1. Aufgewacht - vorbei ist die Nacht!
Tautropfen glitzern wie Perlen auf Gräsern und Blättern. Die ersten Sonnenstrahlen dringen zaghaft durch das Geäst der Bäume. Lautlos zerreißen sie die grauen Schleier der Nacht und kitzeln sanft die schlafenden Blüten der Sommerblumen auf der Waldlichtung mit der hohlen alten Eiche. Noch ist Stille ringsumher. Kein Zwitschern, kein Summen und Brummen ist zu hören. Die Vögel haben noch ihre Köpfe unter den Flügeln. Auch die Käfer hängen reglos unter den Grashalmen. Es scheint so, als würden alle am Sonntag länger schlafen.
Aber nein! Einen Frühaufsteher gibt es - Isabella, die kleine blonde Waldfee. Doch was macht sie so früh schon auf der Waldwiese? Allein, während die Mutter schläft?
Isabella lächelt die Morgensonne an. Sie steht - ohne Schuhe, nur in ihrem Nachthemd - vor der Tür des Waldhauses, wo sie mit ihrer Mutter wohnt, und freut sich über den schönen Morgen.
„Isabella, geh´ hinein!“, ruft da die Sonne vom Himmel herunter. „Du wirst vom Morgentau ganz nass an den Füßen. Was wird deine Mutter sagen, wenn sie dich so sieht?“
„Ach, es ist so schön hier draußen, liebe Sonne!“, antwortet Isabella. „Ich habe noch nie so was Schönes gesehen.“
„Du übertreibst“, sagt die Sonne und lächelt freundlich übers ganze rote Gesicht.
„Nein wirklich, liebe Sonne! Ich möchte am liebsten jetzt loslaufen und alle aufwecken. Damit sie nicht den schönen Morgen verschlafen.“
Die Sonne muss lachen. Dadurch wird es gleich etwas heller auf der Lichtung. Dann versucht die Sonne, Isabella zu erklären, warum sie die Waldbewohner nicht aufzuwecken braucht: „Du musst nicht glauben, dass alle schlafen. Einige sind wach, und die anderen werden auch bald erwacht sein. Meine warmen Strahlen werden sie schon wecken. Und dann werden sie, schneller als du denkst, auf den Beinen sein. Bald wird es hier summen und brummen, zwitschern und tirilieren …“
„Ach“, unterbricht Isabella sie, „eh´ du dich von der Stelle rührst, da ist der schöne Morgen längst vorbei!“
„Das darfst du nicht sagen, kleine Isabella“, antwortet die Sonne traurig. „Wer denn sonst als ich hat dir den schönen Morgen heute gebracht?“
Plötzlich wird es dunkler. Ein Schatten fällt auf die Waldlichtung. Erschrocken blickt Isabella zum Himmel. Sie merkt, wie sich die Sonne hinter eine Wolke zurückziehen will.
„Sei mir bitte nicht böse, liebe Sonne!“, ruft sie ihr schnell hinterher. „Ich wollte dich nicht kränken. Doch glaub´ mir, ich wecke die andren Waldbewohner schneller auf als du! Wetten wir?″
Ohne noch eine Antwort von der Sonne abzuwarten, läuft sie geschwind davon. Quer über die Waldwiese geht es - geradewegs auf den dichten Wald zu. Isabella hüpft fröhlich und singt ein Lied dabei. Manchmal bleibt sie auch stehen, wenn sie ein schlafendes Blümlein entdeckt. Dann tippt sie ganz sacht an sein hängendes Blütenköpfchen und ruft freundlich: „Aufgewacht - vorbei ist die Nacht!“
2. Mal ist es hier, mal ist es dort,
manchmal ganz nah und dann wieder fort?
Es dauert nicht lange, dann hat Isabella den schmalen Sandweg erreicht, der durch den Wald führt. Viele große Bäume stehen dort, hoch bis in den Himmel: starke Eichen, mächtige Buchen, dunkle Tannen, Fichten und Kiefern. Darum ist es auch dunkler als auf der Lichtung.
Ein wenig Angst hat sie schon, weil es noch dunkel ist. Aber sie sagt sich: Wie soll es denn anders sein? Die Sonne ist ja noch weit zurück. Darauf ist Isabella natürlich stolz. Sie fühlt sich schon als Siegerin im Wettlauf mit der Sonne. Und damit es auch alle hören können, ruft sie es laut und weit in den Wald hinein: „Die Sonne - die Helle, kommt ja nicht von der Stelle!“
Doch so ganz sicher scheint sie sich wohl nicht zu sein, sonst würde sie nicht immer wieder nach der Sonne Ausschau halten. Mehrmals dreht sie sich beim Laufen um. Sogar auf den Zehenspitzen läuft sie und reckt den Hals nach ihr aus. Natürlich schaut sie auch hier und da hinter die Bäume, späht in die Höhe, um nach kleinen Tieren und Vögeln zu sehen. Schließlich will sie sie ja wecken. Aber es ist da immer der Zweifel, ob die Sonne mit ihr nicht nur Verstecken spielt?
Noch immer ist es still im Wald. Nur der Wind rauscht leise durch die Zweige der Bäume. Da sieht Isabella etwas Rotbraunes flink zwischen den Baumstämmen hin und her huschen - ein junges Eichhörnchen. Es tut sehr beschäftigt, das Kerlchen, denkt sie. Es springt hierhin, springt dorthin, klettert die Bäume hoch und runter. Sie schaut ihm eine Weile zu und rätselt: „Mal ist es hier, mal ist es dort, manchmal ganz nah und dann wieder fort?“ Sie fragt sich, warum es wohl so früh schon auf den Beinen ist?
Da kommt das kleine Eichhörnchen erneut angesprungen. Es klettert auf einen dicken Baumstamm. Es umkreist ihn einmal und noch einmal und ist dann in einem Astloch verschwunden.
Schade!, denkt Isabella, ich hätte mich so gern mit ihm unterhalten.
Aber kaum vergeht eine Minute, da schaut der Kopf des kleinen Eichhörnchens mit den Puschelohren wieder aus dem Astloch hervor. Es flitzt ganz schnell einen dicken Ast entlang und springt mit einem kühnen Satz auf einen anderen Baum. Von dort läuft es schnell den Baumstamm hinab und dann ein Stück in den Wald hinein.
Rasch ruft Isabella: „Bleib´ doch steh´n!“
Und das kleine Eichhörnchen bleibt tatsächlich stehen. Den buschigen Schwanz hinter dem Rücken hochgestellt, richtet es sich auf und blickt sie erschrocken an. Danach kommt es zu ihr gesprungen, verdeckt etwas mit seinen Vorderpfoten am Boden und fragt: „Bist du schon lange hier?“ Weil sie ihm jedoch nicht gleich antwortet, sagt es noch: „Dann dreh´ dich bitte um!“
„Warum?“, fragt Isabella. „Willst du Verstecken spielen?“
„Nein“, sagt das kleine Eichhörnchen. „Ich will nur, dass du dich umdrehst.“
„Na schön!“, murrt sie und tut ihm den Gefallen. Doch weil sie wissen möchte, was das Kerlchen vorhat, blickt sie über ihre Schulter. Da sieht sie es wieder in den Wald hinein flitzen. Sogleich ruft sie: „Halt! Wo willst du denn hin?“ Sie bemerkt, wie es schnell etwas verscharren will, eilt ihm nach und findet im Loch eine Haselnuss.
„Willst du die etwa vergraben?“, fragt sie.
„Ja, ich lege einen Vorrat für den Winter an“, antwortet es und schaut sie misstrauisch an.
„Jetzt?“, fragt sie erstaunt.
Das kleine Eichhörnchen richtet sich keck vor sie auf und gibt ihr zur Antwort: „Man kann nicht früh genug damit anfangen, hat meine Mutter gesagt.“
„Und warum machst du das allein?“, möchte Isabella wissen. „Hast du keine Geschwister?“
„Doch ... doch“, stottert es. „Aber die schlafen alle noch.“
„Dann kann ich sie ja aufwecken!“, jubelt Isabella. „Darum bin ich ja hier. Ich habe nämlich mit der Sonne gewettet, dass ich alle viel schneller aufwecken kann als sie.“ Sie faltet die Hände vor ihrem Mund zu einem Trichter und ruft laut: „He! Aufgewacht, ihr Eichhörnchen!“
„Pst! Nicht so laut!“, flüstert das kleine Eichhörnchen und zittert vor Aufregung.
„Wenn ich leiser rufe, hören sie mich doch nicht“, sagt Isabella verwundert. „Und dann verschlafen sie den schönen Morgen. Oder willst du das etwa?“ Sie schaut es fragend an.
Das kleine Eichhörnchen will aber keine Antwort geben und weicht ihrem Blick aus. Es springt einfach zu einem Tannenbaum und klettert ein Stück daran empor.
„Was hast du vor?“, fragt Isabella interessiert. „Willst du dir jetzt einen Tannenzapfen holen?“
„Nein!“, erwidert es und klettert flink zur Baumspitze weiter. „Ich will nur nach der Sonne sehen.“ Oben angelangt ruft es: „Du musst dich beeilen! Bald ist sie hier“, und hofft dadurch, unsere kleine Waldfee loszuwerden.
Doch Isabella hat es noch nicht so eilig. Sie muss erst die schlafenden Eichhörnchen wecken. Das sagt sie ihm auch. Da kann sie gar nicht so schnell schauen, wie das Kleine wieder vom Baum runter ist. Als es dann zitternd vor ihr steht, da ahnt sie etwas.
„Ich glaube“, sagt sie, ″du willst gar nicht, dass deine Mutter und deine Geschwister aufwachen. Ich weiß auch warum, denn ich habe dich vorhin eine ganze Weile beobachtet. Du bist ein paarmal aus eurem Astloch gekommen und hast was im Waldboden verscharrt. Haselnüsse - nicht wahr?“
Das kleine Eichhörnchen sagt kein Wort.
„Du hast sie aus eurem Nest geholt“, sagt sie vorwurfsvoll. „Woher auch sonst! Hier steh´n ja keine Haselnusssträucher. Du willst alle Nüsse für dich allein. Darum bist du auch schon so früh auf den Beinen. Das finde ich nicht schön von dir.“ Sie sieht, wie das kleine Eichhörnchen sich schämt, und hört es kleinlaut antworten: „Ich werde sie alle wieder ausgraben und zurückbringen.“
Da freut sich Isabella und streichelt es zum Abschied. Als sie den Waldweg wieder erreicht hat, winkt sie ihm noch einmal zu und ruft: „Komm doch mal zur Lichtung, zur hohlen alten Eiche! Ich weiß, wo viele Haselnusssträucher steh´n. Dort kannst du genug Vorrat für den Winter sammeln. Und bring´ auch deine Geschwister mit!“