KAPITEL 2
Rhein-Sieg-Kreis / Deutschland / 2020
Nummer 1
Es ist dunkel. Nein, es ist nicht dunkel. Es ist finster.
Wie oft habe ich gehört und gelesen, dass das Leben
vor dem inneren Auge abläuft wie ein Film, wenn es
so weit ist? Hunderte Male? Tausende Male? Ist es so
weit? Jetzt? Morgen? Demnächst?
Ich glaube nicht, dass jemand so verrückt ist,
morgen zu sagen, er führe mich wieder dahin zurück,
wo er mich gepackt und in seinen Kofferraum gestopft
hat! Mir ist unglaublich schlecht, auch von meinem
eigenen Erbrochenen, das neben mir seinen sauren Gestank verbreitet wie ein geplatztes Geschwür. Wie lange bin ich bereits hier?
Was ist das für ein Verlies? Ein Keller?
Wo sind denn alle? Mama, Papa ...
Sucht niemand nach mir? Sie müssen mich doch
suchen !?
Die Wippe, die unser Großvater für uns baute,
erscheint in der Finsternis. Mein Bruder. Ich als
kleines Mädchen. Ich denke an meine Mutter, die
Rosen bewässert, auf die sie so stolz ist. Mein Vater.
Er streicht den Gartenzaun. Perfektes Zuhause.
Perfekte Familie. Konfirmation, Zahnspange. Dorian,
meine erste große Liebe. Und der Mohnstreusel
meiner Großmutter, den es jeden Sonntag
gab. Ich kann ihn riechen, der Modergeruch kann das
ebenso wenig verhindern wie meine
Übelkeit.
Ich fühle mich ein bisschen getröstet, obwohl ich
glaube, den Verstand zu verlieren. Meine Handgelenke
kann ich nicht mehr spüren, im Gegensatz zu den
Schmerzen in meinem Kopf.
Blut. Ich schmecke Blut. War ich ohnmächtig?
Was hat er mit mir vor???