf-tretende Raubfische eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle. Wer als Badender in solch einen Schwarm hineingerät und sich nicht umgehend daraus retten kann, wird von den niedlichen Fischlein im Verlauf von wenigen Minuten regelrecht zerstückelt. Oh ja, das ohne Zweifel sehr interessante und schöne Brasilien hat eine Menge Schatten-seiten, aber schließlich hätte ich von dem bisher aufgezeigten Unfreundlichen ja nichts berichtet, wenn mich dieses Wunderland Südamerikas irgendwie und -wo selber verschlungen hätte. Schließlich lernte ich dortzuland außer viel Negativem auch viele nette Menschen kennen, deren mir bezeigte Gastfreundschaft in äußerlich oft großartiger Umgebung ich in meiner Erinnerung nicht missen möchte. Sogar die Teilnahme an ei-ner gutbürgerlichen Hochzeit in Sao Paulo wurde mir auf einer meiner letzten Brasil-Reisen geboten. Unauslöschlich bei mir aufgezeichnet blieb auch bis heute meine Bekanntschaft und alles darin Erlebte mit Professor Dr. Ackermann, dem Leiter des der Universität von Fortaleza - Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Ceara - angeschlossenen deutschen Goethe-Instituts (eine Art deutscher Volkshochschule im Aus-land), das sprachinteressierten brasilianischen Studenten die Erlernung der deutschen Sprache in Wort und Schrift ermöglichen sollte. Ich kam durch genannten Herrn mit gut begabter‚ nach meiner Einschätzung wertvoller Jugend seines Gastlandes - z. T. auch deren Eltern - in Verbindung. Die jungen Leute, Mädchen und Knaben, besuchten mich während der Hafenliegezeit meines jeweiligen Schiffes in Fortaleza öfters an Bord, um-gekehrt luden sie mich zur Teilnahme an nächtlichen Lagerfeuern unter gleißendem Mondschein auf den breiten, langen, nachts wie verloren wirkenden Stränden um Fortaleza herum ein. Brot, Grill-Bratwürste und Wein spendete dann jeder Teilnehmer zur fröhlichen Gestaltung des Abends mit allseitigem Plausch und Absingen von Volksliedern beider Nationen. Zur Verstärkung des deutschen Elements bzw. der vaterländischen Singkraft, pflegte ich bei solchen Gelegenheiten ein oder zwei meiner Bordkameraden zusätzlich mitzubringen. Auch ein herrlicher Studentenball mit eifrigem Tanzen‚ vom Goethe-Institut veranstaltet, lag bei einer Schiffsliegezeit in Fotaleza im Vergnügungsfahrplan. Dr. Ackermann ließ mich zum anderen etliche Male den Unterricht bei seinen vier besten Deutschschülern übernehmen, der Form nach also „Gastdozent“ spielen, was nach anfänglichem leichtem Befangensein bei „Lehrer“ und den versammelten vier Schülern (3 Mädchen, 1 Knabe) nach meinem Dafürhalten schließlich recht gut klappte. Meine ehemalige Stundengeberei als Arbeitsloser zahlte sich also drei Jahrzehnte danach irgendwie nutzbringend aus. Ich mag nur insofern dabei dem geforderten Lehrpensum von jeweils zwei Unterrichtsstunden nicht gerecht geworden sein, als meine Studiker von mir mehr Unterhaltung über deutsche „Probleme“ im Besonderen und im Allgemeinen (z. B. auch betreffs „sex“) als über deutsche Rechtschreibung wünschten. Meinem ehrenwerten Bekannten, dem streng katholischen Herrn Acker-mann, hätten bei dieser Art Unterricht vermutlich die Haare zu Berge gestanden, wenn er dieser „Sitzung“ beigewohnt hätte, ich möchte annehmen, dass er mir niemals wieder „das Ruder überlassen“ hätte. Fortaleza, Residenz des brasilianischen Bundesstaates Ceara, ist im Übrigen nicht nur eine volkreiche Grosstadt, sondern war zumindest damals noch Brasiliens bedeutendster Fischereihafen. Von dort aus fuhren tagtäglich unzählige kleine Fischer-Fahrzeuge, Djangadas genannt, zum Langusten-Fang nach See raus. Diese Djangadas waren oder sind heute noch in ihrer Bauart einzig und allein brasileigentümliche und nur im dortigen sehr ruhigen Seebereich einsetzbare Wasser-Vehikel, Fischereifahrzeuge nach üblichem Begriff sind sie nicht. Sie bestehen aus einem Floßunterteil von mehreren, etwa vier Meter langen Balsaholz-Stämmen, mit einem winzigen Bünn dazwischen, darauf ein einsetzbarer Mast für ein aufzuholendes Lateinersegel mit kurzer Nagelbank davor zum Belegen des Segel-Falls und einem primitiven beiderseitigen Stangengeländer dahinter als Schutz-Reeling für die mitfahrenden zwei bis drei Langusten-Fänger. Als Steuer dient ein einfaches Ruder oder Paddel. Diese simplen Gefährte segeln in früher Morgenstunde mit dem dort fast immer ablandig wehenden Wind etliche Meilen auf See hinaus, keschern oder angeln die großen Krebstiere und kehren am Nachmittag des gleichen Tages mit der fast stetig dann auflandig wehenden Brise im Rücken wieder heim. Nur unter den genannten günstigen Windbedingungen bis allerhöchstens Windstärke 4 erfolgt überhaupt Ausfahrt zum Lagustenfang, denn die an sich geringe Seetüchtigkeit dieser Djangadas wird noch mehr dadurch beeinträchtigt, dass sich die Balsaholzstämme im Tagesverlauf langsam aber stetig voll Wasser saugen, das Schifflein also immer tiefer in die Salzflut eintaucht und damit an Manövrierfähigkeit verliert. Nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten dürfte eine solche mehrstündige Angelfahrt für die Angler keine reine Freude sein. Die karge Ausbeute jeder Ausfahrt beträgt für gewöhnlich im Schnitt täglich zwei bis drei Stück der wohlschmeckenden Scherentiere, dann und wann kehrt aber auch solch Schifflein leer zurück. Das dem Heiligen der Fischerei geweihte katholische Kirchlein, in einem der zahlreichen Armenviertel Fortalezas gelegen, beherbergt in seinem Innern unter anderem eine relativ große künstlerische Djangada-Nachbildung aus Bronze oder einem anderen Metall. Nur in Begleitung eines Ortskundigen, vorzugsweise eines Priesters, erhielt damals ein Tourist oder Fremder Zutritt zu diesem Gotteshaus, ich könnte zum anderen keinem Besucher von Fortaleza anraten, die dortigen Armenviertel auf eigene Faust entdecken zu wollen. Sehr interessant fand ich ansonsten in einem der Slum-Viertel eine aus Spenden von Katholiken in aller Welt errichtete Lehrschule für angehende Handwerker. Die Ausbildungsleiter der einzelnen Werkstätten beklagten alle einstimmig das Desinteresse der brasilianischen Jugendlichen, ein ehrsames Handwerk zu erlernen bzw. in der Volksschule nebenbei die nötigen Kenntnisse im Lesen, Rechnen und Schreiben zu erwerben. Den Kindern und deren Eltern sei ein frühzeitiges Geldverdienen in „freiberuflicher Tätigkeit – Betteln, Schuhputzen und gekonntes Nichtstun – für den Familienunterhalt wichtiger als kostenloses, nichteinträgliches „Studieren“, Brasilien sei so reich, dass jeder Brasilianer nach seinem Geschmack an diesem sagenhaften Überfluss teilhaben könne. Wundern wir Industrie-Nordlichter ob solch weit verbreiteter Lebensphilosophie uns dann noch, weshalb es so viele unterentwickelte Länder in der Welt gibt, dass zum anderen auch noch so gut verwendete Spendengelder trotzdem keinen nennenswerten Erfolg zeitigen? Natürlich wissen die stark engagierten Weltverbesserer unter uns alles viel besser als z. B. ein Spender oder ein kleiner, mehr oder weniger beschränkter Seemann. Spenden seien nichts anderes als nur ein Tropfen auf den heißen Stein, ein Alibi der Reichen für humanes Tun und so weiter und so fort, richtig sei vielmehr eine Umverteilung des Wohlstands von Nord nach Süd, vorausgesetzt natürlich, dass man selbst keinen Nachteil davon habe. Sehr aufschlussreich für mich war ansonsten eine Autotour von Fortaleza aus etwa 200 km weit ins Landesinnere des Staates Ceara. Fahrer des Wagens war ein Lehrpater des Jesuiten-Priesterseminars in Fortaleza, ein Freund von Dr. Ackermann. Der relativ junge Pater hat mir mit seiner guten Kenntnis der deutschen Sprache - eine Seltenheit bei reinen Brasilianern - viel schlaues Wissen über sein Heimatland vermittelt. Seine Ausgeglichenheit und Bescheidenheit kamen bei mir gut an, weniger dagegen seine oft unerwartete und unerwünschte Allgegenwärtigkeit, auch wenn diese noch so still und zurückhaltend in Erscheinung trat. Als Sohn aus einer wohlhabenden Familie besaß dieser Pater trotz seines Armutsgelöbnisses ein eigenes Auto, das er allerdings im Sinne seiner Kirche zur Bereisung der weit verstreuten kleinen katholischen Gemeinden der Fortaleza-Diözese und bei Bedarf bzw. nach eigenem Gutdünken zu Rundfahrten mit irgendwelchen inte-ressierten Besuchern Cearas benutzen sollte. Ganz gewiss hielt er sich als guter Jesuit an das Gebot seiner Oberen, im Übrigen schien dem Pater die Fahrt mit drei engagierten Gästen - darunter meine Wenigkeit – selber nicht weniger Freude zu machen als seinen Mitfahrern. Nach meinem Empfinden war es dem Gottesmann anscheinend ein Herzensbedürfnis, uns Angehörigen eines Wohlstandslandes sein von täglicher heißer Sonnenbestrahlung ausgedörrtes, tropisches Ceara mit seiner trotzdem vorhandenen verborgenen Schönheit vorzuführen bzw. uns die durch widrige klimatische Bedingungen erzwungene, ungewollte Armut seiner Landsleute und deren dennoch unermüdlichen Kampf wider die Unbilden der Natur begreiflich zu machen. Wenn die Regenzeit einsetze, erzählte er uns, dann werde die gelbe oder graue Erde im weiten Rund, über Nacht sozusagen, eine üppig grüne Landschaft, die Gärten der Bauernhöfe trügen bunte Blumenpracht, Mensch und Tier lebten in Frohsinn und Heiterkeit auf, und es sei dies alles in allem eine Erde, die man trotz monatelanger Kargheit einfach lieben müsse. Er zeigte uns auch vereinzelte mit simplen Holzkreuzen gekennzeichnete Gräber am Straßenrand, wo man ohne Verzug die Leiber derer verscharrt hätte, die an eben dem Ort verdurstet oder sonstwie durch Unfall bzw. infolge Krankheit oder Schlangenbiss verstorben waren. Solch persönlicher Augenschein „am lebenden Objekt“ war für unser Verständnis der Miseren in vielen Ländern der „Dritten Welt“ zweifellos lehrreicher als jegliches Orientiertwerden über die dort gegebenen Daseinsbedingungen durch unseren Medienwald. Letzterer mag auch noch so ehrlich und genau informieren, das jeweilige Erlebnis vom milieugerechten Gehör und Geruch kann er nicht wiedergeben, schließlich auch nicht das den Betrachter „vor Ort“ beschleichende Gefühl, wenn bei diesem - allein beim bloßen Schauen – stetig der Schweiß rinnt und das feuchte Hemd an seinem Kör-per klebt. Im Übrigen zweifele ich trotz des unüberhörbaren Geschreis vieler Befürworter für ein „Zurück zur Natur“ ernstlich daran, dass sich heute Bewohner klimabegünstigter perfektionierter Staaten kaum wirklich in die Lage ihrer Mitmenschen in Ländern mit schwacher Infrastruktur und anderen Zivilisationsmängeln hineinzuversetzen vermögen, von unterschiedlich guten oder schlechten Klimabedingungen schon ganz abgesehen.
Wenn es in den Tropen endlich mal regnet, stürzen allerdings unheimliche Wassermassen vom Himmel herunter, oft natürlich in Begleitung von Blitz und Donner. Auch in Fortaleza erlebte ich bei einem dortigen Schiffsauf-enthalt solch eine Art „Weltuntergang“, besser gesagt, ein halbes „Landunter“. Entgegen einer anders geplanten Abendunterhaltung ließ ich mich von unserem damals eingeschifften Doktor, einem trotz vorgeschrittenen Alters rechten Lotterbuben, zu einem vermutlich nur kurzen Landgang nach einem nahe liegenden kleinen Vorort von Fortaleza überreden. Der Arzt und ich waren im Verlauf jener Reise dicke Kumpel geworden, und darum mag da-hingestellt bleiben, wer von uns beiden bei allen möglichen Gelegenheiten den anderen zum Mitmachen verleitete. Der erwähnte Vorort mit seinen zwei oder drei Kneipen in seinen Mauern war im Übrigen nicht gerade salonfähig, aber man konnte eben mal anderswo einen Drink einnehmen, mein werter Herr Doktor wollte zum anderen allüberall jede Menge Frauen sehen, und diesbezüglich war er absolut nicht wählerisch. Kaum an einer Stätte genüsslicher Freuden angelangt, brach über Stadt und Land Fortaleza eine wahre Sintflut von Regen und Donnerwetter hernieder, etwa gemäß Schillers Dichterversen „und es siedet und wallet und brauset und zischt!“ Wahrscheinlich hatte dabei ein Blitz das nahe Kraftwerk besucht, denn im ganzen Ort herrschte plötzlich tiefschwarze Nacht, und die flinken Mädchen der Kneipenbedienung entzündeten nach ersten kurzen Lauten jähen Erschreckens und nachfolgendem lebhaftem Sichbekreuzigen rasch auf je-dem Tisch unserer Kneipe Hindenburg-Kerzen. Es wurde darob fast lauschig gemütlich in dem an sich sehr bescheidenen Lokal, die Leuchten tauchten es in ein geheimnisvolles Halbdunkel und verliehen den Gesichtern der Gäste - speziell denen der anwesendem Weiblichkeit - weiche, nach Ansicht des Doktors „engelhafte“ Konturen. Die „band“ in der Bar fing auch wieder ihre Instrumente zu bearbeiten an. Kurzum, alles war derart angetan, dass sich mein lieber Kumpan von den Reizen einer der anwesenden Frauen kapern ließ, mit der er in der Folge für eine Nacht Tisch und Bett zu teilen willens war. Mich hingegen zog es zum heimatlichen Herd bzw. zu meinem angestammten Bett an Bord, zumal inzwischen auch wieder der elektrische Strom aus seinem kurzweiligen Schlaf erwacht und der Regen des Schüttens überdrüssig geworden war. Leider aber gab es keine Lampen auf oder an dem Weg durch eine Mulde zwischen Schiffspier und den höher gelegenen menschlichen Behausungen des Vororts, Lampen also, die mir in freundlicher Weise heimleuchten konnten, und mit Ausnahme der Ortschaft war draußen sowieso noch alles in schwarze Dunkelheit gehüllt. Richtfeuer in der mich nach Verlassen des Ortes umgebenden Finsternis war einzig und allein meine hell erleuchtete OSTFRIESLAND‚ und auf dieses Lichtermeer steuerte ich nun zu. Dass mit Umweg auf zwei Schenkeln eines Rechtecks die Schiffspier per fester Straße zu erreichen war, wusste ich, aber wenn ein Seemann eine ganze Menge drinks intus hat, dann ist er eben doch nicht mehr so „fahrtüchtig“. Also wankte ich recht bald bis zu den Knien und zeitweise Unterschenkeln im aufgestauten Regenwassersee der Mulde herum und suchte irgendwo im Gelände die „Betonpiste“. Als plötzlich alle Landlichter angingen, fand ich dann, mehr nass als trocken, den festen Untergrund zu Pier und Schiff. „Oh, Sie haben schon gebadet“, bemerkte ziemlich ironisch der Nachtwachmann, als ich das Deck der OSTFRIESLAND betrat. Heute nachträglich will ich ruhig eingestehen, dass ich damals beim unfreiwilligen Marsch durchs Wasser mit den vielen hellen, Rettung verheißenden, wie eine Fata Morgana wirkenden Lichtern der OSTFRIESLAND vor Augen ganz allmählich ob meiner Kompasslosigkeit einen ziemlichen Bammel bekam und darob sehr rasch nüchtern wurde. Die stille Angst, im aus allen Ecken des höher gelegenen Umlandes zusammengelaufenen Regenwasser möglicherweise von einer dem Tode des Ertrinkens ausgesetzten und just wie ich herumirrenden Schlange oder anderem Gift speienden Getier gebissen zu werden, trug, wenn vielleicht auch vollkommen unberechtigt, einen erheblichen Teil zu meiner sich steigernden Verwirrung bei. In dieser Situation beneidete ich damals fast den Doktor in seiner zweifelhaften Absteige. Auf jeden Fall war mir das geschilderte Begebnis insofern eine gute Lehre, als es mir, ganz unabhängig vom Ort seines Geschehens und nur in sehr kleinem Ausmaß den Begriff „Wassersnot“ als erschreckliche Katastrophe für Mensch und Tier verdeutlichte bzw. mir bewusst machte, dass das Element Wasser in großen Mengen auch an Land ohne ein Vorhandensein rettender Balken eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellte.
Wer oftmals das jungfräuliche Brasilien angesteuert hat, den musste man einen armen Schelm nennen, hatte er dabei nicht auch einmal den brasilianischen Karneval mehr oder weniger innig genossen. Ich war im Verlauf meiner Brasil-Zeit dreimal dabei: in Salvador, Rio und Paranagua. Das heißt, für diese Narrenzeit bot eigentlich allein Rio die rechte Kulisse und das beste Pflaster. Nicht ohne Grund empfehlen viele Reiseunternehmen in aller Welt ihren geschätzten Kunden, zum Karneval nach Rio de Janeiro zu kommen. Etwas Wahres ist an diesem Angebot sicher dran, Rios Karneval mag für sinnenfreudige Menschen ein großes, unvergessliches Erlebnis sein, bei mir selber je-doch verblassten die kurzlebigen Geschehnisse dieses Volksfestes trotz aller bunten Farbigkeit sehr rasch angesichts des vielen anderen Schönen, was diese brasilianische Großstadt an der Bucht der Guanabara sonst noch alles dem Beschauer bietet. Insofern scheint mir Rio zu jeder Zeit des Jahres eine Reise dahin wert zu sein. Ich sehe mich in dieser meiner Ansicht durch die gleich lautende Meinung meiner Frau bestätigt. Mein Weib begleitete mich damals auf einer Brasilien-Reise mit HANNOVERLAND als ein vollkommen neutraler Beobachter. Leider kamen wir auf genannter Reise in Rio zu spät zum Karneval. Aber was bedeutet denn schon der Anblick des nach heißen Samba-Rhythmen durch Rios Prachtstraßen vehement steppenden, verschwitzten Volkes in seinen je nach des einzelnen Trägers Karnevals-Vereinszugehörigkeit unterschiedlichen bunten Trachten im Vergleich zum ewig im Gedächtnis verankerten Bild des Corcovado (700 m Berg) mit dem gewaltigen Granit-Standbild des die Stadt Rio segnenden Christus oben auf seiner Spitze (nachts von Scheinwerfern angestrahlt) und des „Zuckerhuts“ (350 m Monolith-Berg) an der Einfahrt zur Guanabara-Bucht. Was sagen denn schon dem Betrachter die den Karnevalsfestzug säumenden Menschenmassen einer dreieinhalb Millionen Einwohner zählenden Großstadt im Vergleich zu Rios breitem Atlantikstrand im Stadtteil „Copacabana“ mit der diesen umfassenden „Avenida Atlantico“, Rios Renomier-Straße am offenen Meer. Ist zum anderen nicht auch im Hochsommer der Karnevalzeit eine Autofahrt über kurvenreiche Bergstraßen mit herrlichen Weitblicken hinauf in das temperaturkühlere, relativ nah gelegene Teresopolis (Sommer-Residenz wohlhabender „Rioten“) interessanter, als alles Faschingtreiben? Sicher lässt sich über den Wert empfangener Eindrücke streiten, und so wird vermutlich auch nicht jeder meine Freude teilen, die mir bei jedem Rio-Besuch der Anblick des an sich unauffälligen ehernen Standbildes des „Zeitungsjungen“ (anpreisender Zeitungsverkäufer) in Rios verkehrsreicher Hauptgeschäftsstraße, der „Branco“, bereitete. Die Skulptur des dargestellten geschäftstüchtigen Gassenjungen schaut zwar nicht ganz besonders schön aus, aber der Erschaffer hat sie echt und originell wirkend modelliert als künstlerischen Aus-druck bzw. als Aussage über etwas, das für Rio genau so typisch ist, wie die Besonderheit seines Karnevals. Zweifellos kann man den irgendwie als Welt-Sensation hochfrisierten und als solche gut verkäuflichen „Karneval in Rio“ als den beredtesten Ausdruck der Sinnenfreudigkeit der „Rioten“ und somit aller Brasilianer schlechthin bezeichnen, persönlich bin ich jedoch eher der Meinung, dass das turbulente Faschingfeiern dortzuland (nicht vergleichbar mit dem Narrentreiben beim deutschen Fasching) und mehr oder weniger in ganz Latein-Amerika als gutes Stimulans zur kurzfristigen Verdrängung aller grauen Sorgen und Nöte im Alltag breiter Volksmassen herhalten muss, also ein freundlicher Farbtupfer im täglichen Einerlei ist. Der Tourist schaut während seines kurzen Aufenthalts in Brasiliens schönster Stadt - nach meinem Geschmack gebührte der alten Kaiser-Residenzstadt der Brasilianer Bahia, heute Salvador genannt, eher die Palme als Rio de Janeiro - natürlich kaum hinter die Kulissen der Wirklichkeit. Er wohnt für gewöhnlich à cto seines devisenträchtigen Portemonnaies in einem der Nobelhotels an der vorerwähnten Avenida Atlantico, startet von dort aus zum Sightseeing durch Rios Glanzviertel und lässt sich durch den Anblick der vorhandenen Superlative der Stadt, zum Beispiel den des „Größten Fußballstadions der Welt“ (für maximal 250.000 Zu-schauer) mehr oder weniger berauschen. Ja, alles in dieser Weltstadt bekommt er zu sehen, aber an Rios „Millionen-Puff“, einem ganzen großen Stadtviertel billiger Lustbefriedigung, fährt er unter Garantie vorbei. Ich lag auf einer Reise mit OSTFRIESLAND fünf volle Wochen in Rio und hatte genügend Muße, das Gute und Schlechte, Zahme und Böse vor Ort regelgerecht zu erwandern, etwa so wie ich seinerzeit als arbeitsloser Seemann auf stundenlangen einsamen Spaziergängen Hamburg „eroberte“ und wie ich es später in vielen markanten Städten ferner Länder zu tun trachtete. Weiß Gott, Rio ist schon eine Traumstadt (daher wohl auch das ersehnte Ziel vieler Spitzbuben aus der „Alten Welt“ auf dem Marsch in die „Freiheit“), aber wirklich lieben kann man es nur, wenn man so sinnenfreudig und tolerant wie ein Brasilianer ist oder zu sein vermag. Nach meinem Geschmack war die oben schon einmal erwähnte brasilianische Großstadt Salvador im Bundesstaat Bahia mit ihrer etwa zur Hälfte farbigen Bevölkerung aller Schattierungen, ihrer unwahrscheinlich duftreichen Markthalle und ihren angeblich 367 Kirchen, wo man als gewissenhafter Katholik jeden Tag des Jahres bei einem anderen Priester seine Sünden loswerden konnte, auch ohne Einschränkung schon eher liebenswert als die „Edle“ der Guanabara-Bucht. Nun, das ist Ansichtssache, das zum anderen nicht nur, weil ich das altehrwürdige Salvador brasilianischer als seine große südliche Schwester empfand, ich hatte vielmehr bei der südlichen „Schönen“ auch manches unerwünschte Haar in der viel zitierten Suppe ihres Speisezettels gefunden. Um nur eines dieser Haare herauszufischen: mein Zuschauen beim Rosenmontags-Festzug zusammen mit meinem 1. Steward Herrn Sp. nebst Ehefrau. Wir standen also, eingekeilt in eine Menschenmasse von Zuschauern, in Erwartung der Aktiven des Aufzuges. Wo so viele gute und ehrliche Gaffer dicht beieinander stehen, da schleicht sich auch einmal ein schlechter und unehrlicher in den Menschenhaufen der Edlen. Vor der Allgegenwart solcher miesen Typen bei menschlichen Ansammlungen bereits gewarnt, hatten wir drei von der OSTFRIESLAND außer unseren Schnupfentüchern, in warmen Zonen zu Schweißtüchern zweckentfremdet, daher nichts anderes in den Hosentaschen, im Übrigen schien mir meine Integrität etwaigen Langfingern gegenüber allein schon auf Grund meiner wenig begehrlichen Erscheinung gewährleistet. Vermutlich war das meinerseits ein Irrtum, denn binnen kurzer Zeit nahm ich während des Wartens auf den Festzug bereits zweimal fremde Hände aus meinen Hosentaschen links und rechts. Die Ertappten entschuldigten zwar irgendwie ihr „versehentlich“ falsches Tun - das entnahm ich in Unkenntnis des Portugiesischen deren undefinierbarem Gestammel und zerknautschten Mienen - nahmen aber nun wahrscheinlich, ungeachtet meiner reaktionsschnellen Aufmerksamkeit, meine ausgebuchtete Hemd-Brusttasche mit Inhalt billiger Raucherutensilien als erstrebenswertes nächstes Ziel ihrer flinken Finger aufs Korn. Als plötzlich wegen einer gewalttätigen Begradigung der Zuschauermenge durch Polizeireiter ein aufgeregtes Gedränge in meiner Umgebung entstand, wurde ich beim Ab-stützen gegen meine zurückflutenden Vordermänner dann auch glücklich, von mir allerdings unbemerkt, meine Zigaretten incl. Kunststoffbehälter los. An sich konnte ich nun ohne irdische Habe in meinen Taschen fürder kein Objekt mehr für Ausbeuter sein, aber das wusste wiederum der nicht, der mich an diesem seltsamen Tage vermutlich noch immer für wohlhabend oder für dümmlicher als sich selber hielt und mich darum erneut zu „ruinieren“ trachtete. Sein Vorhaben war im Übrigen in meinen Augen das Hinterletzte oder die Verzweiflungstat eines bisher erfolglos gebliebenen kleinen Diebes. Wir drei von der OSTFRIESLAND strebten nach erlebter Festzugpassage bereits unserer Schiffsheimat zu, als mich jemand von achtern her mit rasantem Tempo anzulaufen versuchte, um mir beim Vorübereilen auf die Schnelle mit seiner bereits ausgestreckten Hand in die linke Hosentasche zu fahren. Ein blitzartiges Stoppen und kurzes Zurücktreten meinerseits ließ den Rasenden nicht nur am gedachten Ziel vorbeischießen, sondern versetzte den unerwartet geprellten Orientierungslosen gleichzeitig in starke Schlingerbewegungen. Aber er fing sich wieder rasch in jäher Erkenntnis möglicher für ihn unangenehmer Folgen und lief mit „AK“ nach Backbord zur anderen Straßenseite ab in einem Tempo, das einem Olympioniken alle Ehre gemacht hätte und uns drei von der OSTFRIESLAND geradezu Bewunderung abnötigte. Mehr war dann diesbezüglich an jenem Tag nicht drin, und das innerhalb weniger Stunden genossene Randerleben beim Karneval in Rio genügte mir für den Rest jenes Tages. Vom geschilderten Nachteiligen ganz abgesehen, bin ich sozusagen von Hause aus kein „gelernter“ Karnevalist und darum auch nicht mit einer unwiderstehlichen Freude an lärmenden Straßenfesten, egal wie sie heißen und wo sie begangen werden, behaftet. Vielleicht ist es ein persönlicher Nachteil, „volksnahen“ Festivitäten so nüchtern gegenüberzustehen. Tatsächlich scheint der Karneval in Rio und möglicherweise in ganz Brasilien den diesbezüglichen Berichten der dort erscheinenden deutschen Tageszeitung nach ein deutliches Ansteigen der Kriminalität mit sich zu bringen, jedes Ding hat also stets seine zwei konträren Seiten. Natürlich versuchen die zuständigen Behörden in Brasilien, den „Festüberschwang“ in möglichst übersehbarer Weise zu steuern - z. B. durch Verbot des Ausschanks von harten alkoholischen Getränken während der drei tollen Tage - aber die Ordnungshüter können nicht überall zugegen sein, zum anderen ist das heiße, mitunter jäh eskalierende Temperament der vielrassigen Bevölkerung eine unwägbare Kompo-nente.
Umgekehrt reagiert aber auch der kleine Polizist oft aus an sich unersichtlichen Gründen auf mitunter wahre Lappalien unerwartet streng, die Unantastbarkeit seiner oder seiner Behörde Autorität darf ihm gegenüber, auch dem bloßen Anschein nach, nie in Frage gestellt werden. Gegebenenfalls greift der Ordnungshüter auch viel zu rasch und oft vollkommen unberechtigt zur Schusswaffe, wenn der vermutete Sünder nicht stante pede zu kuschen bereit ist. So wurde im viel genannten Fortaleza ein auf der OST-FRIESLAND eingeschiffter junger Schiffsarzt nur darum „verhaftet“, weil er offensichtlich amüsiert einer sehr handgreiflich gewordenen Streiterei zweier Weibsen zuschaute. Aus der danach erfolgten Einsperrung in einem Schuppen mit Holzwänden befreiten sich der Arzt und die anderen Mitverhafteten durch Ausstieg in Selbsthilfe nach Los-wuchten von ein paar altersschwachen Wandbrettern. Als ein Bordkamerad der OST-FRIESLAND und ich selber bei einem Hafenarbeiterstreik in Rio unterwegs zum Landgang auf der Außenrampe eines Kaischuppens entlangliefen, forderte uns beide ein - nur bei Arbeitskämpfen - patroullierender Soldat zum sofortigen Verlassen der Rampe auf, obwohl er uns bestimmt als ausländische Seeleute erkannt haben dürfte. Als wir mit dem Herunterspringen auf die Gleisanlage etwas zögerten, weil uns der Sinn dieses Verlangens unverständlich war, riss der mutige Krieger allsogleich seinen Schießprügel von der Schulter und legte auf uns an. Anlässlich eines gleichen Streiks in Salvador verlangte eine per Jeep auf Streife befindliche Schar von Militärpolizisten, nachdem sie vier Bordkameraden und mich bei nächtlicher Rückkehr an Bord noch außerhalb des eingezäunten Hafenareals als auf menschenleerer Straße „gestellt“ hatten, unsere Aus-weise. Außer einem oder zwei Mann von uns hatte natürlich keiner seinen deutschen Personalausweis bei sich. Da zeigte ich - Not macht bekanntlich erfinderisch - dem mich Revidierendem eine zufällig in meiner Jackenbrusttasche steckende alte Fahrkarte der Hamburger S-Bahn vor, wies auf das gedruckte Wort „Hamburg“ und sagte „Ham-burgo“ dazu. Der Polyp mag sich vielleicht über die Kleinheit meines „Ausweises“ ge-wundert oder genügend Humor besessen haben, er erkannte jedenfalls diese meine Identifikationskarte an, merkte wohl auch, dass wir Ausländer und keine Streikenden waren. Im Süden Brasiliens‚ also in den Städten südlich von Rio, wo in Santos, Sao Paulo, Curitiba und Porto Alegre das Gros der europäischen Ausländer auf Zeit oder als Eingewanderte lebt, pflegten die Ordnungshüter für gewöhnlich bei ihren dienstlichen Auftritten großzügiger als im Norden Brasiliens zu sein. Aber auch dort in den einzelnen Hafenstädten sollen verhaftete Seeleute unserer Bugsier-Schiffe ihren Angaben nach auf den Polizeiwachen - vorzugsweise à cto renitenten Betragens der „Sünder“ - verprü-gelt worden sein. Glaubhaft bestätigt hat mir das allerdings keiner unserer „Eingebuch-teten“, im Übrigen gehen Ordnungsorgane nirgendwo sehr sanft um und oftmals nicht grundlos. Leider kann ich zum Abschluss der Schilderung meiner Brasil-Erlebnisse den nun folgenden Bericht über ein besonders hartes, auch mich im Punkt Willkür befrem-dendes Verhalten örtlicher kleiner Polizisten dem Leser nicht vorenthalten.
Der Ort des unfreundlichen Geschehens hieß Cabedelo, eine - oder besser gesagt – „die“ Hafenstadt des brasilianischen Bundesstaates Paraiba, etwa 20 km von der Landesmetropole Joao Pessoa entfernt. Aus später ersicht-lichem Grund muss ich die geografische Lage von Cabedelo möglichst ge-nau fixieren. Genannter Ort inmitten von Kokospalmen-Hainen erfreute sich bei den Seeleuten der anlaufenden Frachtschiffe als „Paradies am Meeresstrand“ wegen der relativ zahlreichen dort etablierten anspruchslosen Bar-Lokale mit vielen willigen Mädchen darinnen recht großer Beliebt-heit. Mit irgendwelchen meist humorigen Vorkommnissen hatte Cabedelo bei jedem meiner Schiffsbesuche aufzuwarten gehabt. Einmal auf einem „Dienstgang“ beobachtete ich z. B. längere Zeit und sehr interessiert den einzigen von mir in Brasilien je gesehenen Dackel, ein hübsches Tier seiner Rasse mit Halsband und Hundemarke, Merkmale, die ihn als Hausgenossen wohlhabender Eigner legitimierten. Vermutlich aufgrund einer genossenen guten „Kinderstube“ distanzierte sich „mein Freund“ geflissentlich und unübersehbar von der Unzahl der vielen anderen rasse- und haltungslosen schafähnlich aussehenden Köter im Ort. Ein anderes Mal war einer unserer Besatzungsmänner beim Versuch des „Fensterlns“ nach Durch-bruch der Abdeckung einer Senkgrube in deren Innerem gelandet und an-schließend unter dem hämischen Jubel von Hiesigen (in seiner „Ausstrahlung“ entsprechendem Abstand selbiger) an Bord begleitet worden. Dann die Geschichte mit der Passagierin „Susi“ und unserem dritten Leutnant, die an Land zu emsig gebechert und auf ihrem Heimweg im Nachtdunkel in ei-nen Straßengraben gepurzelt waren. Ihr nicht einfacher Versuch, sich aus dem Graben zu hangeln, wurde vom just vorbeihuschenden ersten Offizier irrtümlich als derer Vollzug eines Liebesaktes gewertet. Es gab in Cabede-lo natürlich auch dann und wann in den Bars handgreifliche Auseinander-setzungen unter Einheimischen und Fremden, alles in allem aber waren die ausländischen Seeleute wegen ihres großzügigen Umgangs mit den von den Brasilianern geschätzten harten Devisen beliebte Gäste, nicht zuletzt die deutschen Janmaaten mit ihrer guten D-Mark. Besonders bezeigte erklärlicherweise die holde Weiblichkeit in Cabedelo viel Sympathie für seine deutschen Freunde, zumindest so lange, wie jene im Städtchen greifbar waren. Das hatte in geschildertem Maße wenigstens bis zu einem September anno 1965 Gültigkeit. Angeblich soll am betreffenden Tag auf ei-nem Schiff des Bremer Norddeutschen Lloyds aufgrund einer Dieberei an Bord jenes Zossens ein Brasilianer seitens deutscher Seeleute überaus raubeinig behandelt worden sein. Da der deutsche Frachter an jenem Tag auslief, darob keine Gelegenheit zum „Rachenehmen“ an dessen Besatzung bestand, sollte nach später bekannt gewordener Absprache Brasil-Hiesiger die Crew des nächsteinlaufenden deutschen Frachters für die „un-gerechtfertigten“ Übergriffe ihrer anderen Landsleute büßen. Der nächste deutsche „Ankommer“ in Cabedelo bei rundum spannunggeladener Luft war zufälligerweise Bugsiers NEUHARLINGERSIEL, und ein Zufall war es auch, dass ich auf diesem für mich schon à cto Rot-China legendär gewordenen Schiff just nur für die Dauer einer einzigen Brasil-Reise als Urlaub-sablöser Dienst tat. Bis zum Eintreffen in Cabedelo „homeward bound“ - ich glaube am Morgen des 6. September 1965 - war auch diese meine Bra-sil-Reise soweit normal verlaufen, abgesehen vielleicht von einem meiner-seits nicht eingeplant gewesenen, kostspieligen „Ausrutscher“ an Land in Sao Vicente, Brasiliens bestem Seebad in Nähe des Großhafens Santos. Da gingen zwecks irgendeines „Erlebnisses“ fünf weise Herren der Schiffs-führung NEUHARLINGERSIEL, zwei Landeskenner (ich als ungehörter ste-ter Warner) und drei Landesneulinge nach einigem Hin und Her zuletzt zum „gepflegten Bierchen“ in eine Nobelherberge genannten Badeortes. Sie glaubten, zum Abschluss des wohlgelungenen Abends nicht auf Tischda-men verzichten zu können, und alsbald war um sie ein wahrer Schwarm dürstender leichter Mädchen, die einen ungeheuren „Bock“ auf teuren Sekt hatten, was zum anderen wiederum unsere sauer verdienten Zechinen in Kürze restlos aufzehrte. Es blieb den fünf kühnen Seefahrern beim endlichen Kassensturz nur noch das zurück, was sie unbedingt für die Taxenfahrt zum fernen Liegeplatz der NEUHARLINGERSEIEL in Santos als Aus-lösung brauchten. Ich war damals sehr wütend auf meine unklugen „Kinder“ - und die eigene Unkonsequenz, mitgegangen, mit gefangen sagt man dazu. Meine ostentativ zur Schau gestellten Zornesfalten glätteten sich aber schon wenige Tage nach dem pekuniären Desaster, genau gesagt am 15.08.1965, als mir per Funktelegramm via Norddeich just bei Einfahrt Rio - dwarsab vom „Zuckerhut“ - die glückliche Geburt meines ersten Enkelkindes Oliver angezeigt wurde. Das war zweifellos der Höhepunkt dieser Rei-se trotz all meiner Ferne vom Ort des Geschehens. Etwa drei Wochen später traf die NEUHARLINGERSIEL dann in Cabedelo ein, was wiederum er-fahrungsmäßig eine Freudenstimmung bei den meisten Besatzungsmitgliedern des Schiffes auslöste, eine Freude, die ich selber mit meiner Erfah-rung von 59 Lebensjahren nicht mehr bzw. hinsichtlich der kleinen Hafen-stadt Cabedelo schon gar nicht teilen konnte. Ich erinnere im Übrigen heute noch, mich damals beim Einlaufen in Cabedelo irgendwie vergeblich gegen ein plötzlich aufkommendes undeutbares ungutes Gefühl gewehrt zu haben, das mir - etwa wie zur Kriegszeit 1939/45 - ohne dafür vorhandene Symptome innerlich eine drohende Gefahr signalisierte. Ich schien in dieser Hinsicht allerdings der einzige „Schwarzseher“ auf der NEUHARLIN-GERSIEL zu sein, die meisten Bordkameraden schwärmten vielmehr vom Landgang nach Feierabend trotz by and by erhaltener Warnungen ihrer am Kai erschienenen „Flammen“ vor möglichen Scherereien mit den Hiesigen. So lehnte u. a. der vom 1. Offizier bestimmte Hafen-Nachtwächter, der an sich pflichtbewusste und tüchtige Matrose K., strikt die angetragene Hafenwache mit den Worten ab: „Wenn Sie jemand haben wollen, der nachts nicht an Bord ist, dann ist das Ihre Schuld!“ Der „Erste“ darauf: „Lieben Sie denn Cabedelo so sehr?“ K. zur Antwort: „Nein, hier wollte ich nicht einmal in meinen Stiefeln sterben!“ Das mag damals eine pure Redensart gewesen sein, aber dieses Ungereimte hätte Matrose K. besser nicht sagen sollen, denn man spricht nicht in dieser Art schwarzen Humors über seine Zu-kunft, schon ganz und gar nicht bei einem an sich nichtigen Vorgang. Also ging ein anderer die Bord-Nachtwache, wahrscheinlich auch nicht gerade gerne, aber später mochte er sich darob vielleicht glücklich geschätzt haben. Seine Kameraden eilten jedenfalls nach vollbrachtem Tagewerk frohgemut an Land und strebten wie üblich ihrem beliebten Stammlokal in Cabedelo, der „Bolero-Bar“, zu, all hands zusammen, um gegebenen- und nötigenfalls eine geballte Widerstandsmasse zu sein. Auch die fünf durch den „Reinfall“ in Sao Vicente aktenkundig gewordenen bzw. gebrannten Herren waren zu einem abendlichen Spaziergang durch Ort und Umgebung gestartet, nachdem selbige vier von ihnen mich zuvor trotz anfänglicher Ableh-nung meinerseits, wieder einmal kompromissbereit gestimmt hatten, außerdem sei ich doch wohl als alter „Brasil-Hase“ der bestgeeignetste Fremdenführer. Nachträglich ein Danke für die Blumen, der Reinfall hinterher war prächtig, allerdings ohne die Schuld des „Eseltreibers“ oder des Dazutuns eines der anderen vier Wandergesellen. Gegen Ende unseres Orien-tierungsganges passierten wir auch die „Bolero-Bar“, sahen darin unsere Seeleute fröhlich bechern, und diese erblickten ihre Bord-Oberen bzw. ba-ten ihre „Götter“ zur kameradschaftlichen Teilnahme am Gelage. Während 1. Offizier Herr R., Doktor K. und ich einwilligten, zogen Kapitän Sch. und Chief H. anderswohin in der Nähe zum ungestörten kleinen Umtrunk. Es ging auch anfänglich in der Bar im Kreise unserer Seeleute und einiger ihrer gesittet-spielenden Mädchen recht gemütlich zu, aber der „Frieden auf Erden“ konnte nach der Anzahl der bereits von unseren Seeleuten geleer-ten Flaschen harten Stoffes meinen einschlägigen Erfahrungen nach kaum von langer Dauer sein, denn angetrunkene Radaubrüder einer Clique, die es in jeder Gemeinschaft gibt, suchen in dieser oder jener Situation förmlich nach einem Auslöser für Zank und Streit, gewissermaßen als Beweis für ihr vermeintliches Kraftvermögen. Darum mahnte ich recht bald den Ersten und den Doktor zum Wiederaufbruch - leider vergeblich. Ob nun der von mir befürchtete große „Orlog“ (Krieg) von außen nach innen oder in umgekehrter Richtung seinen Weg nahm, konnte ich damals und kann ich heute nicht sagen, ich schaute einfach nicht durch, was sich da auf die Schnelle zu entwickeln begann. Innen zumindest fing es damit an, dass sich einer unserer Assis (Maschinenassistenten) plötzlich eines der im Lokal bedienenden Mädchen griff (dieses Mädchen wurde seiner Kleinheit wegen von den Seeleuten „Der laufende Meter“ genannt), dieses mit Griff unter dessen Armen im Kreis herumschwang und seinerseits gezielt oder ungezielt irgendjemand an einem der Tische Sitzenden mit den wirbelnden Extremitäten der Dame belästigen wollte. Unser Schiffskoch, ein Bayer streitbarer Natur, stieß jedenfalls mit dem anklagenden Ruf „Mir hat jemand ein Mädchen an den Kopf geschlagen“ jäh und unbeherrscht seinen Tisch mit allerhand Gläsern oben drauf um, worauf sich wiederum andere unserer Janmaaten wie elektrisiert von ihren Plätzen erhoben und allsogleich, mehr oder weniger zart, sämtliche brasilianischen Lokalbesucher aus der Bar wie-sen. Das wiederum ließ die Herausgeworfenen umgehend ihre draußen auf „Stunk“ in „Bereitschaft“ stehenden Freunde und viel anderes neugieriges oder kampferprobtes Volk alarmieren, und in Kürze stand eine Mauer böswilliger Menschen vor den hohen Toren der nur zur Straße hin offenen Bar, darunter Männer, die mit Stangen und Holzprügeln bewaffnet waren. Folgerichtig kam es dann zwischen beiden feindlichen Lagern zu ersten Kampfhandlungen incl. ersten Verwundeten, vermutlich auf jeder Seite, zumal sich derweil auch unsere Jungen mit Tisch- und Stuhlbeinen vom Inventar der Bolero-Bar stammend, gegen ein Eindrücken ihrer Front zu erwehren versuchten. Aber die Übermacht der Brasilianer war so erdrü-ckend, dass ein offener Widerstand der Männer der NEUHARLINGERSIEL angesichts ihrer Verwundetenzahl reiner Selbstmord bedeutet hätte und nun die zweite Kampfphase ihren Anfang nahm: die Belagerung der Bolero-Bar, in der die deutschen Seeleute durch krampfhaftes Zuhalten der ein oder zwei hohen Tore deren Eindrücken durch die Brasis zu verhindern suchten. Ob es denn keine Polizisten in Cabedelo gab? Doch, doch, die rückten auch allmählich an, um die Ordnung wieder in das rechte Licht zu rücken, und mit Unterstützung seiner Landsleute gelang es auch einem, in die belagerte Festung einzudringen, was nach meinem Dafürhalten gut und richtig war. Richtig war es nur nicht, dass ihm einer der Belagerten ein Stuhlbein auf den Kopf „legte“, leider so kräftig, dass dem ganz gewiss friedfertigen Ordnungshüter das Blut aus Nase und Ohren schoss. Ich habe den Täter dieser wahnwitzigen Handlung nicht erkannt, wusste darob aber als bislang völlig Unbeteiligter Zuschauer, dass es nun auch mir selber aufgrund meines bloßen Daseins in dieser Bar und inmitten solcher lands-männischen Rüpel u. U. an den viel zitierten Kragen gehen konnte. Wie-derum folgerichtig griffen nun die Kollegen des verwundeten Polizisten zur Schusswaffe und schossen bei jedem erneuten Eindrücken der Tore ungezielt in den Barraum, was zumindest alle Unbeteiligten am Ringen um die Tore zu tiefen Kniebeugen oder zum Niederhocken veranlasste. Scherben erzeugende Kugeleinschläge im Gläser und Schnapsflaschen bergenden Standregal hinter dem Bartisch - es befand sich genau gegenüber von den belagerten Türen - machten mir unangenehm klar, dass die Polypen draußen harte Kugeln, also keine Platzpatronen verschossen. Das ließ mich zum neben mir kauernden, sich just wie ich in „Erdkunde“ übenden Doktor äußern - lapidar wie alle meine Aussprüche an diesem unfreundlichen Abend: „Die schießen uns noch alle tot!“ Ob ich davon tatsächlich damals überzeugt war, kann ich auch nachträglich nicht sagen, unbesonnen oder gottergeben fügte ich mich ob solcher obigen Feststellung keineswegs in mein Schicksal, schon gar nicht, als mich Doktor K. in ein von ihm während einer Schusspause entdecktes Kabuff hinter der Thekenwand bugsierte. Dessen Vorhandensein hatte er bei der vergeblichen Suche nach einem Hinterausgang der Bar „ausbaldowert“. Da hielten sich im Übrigen bereits zwei unserer Männer auf, die sich abseits vom Schlachtfeld mit flinken Händen darum bemühten, durch die Decke des kleinen Raumes ein Flucht-loch zu brechen. Das schien mir wohl im ersten Moment einfach ein unmöglich zerstörerisches Tun meiner Landsleute zu sein und nötigte mir den in jener verzwickten Situation völlig unpassenden Geistesblitz ab: „Sind Sie denn jetzt ganz wahnsinnig geworden, wer soll hinterher alle Zerstörungen bezahlen?“ Mein allda für weise erachteter Ausspruch fand jedoch keine Gegenliebe, und das war wohl auch gut so, denn als das Loch überraschend schnell groß genug zum Aussteigen war, da kletterten wir vier Mann im Raum und hinterher noch zwei weitere ernüchterte Kämpfer durch die-sen Notausgang in die „Freiheit“. Dass ich als altersgeschwächter Mann das schwierige Herausschlüpfen nach oben überhaupt schaffte, war nur zum geringen Teil mein Verdienst (dazu im abgewandelten Dichterwort: „Halb zog man ihn, halb schob man nach“), aber der dabei stattgefundene Umbruch eines Küchen-Abzugsrohres aus Weißblech auf dem Dach des Hauses ging voll zu meinen Lasten trotz meines steten Wetterns gegen „sinnlose“ Zerstörungsmanie. Teils ziemlich bedeppert, teils leicht amüsiert, schaute ich nach Vollzug meiner Untat durch die jäh entstandene Lü-cke auf den häuslichen Herd der Bareignersleute mit Pfannen und Töpfen on top herab. Wegen des nach der Straße zu ziemlich steil ansteigenden Hausdachs war unser aller Entweichen von den Menschenmassen vor der Bar nicht zu beobachten, darum schien der weitere Fluchtweg Richtung Ha-fenpier ziemlich unbehindert zu sein. Während meine jungen Kumpel nun ungestört vom Dach in das rückseitige Gartengelände herunter sprangen, hielt ich einen Absprung aus etwa 2,5 Meter Höhe für eine glückliche Lan-dung meiner mürben Knochen für zu gewagt, hangelte mich also mit den Händen am Dachrand an der Hausmauer zur Erde nieder und ließ mich zuletzt, mich von der Wand abstoßend, auf die Füße fallen. Dabei landete ich unten in einer Pfütze schmutzigen und geruchsintensiven Wassers, das mich, jäh aus seiner Ruhe aufgeschreckt, ganz schön bespritzte, aber ich war zumindest heil geblieben für das nachfolgende großräumigere Abset-zen vom Feind. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass nachträglich aufgemachte Rekonstruktionen der verschiedenen Geschehnisse das oben mehrmals genannte Kabuff als „Damen-Toilette“ der Bar und die Pfütze draußen als die „Abwässer“ der Lokalbesucherinnen auswiesen. Wahrlich eine einzigartige Weihe, die mir demnach für den glücklichen Ausgang des Flüchtens zuteil geworden war. Aber so neckisch auch manches Geschehnis jenes Abends in Calbedelo gewesen sein mag, wir hatten erstmal einen etwa 20 Minuten langen Weg von der BoIero-Bar bis zum Schiff vor uns und kratzten anfänglich mit gut 120 Sachen die verschiedenen Wegkurven, so lange, bis uns die Puste ausging und wir kürzer treten mussten. Der Kampflärm um die Schreckensbar verebbte mit zunehmender Fluchtentfernung und machte allmählich einer fast vollkommenen Nachtstille Platz. Menschen sahen wir auf unserer Bahn gar nicht oder nur sehr vereinzelt, es ließ sich wohl niemand der Hiesigen das Kampfgeschehen im Stadtinneren entgehen. Unsere anderen Ausstiegsgenossen waren ebenfalls wie vom Erdboden verschwunden. Als wir beiden glücklich die schützende NEUHARLIN-GERSIEL erreicht hatten, harrte dort ein neues Wunder unser, wir fanden, soweit auf die Schnelle übersehbar, die ganze Besatzung an Bord versammelt und viele darunter, die der helfenden Hand eines Arztes bedurften. Schließlich stellte man nach genauer Auszählung fest, dass noch Matrose K. fehlte, vermutlich bei seinem Mädchen Unterschlupf gefunden hatte. Aber K. konnte nicht mehr kommen, er lag, was alle, anderen noch nicht wussten, erschossen auf der Straße vor den Pforten der Bolero-Bar. Das wurde erst um Mitternacht bekannt, als Kapitän Sch. und unser schwarzer brasilianischer Supercargo zur Identifizierung eines Toten von der Polizei an Land gebeten wurden. Wahrscheinlich möchte der Leser erstmals gerne wissen, wie die Kampfhähne der Bolero-Bar so unwahrscheinlich rasch noch vor dem Doktor und mir an Bord der NEUHARLINGERSIEL gekommen sind. Da kann ich im nun Folgenden leider nur das berichten, was ich darüber von Augenzeugen gehört habe, was, wofür ich mich zum anderen natürlich nicht verbürge, der Wahrheit einigermaßen nahe kommen dürfte. Das lautet etwa wie folgt: Der örtlichen Polizei gelingt kurz nach oben geschilderter Flucht durch die Decke das Eindringen in die Bar mit anschließender Verhaftung der darin befindlichen deutschen Seeleute. Beim Ein-dringen versuchen einige der „Belagerten“, sich durch panikartige waghalsige Flucht nach vorne der Verhaftung zu entziehen (einer oder zwei kamen tatsächlich durch), wobei der meines Wissens nach am Kampf unbeteiligt gewesener Matrose K. durch Genickschuss aus der Pistole eines Polizisten getötet wird (man will ihn beim Verlassen der Bar mit hochgehoben Armen gesehen haben). Die ebenfalls von einer wütenden Volksmenge belagerte andere Bar, in der sich außer hiesigen und ortsfremden Gästen auch Kapi-tän und Chief der NEUHARLINGERSIEL aufhielten, hat rechtzeitig ihre Eingangstür verschlossen und verbarrikadiert, dahinter hat zum anderen, als der Mob draußen den Aufbruch versucht, der zufällig unter den Gästen weilende einzige Zivilpolizist des Ortes mit gezogener Dienstwaffe Posten eingenommen. Die Wirtin dieses Lokals soll auf Anweisung des Kriminalbeamten beizeiten telefonisch die Präfektur in Joao Pessoa von den sich in Cabedelo anbahnenden Unruhen unterrichtet haben (unglaubhaft, der Anrufer dürfte wohl der Bürgermeister von Cabedelo gewesen sein) was den Präfekten zur sofortigen Inmarschsetzung eines Einsatzkaders der Militärpolizei (sie ist in Brasilien für Aufruhr zuständig) unter Führung eines erfah-renen Offiziers veranlasst hat. Nach 30 bis 40 Minuten Anfahrt per Mannschaftswagen ist vermutlich kurz nach „Eroberung“ der Bolero-Bar der MP-Trupp in Cabedelo eingetroffen, hat Führer der Gruppe mit Erklärung von Ausnahmezustand Ordnungsgewalt in der Stadt übernommen und, auf Vernehmungen der Verhafteten gänzlich verzichtend, alle Besatzungsmitglieder der NEUHARLINGERSIEL in beiden Bars einsammeln bzw. diese dann unter dem Schutzschild der Maschinenpistolen seiner Männer per Mannschaftswagen an Bord ihres Schiffes bringen lassen. Meiner Meinung nach hat dieser MP-Offizier im eigenen Wissen um die mögliche Eskalation der Rachegelüste vieler seiner heißblütigen Landsleute mit daraus resultieren-den diplomatischen Demarchen zwischen zwei befreundeten Staaten im Nachhinein goldrichtig und weise gehandelt. Ich laste der örtlichen Polizei in Cabedelo dagegen ein unnötiges Überziehen ihrer dienstlichen Rechte an, übersehe aber auch durchaus nicht die Tatsache, dass die noch reich-lich grünen Jungen der NEUHARLINGERSIEL mit ihrem unbedachten Betragen, rechtlich gesehen, die Auslöser dieses Landfriedensbruchs und damit gleichzeitig sehr schlechte Vertreter ihres Heimatlandes im Ausland waren. Ich möchte an dieser Stelle besonders daran erinnern, dass Brasilien vielen deutschstämmigen Menschen im Ablauf vieler Jahrzehnte zur zweiten Heimat geworden ist und die deutschen Einwanderer als wertvolle, loyale Staatsbürger schätzt. Es erschien nach Rückkehr von NEUHAR-LINGERSIEL in Hamburg in der Bildzeitung ein allein auf den Aussagen zweier „Mitstreiter“ basierender Artikel über das stattgefundene Cabedelo-Debakel, in dem die deutschen Seeleute der NEUHARLINGERSIEL wenig objektiv als wahre Unschuldslämmer einerseits und bedauerliche Opfer ei-nes rücksichtslosen brasilianischen Nationalismus und Rassismus andererseits hochstilisiert wurden. Wenn gefragt, hätte ich dem BILD-Reporter unumwunden mitgeteilt, dass ich auf meine streitsüchtigen und übertemperamentvollen Bordkameraden zumindest damals nach Rückkehr an Bord we-gen ihres skandalösen Betragens sehr böse war und fürder aufgrund der Erfahrungen jenes denkwürdigen Abends jeden weiteren Gemeinschaftsumtrunk an Land geflissentlich meiden würde. Aber sei dem, wie ihm sei, das ganze Ausmaß des Geschehenen erfuhr ich erst am nächsten Morgen durch den ersten Offizier, dem man in der Restphase des Bar-Ringens bei seinem Schlichtungsversuch zwischen seinen Männern und den örtlichen Polizisten durch einen Faustschlag ins Gesicht die Zahnprothese zertrümmert und noch etliche andere Verletzungen zugefügt hatte. Ich selber hatte mich in Ichbezogenheit nach gründlicher Reinigung von Körper und Kleidung nicht weiter groß um das lebhafte Lamento an Bord gekümmert und mich, ermüdet von meinen Flucht-Anstrengungen und sehr verärgert über den verdorbenen Abend und die „Übeltäter“, zur verdienten Nachtruhe in meine Koje gepackt. Kapitän Sch. hatte inzwischen an Land den Erschos-senen als seinen Matrosen K. identifiziert und im Anschluss daran von der Polizeiwache aus mit Unterstützung unseres brasilianischen Supercargos, Mister Martin, die erforderlichen Schritte für die laut Landesgesetz innerhalb von 24 Stunden zu vollziehende Beerdigung des Toten und für die Erledigung der mit diesem Tod aufgeworfenen rechtlichen Fragen unternommen. Das bedeutete etwa Folgendes: Bestellung eines Begräbnisunternehmens - der Tote lag ja noch immer auf der Straße, musste eingesargt und weg-transportiert werden (viele Sarggeschäfte in Brasilien sind Tag und Nacht geöffnet) - und Unterrichtung des deutschen Konsulats in Recife und der Agentur des Charterers Loide Brasileiro in Joao Pessoa über die bedauerlichen Vorfälle des Abends. Leider vergaß Kapitän Sch. bei allem Durcheinander dieser Nacht und in vermutlich eigener umstandbedingter Überforderung zwei meiner Meinung nach unerlässliche Maßnahmen: das Bestehen auf eine zusätzliche Totenschau durch seinen Bordarzt und eine einschlä-gige Benachrichtigung per dringendem Telegramm an Bugsier-Reederei mit Bitte darin, die Angehörigen des Toten vom Ableben - in diesem Fall - ihres Sohnes für mögliches Überführen der Leiche nach Deutschland zu unter-richten. Zwecks Vermeidung von Zeitverzug hätte ich mich anstandslos trotz Funkverbots für Schiffe in Häfen zur Abgabe eines Funktelegramms bereit erklärt. Natürlich äußerte ich mich dementsprechend auch meinem Kapitän gegenüber am nächsten Morgen, er war jedoch der Meinung, dass er später von See aus nach Auslaufen aus Cabedelo die Reederei über die unangenehme Begebenheit und die vom ihm in dieser Sache getätigten Schritte in Kenntnis setzen würde. Ob unsere in Mannschaftsbelangen human und verantwortungsbewusst eingestellte Reederei von einem solchen Konfrontiertwerden mit vollzogenen Tatsachen begeistert war, ent-zieht sich meinem Wissen. Von etwaigen nachträglichen Einsprüchen der Angehörigen des Toten ist mir nichts zu Ohren gekommen, mir war an sich nur bekannt, dass der Verstorbene mit seiner Familie keinen Kontakt mehr hatte. Was Kapitän Sch. hauptsächlichst zu seinem raschen „einsamen" Entschluss in dieser Sache veranlasst haben mag, war seine Angst vor der Kostenlawine à cto verursachter Sachschäden, Geldstrafen und Wiedergutmachungsleistungen, die mit einer zusätzlichen Überführung des Toten (incl. vorangehender Einbalsamierung) das seiner Meinung nach der Firma zumutbare Maß an finanziellem Aufwand übersteigen würde. Später nach Aushandeln einer relativ geringen Schadenersatzleistung an den Inhaber der Bolero-Bar (zu Lasten der „Kampfteilnehmer" von NEUHARLINGER-SIEL) und jeglichen Bußgelderlasses (aufgrund irgendwelcher mir unbekannter Kriterien) durch den angereisten deutschen Konsulatsvertreter und vor allem unter der Beihilfe eines scharfzüngigen Advokaten, den unser Agent aus Joao Pessoa mitgebracht hatte, glätteten sich unseres Capitanos Sorgenfalten wieder. Die Bestattungskosten zu Lasten von Bugsier waren im Übrigen auch wider unseres Kapitäns Befürchtungen, mit etwaigen Leichen-Überführungskosten verglichen, sehr niedrig. Ansonsten wur-de der Besatzung der NEUHARLINGERSIEL außer für Teilnahme bei Be-gräbnis von Matrose K. für Dauer Schiffsaufenthalt in Cabedelo Landgangsverbot erteilt. Nun, ich selber habe der Beisetzung nicht beigewohnt, mich fuhr mein einziger Cabedelo-Bekannter, der Müllermeister der großen Getreidemühle in Cabedelo, ein dahin nach Weitkrieg II verschlagener Deutscher (ich verkehrte bei seiner Familie), mit seinem PKW zwecks Erledigung verschiedener dienstlicher Belange nach Joao Pessoa hin und zu-rück. Bei Vorüberfahrt am Friedhof in Cabedelo nahmen wir „auf einen Sprung" an der Bahre Abschied von K. Jene Szene in der armseligen Leichenkammer am Eingang des Friedhofs steht mir mit ihrem düsteren Milieu ihres engen kahlwandigen Raumes und dem inmitten auf Lehmboden stehenden primitiven, noch offenen Sarg auch heute noch dann und wann lebhaft vor Augen. Wie sein stiller Bewohner vor wenigen Stunden zur Erde gesunken war und starb, so lag er jetzt in seiner schmucklosen Kiste ohne jedwede bettende Innenausstattung (Capitano hatte mächtig gespart). Die gebrochenen Augen des Toten schauten in eine unendliche, unfassbare Ferne, und die in Totenstarre angewinkelten Arme schienen noch immer Brust und Kinn vor einem unerwarteten Angriff von Gevatter Tod schützen zu wollen. Der vor 24 Stunden noch lebhafte und große, kräftige Jungkerl wirkte als Leichnam in seiner letzten Koje im Übrigen unwahrscheinlich rasch kleiner geworden, als er es seiner Statur nach zu Lebzeiten gewesen war. Im Halbdunkel der winzigen, relativ hohen Leichenhalle sah ich zwei junge Frauen mit Tränen in den Augen dastehen, sie hielten wohl eine Art Totenwache. Eine von ihnen hatte ich am Vorabend mir schräg gegenüber am Tisch neben K. sitzen gesehen, sie war wohl seine hiesige Freundin gewesen. Ich könnte auch heute nicht sagen, was mich im damaligen Au-genblick des Erlebens jener Szene stärker, als von mir erwartet, erschütterte, der Anblick des Toten vor mir in seiner erbärmlichen letzten Behausung, die Dürftigkeit des Gesamtbildes oder die bei mir jäh aufkommende Erkenntnis vom Unberechenbaren der menschlichen Vergänglichkeit. Das, was K. ahnungslos etwa 12 Stunden vor seinem Tod seinen losen Worten nach durchaus nicht als Ende seines Lebenspfades wollte, war ihm schicksalhaft beschieden worden, er hatte es mit seiner Ablehnung, in Cabedelo Nachtwächter zu spielen, geradezu herausgefordert. Mir fielen damals, an seinem Sarg stehend, unwillkürlich die Schlussworte des Chors aus Schillers „Braut von Messina“ ein: „Noch niemand entfloh dem verhängten Geschick, und wer sich vermisst, es kühnlich zu wenden, der muss es selber erbauend vollenden!“ Etwa vor einem Jahr hatten wir als Besatzungsmitglieder der OSTFRIESLAND zwei unserer Bordkameraden, die mit einem Mietwagen auf dem Weg von Bremen nach Hause tödlich verunglückt waren, zu Grabe getragen. Das war sicher ein genau so trauriger Vorfall wie das unerwartete Ableben von K. gewesen, aber es war ein Abschiednehmen im großen Kreis derer, denen die beiden Verunglückten zu ihren Lebzeiten sehr nahe gestanden hatten. Zum anderen sagten wir den Verstorbenen das letzte Lebewohl in einem ihrer würdigen äußeren Rahmen, außerdem war es die Heimaterde, in der sie ihre letzte Ruhe fanden, also alles Nebenumstände, die die Kameraden das Hinscheiden eines Berufskollegen tröstlicher als K.‘s Heimgang empfinden lassen. Doch nun genug von solchen traurigen Geschehnissen, von denen die meinerseits sehr breit geschilderte „Schlacht von Cabedelo“ im Nachhinein unter den damaligen Brasilfahrern von Bugsier-Reederei eine fragwürdige Berühmtheit erlangte...
...Nun noch eine kurze Notiz zum Seefunk an Brasiliens Küste. Der FT-Verkehr mit den hiesigen Küstenfunkstellen machte alles in allem - genau wie an Südamerikas Westküs-te - keine rechte Freude. Lateinamerikaner sind keine guten Funkpartner, zur Hauptsa-che wohl wegen ihrer schlechten Beherrschung oder Kenntnis von Englisch als der übli-cherweise in aller Welt bevorzugten ersten Funk-Verständigungssprache. Man hat bei drahtlosem Kontakt mit ihnen, teils aufgrund bereits gesammelter negativer Erfahrungen, auch meist nie die Gewähr für eine glatte und einwandfreie Land-Zustellung hinterher, zumindest nicht bei Telegrammen mit Texten in englischer oder deutscher Sprache. Natürlich ist von keinem Funker eine beruflich ausreichende oder unbedingt nötige Kenntnis aller gängigen großen Sprachen in Wort und Schrift zu erwarten, welche lapidare Erkenntnis die Wahl von Englisch, der allgemein bekanntesten und gebräuchlichsten Weltsprache an sich, als Verständigungsmittel im internationalen Seefunk zeitigte. Ergo wurde Englisch in Wort und Schrift als unerlässliches Pflichtfach in den Lehrplan aller nationalstaatlichen Funkerschulen aufgenommen. Dieser Beschluss schien und scheint in lateinamerikanischen Ländern bei den übertrieben nationalbewussten Nach-fahren der ehemaligen stolzen portugiesischen und spanischen Entdecker und Kolonialherren keine rechte Gegenliebe zu finden. Das haben dann in der Praxis die im Erler-nen der englischen Sprache im Schnitt gewandten „Nordlichter“ der großen „Funker-Familie“ irgendwie stetig auszubaden.
Hatte man ansonsten ein bestimmtes Fahrtgebiet als Seemann, gleich welcher Sparte, allzu lange strapaziert und sich derweil mit dessen guten und schlechten Seiten genügend auseinandergesetzt, dann bekam man dieses meistenteils - zumindest für eine längere Pause - allmählich gründlich satt, besonders erklärlicherweise dann, wenn es einem durch Geschehnisse wie in Cabedelo (das auf meiner letzten Reise in Charter von Loide Brasileiro) oder aus anderen Gründen rechtschaffen vermiest worden war. Darum erregte der endliche Ausstieg der Bugsier-Schiffe aus der Brasilien-Fahrt bei den Besatzungen dieser Schiffe kaum Kummer und Verdruss, bei mir selber zum anderen weitaus mehr Freude, als mein „Ausstieg“ in Cabedelo durch eine Decke übers Dach in einen „Ententeich“. Ich war sogar durchaus bereit, darob auch weiterhin mit NEUHARLINGERSIEL in ihr neues und gleichzeitig altes Fahrtgebiet Nordamerika Westküste in Charter HAPAG unter dem Kommando von Kapitän H. zu schippern. In Nord-West war dann auch alles, wie früher gehabt, bestens geregelt, glatt, pünktlich und schön... Lesen Sie im Buch weiter!
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