I.
Da links im Gestrüpp liegt er ja. Der vermisste Sommerreifen. Ich springe aus dem Auto, rolle den Reifen zum Auto, wuchte ihn in den Kofferraum und fahre im Schritttempo weiter. Es fehlen noch Handmixer, Kochlöffel und Töpfe. Nur zwei Kurven und zehn Schlaglöcher weiter entdecke ich im dichten Laub die Kiste. Wunderbar!
Wir sind umgezogen. Gegen alle Unkenrufe ist es sehr unspektakulär abgelaufen. Bei minus fünf Grad, aber strahlend blauem Himmel.
Nur die Möbelpacker waren ein wenig nervös. Cem, der Chef der Drei-Mann-Truppe, ein gebürtiger Türke und begeisterter Deutscher, stand auf der Terrasse, schaute sich lange um und meinte: „Ich hier nix lange bleiben. Ihr auch nicht.“ Ich mag ehrliche Menschen. Aber in diesem einen Moment hätte ich geheuchelte Begeisterung geliebt.
Meine euphorischen Gesten über Wälder und Hügel bis zum glitzernden Meer in der Ferne ernteten nur ein Kopfschütteln. Meine begeisterte Rede über den gelebten Traum in einem Natursteinhaus im schönsten Winkel der Toskana kommentierte er nüchtern: „In Deutschland auch gute Häuser mit gute Landschaft und gute Straßen.“
Das war es also. Ein Ort, den sein Möbelwagen nicht erreicht, ist kein guter Ort. Dabei hatten wir ihm vorher gesagt, dass sein Lkw für den Waldweg zu breit ist und sowieso an der ersten Steigung hängen bleiben würde. Schon da hatte er gefragt: „Gab nicht Haus an Straße?“
Doch. Aber wir wollen weit weg von einem geordneten Leben wohnen.
Er hob an zu einer langen Rede, wie er vor mehr als 30 Jahren tausende Kilometer von Anatolien nach Schleswig-Holstein gereist sei, um Ordnung zu finden.
Murrend parkte er seinen Möbelwagen am zwei Kilometer entfernten Sportplatz und beäugte misstrauisch Enzo, einen Bauern aus der Nachbarschaft, dessen Traktor und den Hänger ohne Seitenwände. „Wir nix Verantwortung.“
Dann legten er und seine Männer los. Kisten und Möbel auf den Hänger, viermal Haftfolie außen drum und Abfahrt.
Zwei Tage lang rumpelte der Traktor immer wieder den Berg hinauf zum Haus. Als Cem feststellte, dass kein Glas zerbrochen, kein Möbelstück verkratzt war, gab es immerhin ein anerkennendes Schulterklopfen für Enzo. „Kann wieder mitmachen, wenn wir euch abholen.“ Sommerreifen und Küchenkiste haben wir ihm verschwiegen.
Dann verabschiedete sich auch Cem mit seinen Kollegen und wünschte uns immerhin „Viel Glück!“
Plötzlich waren wir allein. Auf einem Hügel im Wald. So allein, dass sogar unser eigener Briefkasten, so ein amerikanisches Monstrum, mehr als 1000 Meter entfernt ist. Er sieht aus wie ein gepfählter schwarzer Brotkasten mit rotem Winker und steht nun in Reih und Glied mit den Briefkästen aller Waldbewohner. Exakt neun Adressen gibt es am Sammelplatz, da wo der Sportplatz des Dorfes ist und die Zivilisation aufhört. Verständlich, dass die Postbotin sich weigert, für ein paar Briefe durch den Wald zu irren und sich zu merken, welche „Irren“ in welchem versteckten Haus, ohne Straßennamen und Hausnummer, leben.
Im Winter, also jetzt, hat sie noch weniger zu tun. Nur ein Paar lebt, wie wir, das ganze Jahr hier. Die anderen bevorzugen im Winter ihre kuscheligen Zweitwohnungen in Deutschland.
II.
Dieses Paar ist schuld. Schuld, dass wir nun in einem windumtosten Haus sitzen und uns über die Gesellschaft von Rotkehlchen und Spatzen freuen.
Es ist ein paar Jahre her, als wir eine alte Freundschaft neu entdeckten. Moni und Jürgen, einst Großstadtmenschen wie wir, hatten schon längst ihre gemietete Etagenwohnung gegen eine eigene Ruine getauscht. In Briefen erzählten sie vom Ausbau des Hauses ohne Dach, vom Leben ohne Wasser und Strom. Verwechselten wir vielleicht Italien mit Afrika?
Sie luden uns ein, nicht ohne eine Wegbeschreibung und eine originelle Einkaufsliste von Ersatzteilen bis Leberwurst mitzuschicken.
Noch eine Übernachtung im gepflegten Chianti und wir fuhren von Siena über Palazetto Richtung Meer. Kurz vor dem mittelalterlichen Örtchen Prata sollten wir eine schmale Einfahrt mit dem Hinweis „campo sportivo“ suchen. Wir verließen die Asphaltstraße, kamen am Sportplatz vorbei und folgten dem linken unbefestigtem Weg. Im Schritttempo fuhren wir durch Wälder, an Weinbergen, blühenden Ginstern und Olivenhainen vorbei. Es gab nur drei Geräusche. Liebliches Vogelgezwitscher, unseren stöhnenden Motor und das hässliche Kreischen, wenn die Bodenplatte wieder über einen Felsen schrammte.
Nach vier Kilometern und 25 Minuten duckt sich auf der linken Seite hinter Bäumen ein Häuschen. Wir sind angekommen. In einer anderen Welt.
Einer Welt, in der alles schöner ist. Der Himmel ist blauer, die Sonne strahlender, die Landschaft aufregender, die Tomaten leckerer und die erzählten Geschichten spannender.
Schon das Duschen wird zur Anekdote. Kaltes und warmes Wasser werden in einer Gießkanne gemischt. Zwischen Bäumen und Blumentöpfen ziehen wir uns aus, betreten eine hübsche Naturstein-Nische ohne Außentür und hieven die Gießkanne hoch an einen Fleischerhaken. Genial ist der doppelt geknickte Griff. Erste Stufe: Nassmachen, shampoonieren, einseifen. Kein Wasser mehr. Zweite Stufe: Kanne in den zweiten Knick schieben, abduschen. Verbrauch für zwei Personen: Nur zwölf Liter.
Dem Klo haben wir spontan den Titel „Schönste Toilette der Toskana“ verliehen. Mitten im Olivenhain drei Holzwände, ein Dach und ein WC mit gelbem Holzdeckel. Drumherum rote Geranien und üppiger Farn. Nun sitzt Du dort und genießt dank fehlender vierter Wand den freien Blick über die bewaldeten Hügel bis zum Meer und zählst wie viele Orte Du auf Elba entdecken kannst. Erst auf Drängen der anderen verlässt Du diesen magischen Ort und schöpfst zum Spülen mit einer alten Kasserolle Regenwasser aus einer blauen Tonne. Schon am zweiten Tag ein ganz normaler Vorgang.
Als wir abreisten und die Bodenplatte des Autos wieder über Felsen schmirgelte, spürten wir noch nichts. Doch zurück im Leben mit Zentralheizung und Terminen zeigten sich die ersten Symptome. Das bekannte Virus „Mal d’Afrique“ - ein innerer Zwang immer wieder nach Afrika zurückzukehren – mutierte zur „Malattia di Toscana“. Eine Krankheit, die erst Bilder aufblitzen lässt. Die Bar im Dorf mit dem singenden Wirt. Der Schäferhund auf der Ladefläche einer roten Dreirad-Ape. In der Sonne silbrig glänzende Olivenbäume. Gustl, die schwarze Katze, die einen stets zum Klo mit dem gelben Deckel begleitete. Die parlierenden Männer auf der Piazza.
Vielleicht nur schöne Urlaubserinnerungen.
Kritischer wird es, wenn mitten im Feierabendverkehr Gerüche von Rosmarin, Lavendel und von der Sonne verbranntem Gras auftauchen.
Wirklich gefährlich ist das Virus jedoch erst, wenn es das Gedächtnis manipuliert. Die Bilder verändern sich. Sind geschönt, gefälscht wie nach raffinierter Bearbeitung mit einem Fotoprogramm. Plötzlich ist der toskanische Himmel noch blauer, die Ruhe mindestens paradiesisch, die Landschaft an Schönheit nicht mehr zu überbieten, jedes Dorf ein Kleinod.
Ist die Sehnsucht nicht mehr mit einem Abendessen beim Italiener um die Ecke zu stillen, bist Du verloren.