Suchbuch.de

Leseproben online - Schmökern in Büchern



Kategorien
> Fantasy Bücher > Nicht menschlich Inc.
Belletristik
Bücher Erotik
Esoterik Bücher
Fantasy Bücher
Kinderbücher
Krimis & Thriller
Kultur Bücher
Lyrikbücher
Magazine
Politik, Gesellschaftskritik
Ratgeberbücher
regionale Bücher
Reiseberichte
Bücher Satire
Science Fiction
Technikbücher
Tierbücher
Wirtschaftbücher
Bücher Zeitzeugen

Login
Login

Newsletter
Name
eMail

Fantasy Bücher
Buch Leseprobe Nicht menschlich Inc., Stephanie Linnhe
Stephanie Linnhe

Nicht menschlich Inc.



Bewertung:
(349)Gefällt mir
Kommentare ansehen und verfassen

Aufrufe:
2449
Dieses Buch jetzt kaufen bei:
Drucken Empfehlen

1
Schicksalswink


Die Nachricht tanzte über den Monitor und konnte nur ein Scherz sein. Vor allem, weil das Schicksal mich nur selten ernst nahm. Ich nagte an meiner Lippe und blickte mich um, als erwartete ich, jeden Moment den Spaßvogel zu sehen, der mir diese E-Mail geschickt hatte. Nichts. Ich war allein im Arbeitszimmer meiner Mutter, wo ich meine Würde in den letzten Monaten Stück für Stück bei der Jobsuche geopfert hatte. Aber ich war wild entschlossen, den Rest nicht auch noch herzugeben. Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu und grübelte. Der Absender lautete abm.net. ABM? Hatte mir etwa das Arbeitsamt geschrieben? Bisher hatte es keinen Finger gerührt, um mich aus der Erwerbslosigkeit herauszuführen, und nun bot es mir allen Ernstes auf diese Art eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an? Ich konnte mich nicht erinnern, meine Mailadresse angegeben zu haben. Hackten die etwa unseren Computer? Vielleicht, falls sie Interesse am Hollywoodtratsch hegten, den meine Mutter regelmäßig aus den Tiefen des Internets filterte. Da ich mit den Grübeleien nicht weiterkam, las ich die Mail erneut. Wieder kamen die Worte einem Kulturschock gleich, weil ich mittlerweile an Absagefloskeln gewöhnt war. Sehr geehrte Frau di Lorentio! Wir möchten uns für das Interesse an unserem Unternehmen herzlich bedanken. Momentan suchen wir nach fachkundiger Unterstützung und sind überzeugt, dass Sie aufgrund Ihrer Qualifikation eine Bereicherung für unser Team darstellen werden. Daher freuen wir uns, Sie an Ihrem ersten Arbeitstag am kommenden Montag persönlich kennenzulernen. Bitte beachten Sie, dass dieses Arbeitsverhältnis auf ein Jahr befristet ist. Darunter prangten Name und Titel meiner Kontaktperson: Stacey Enn, Chefsekretärin, Adamant Bunch Marketing. Also doch nicht das Amt. Besonders sympathisch klang der Firmenname allerdings nicht. Ich war mir sicher, ihn noch nie zuvor gehört und ganz sicher keine Bewerbung herausgeschickt zu haben. Ich scrollte die Mail weiter hinab. Keine Adresse, keine Telefonnummer, lediglich diese wenigen Zeilen. Noch immer verstand ich so gut wie nichts. Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte – und das war nicht nur mein Name, der falsch geschrieben war. Es hieß Lorenzo, nicht Lorentio. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass mein Hirn viel zu langsam auf etwas reagierte, das ich schneller begreifen sollte. Das gefiel mir nicht, Unsicherheit hasste ich noch mehr als zu plötzliche Veränderungen. Ich las die Mail zum dritten Mal. Endlich sah ich den fehlenden Schritt so deutlich, als hätte ihn jemand in bunt blinkenden Buchstaben geschrieben. Frau Enn sprach von meiner angeblichen Bewerbung und schwenkte direkt auf die Zusage. Eine Zusage! So fühlte sich das also an. Man hatte mich zu keinem Vorstellungsgespräch eingeladen und plante offenbar auch nicht, eine Wahl unter mehreren Bewerbern zu treffen. Das klang mir zu sehr nach Märchen oder auch nach einem Streich. Ich musste den Haken an der Geschichte finden. Vielleicht handelte es sich um ein Versehen und die Mail war nicht für mich bestimmt, sondern für besagte Frau di Lorentio? »Immer der Reihe nach, Nala«, murmelte ich. Meine Gedanken rasten und stolperten durcheinander. Zunächst musste ich mich vergewissern, ob es Adamant Bunch Marketing gab. Vielleicht hatten sie eine Jobsektion auf ihrer Webseite. Momentan wusste ich nicht einmal, was von mir verlangt wurde, von der stellvertretenden Chefin bis hin zur Reinigungsfrau in Teilzeit konnte das alles sein. Als Erstes musste ich nachprüfen, ob mich gerade mein Pech oder nur mein Gedächtnis im Stich ließ. Ich öffnete die Schreibtischschublade, die ich säuberlich mit meinem Namen beschriftet hatte, und griff nach meinem Notizbuch. Darin hielt ich alle Bewerbungsinformationen fest: Firmenname, Adresse, genaue Jobbezeichnung. Die meisten der aufgelisteten Unternehmen befanden sich hier in Westburg, der Rest in den umliegenden Orten. Ich hatte verschiedene Farben verwendet und konnte erkennen, wem ich die Unterlagen per E-Mail geschickt hatte und wem, voller Tradition, auf dem Postweg. Die Einträge waren chronologisch nach Datum geordnet. In der letzten Spalte hatte ich die Ergebnisse notiert. Beim flüchtigen Durchblättern sah ich viele Minuszeichen und drei durchgestrichene Fragezeichen, aber kein Plus. Nun ja. Ich war sicher, mich an den Namen Adamant Bunch Marketing erinnern zu können, falls ich ihn aufgeschrieben hätte, trotzdem fuhr ich die Reihen gewissenhaft mit dem Finger entlang. Bei all den Bewerbungen der letzten fünf Monate war ich mir selbst nicht mehr so sicher. Als ich am Ende angelangt war, bewegte ich den Finger wieder nach oben und murmelte dieses Mal die Firmennamen mit. Ohne Erfolg. Also war die Mail ein Irrtum. Es lag an mir, ihn aufzuklären. Ich seufzte, ließ das Buch wieder in der Schublade verschwinden, wandte mich dem Computer zu und legte die Finger auf die Tastatur. Doch ich schrieb nicht. Eine Horde Zweifel hielt mich zurück. Stand hier womöglich Chance gegen Ehrlichkeit? Verschenkte ich die Möglichkeit, das Sprungbrett in eine Freiheit außerhalb des Elternhauses zu betreten, wenn ich die Sache richtigstellte? Ich zog einen Finger nach dem anderen zurück. Normalerweise fanden derart kriminelle Gedanken keinen Platz in meiner Welt. Das war ein eindeutiges Indiz für meine Verzweiflung über die Tatsache, dass ich mich nach Zeiten mit Job und eigener Wohnung nun, mit dreiundzwanzig Jahren, wieder mit den Launen meiner Mutter herumschlagen musste. Interessanterweise nahmen Alessias mütterliche Allüren mit der Zeit zu, als wollte sie mich erst in Sicherheit wiegen, um mir dann die volle Breitseite zu liefern. Es gab kaum einen Tag, an dem sie nicht ins Bad platzte, wenn ich gerade unter die Dusche wollte. Sei es, um mir ihren neuesten Nagellack zu präsentieren, den Lidschatten aufzufrischen oder sich vor dem Spiegel zu drehen und ihre Rückenansicht zu begutachten. Es machte mich wahnsinnig, und jedes Mal rief ich mir ins Gedächtnis, dass es keine gute Idee war, einen Schreikrampf zu bekommen. Immerhin war ich nur noch Gast. Längere Badezimmerbesuche waren ein seltenes Vergnügen für mich geworden, weil ich mich schlicht kontrolliert fühlte. Ich befürchtete, dass nächtliche Patrouillengänge vor meinem Zimmer oder Ausgangssperren nach Mitternacht als Nächstes auf dem Plan standen. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Seit fünf Monaten bemühte ich mich um Arbeit, dabei waren meine Zeugnisse nicht schlecht. Nach der Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation hatte ich sogar die Frechheit besessen, mir etwas auf meine Noten einzubilden. So etwas machte ich nicht häufig. Ich gab ungern mit meinen Leistungen an und hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Es war doch viel einfacher, andere dabei zu beobachten, wie sie sich schillernder darstellten, als sie waren, und wie wieder andere darüber die Augen verdrehten. Unbemerkt versteht sich, zumindest für den Redner. Ihren Nachbarn dagegen rückten sie mit rollenden Pupillen so dicht auf die Pelle, dass es einer Massage gleichkommen musste. Doch ob Selbstdarstellungsprofi oder nicht, auf dem Jobmarkt sah es eng aus. Darüber hinaus fehlten mir wichtige Kontakte. In meiner Familie gab es weder einflussreiche Persönlichkeiten noch Mafiosi. Der italienische Familienschlag stammte enttäuschenderweise aus einem Dorf an der Schweizer Grenze. Ich kannte keinen Geschäftsmann, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Alles in allem standen die Chancen schlecht. Ich gönnte mir weitere Sekunden des Selbstmitleids, atmete tief durch und konzentrierte mich auf das Wesentliche. Recherche. Die Suchmaschine spuckte beim ersten Durchlauf einige Ergebnisse aus, die ich neugierig überflog. Keines deutete auf eine Marketingfirma hin und eine Webseite fand ich auch nicht. Ich versuchte es auf Umwegen, nutzte die Abkürzung ABM, den Namen Stacey Enn, die Mailadresse und weitere Kombinationen, doch hinterher war ich ebenso schlau wie zuvor. Das konnte doch nicht sein. Welches Marketingunternehmen besaß heutzutage keinen Onlineauftritt? Abgesehen davon gab es nicht einmal den kleinsten Anhaltspunkt, kein Bericht, keinen Hinweis auf den Webseiten zufriedener – oder unzufriedener – Kunden. Ich hasste es, wenn sich Fragen anhäuften. Zum Beispiel die, wo genau ich am kommenden Montag den ersten Arbeitstag antreten sollte. Der skeptische Teil meines Ichs brüllte mir Dinge wie Spam und Briefkastenfirma zu, während ich mein Gesicht in den Händen verbarg und merkte, wie mein Kopf immer schwerer wurde. »Blöde Kuh«, murmelte ich und wusste nicht, ob ich das Schicksal meinte, das mit ziemlicher Sicherheit ein Mütterchen mit grauem Haarknoten, Gehstock und einem fiesen Grinsen war, oder Stacey Enn. Wo auch immer diese Meistersekretärin meinen Familiennamen ausgegraben hatte, sie hätte genauer hinschauen sollen. Immerhin hatte sie sich nicht sofort von einem angeblichen Migrationshintergrund abschrecken lassen. Pluspunkt für sie. Wenn die Empfangsdamen vieler Firmen mein Bewerbungsfoto ebenso aufmerksam betrachteten, wie sie meinen Nachnamen lasen, so ahnte ich, was sie sich vorstellten: Eine kurvige Immigrantin mit Sprachdefizit, die ihre Slips in Eineuroläden erstand, weil sie jeden Cent in einen Dolmetscher steckte, der ihre Bewerbungsschreiben aufpolierte. Mit di Lorenzo verband sich in den Vorstellungen der Menschen eben keine Frau mit honigblonden Locken und hellblauen Augen. Ich seufzte, loggte mich aus und fuhr den Computer hinunter. Wer auch immer sich hinter ABM verbarg, mich bekam er nicht. »Mensch, Nala.« Kim stopfte sich ein Stück Muffin in den Mund und verteilte vor lauter Begeisterung Krümel auf ihrem ferrariroten Pullover. »Was ist, wenn du dir da eine Chance entgehen lässt? Klar, es ist bizarr, aber das macht es gerade interessant. Du musst herausfinden, wer dahinter steckt. Im schlimmsten Fall hattest du zumindest etwas Abwechslung. Ein Abenteuer.« Davon erlebst du viel zu wenige, sagte ihr Blick. Für meine beste Freundin war das gesamte Leben eine Sensation. Sie studierte noch und ließ sich Zeit, weil sie sich nebenher in zu viele Projekte stürzte. Entscheidungen dauerten bei ihr nie länger als wenige Minuten, wohingegen ich tagelang grübeln konnte. Vielleicht war das mein Fehler. Ich plante gewisse Dinge zu lange. Dinge wie mein Leben. Oder wie das passende Gegenargument. Ich starrte durch die Gegend, sah lachende Gesichter und dampfende Tassen, und überlegte. Obwohl es nicht einmal Mittag war, standen die Leute vor der Kasse in Carly’s Café Schlange. Es duftete nach Kaffee und süßen Gebäckteilchen. Hier dominierten eindeutig Frauen die Szenerie. Egal, auf welchem Stand sich die wissenschaftlichen Studien befanden, Kuchen in Verbindung mit Kaffee lag weit im Inland unseres Territoriums. So sehr die Männer auch in der Wildnis herumhackten, an diesem kulinarischen Tempel schlichen sie stoisch vorbei. Ich mochte das Carly’s, so wie ich Westburg mochte. In dieser Stadt war ich aufgewachsen, hier wohnten meine Freunde und meine Familie. Ich kannte beinahe jeden Winkel. Das klang für den einen oder anderen vielleicht langweilig, aber verzweifelt zu versuchen, in einer fremden Stadt am Single-Tisch Anschluss zu finden, war auch nicht der Hauptgewinn. »Mir gefällt es hier eben«, sagte ich. »Ich möchte nicht weg. Außerdem ist es sicher nur ein dummer Scherz. Oder Spam.« Kim wäre nicht sie selbst, wenn sie das Argument durchgehen lassen würde. »Das weißt du erst, wenn du am Montag dort hingehst«, rief sie so laut, dass sich mehrere Gäste nach uns umdrehten. Ich spürte Wärme auf den Wangen und wusste, dass sie soeben mit der Farbe von Kims Pullover konkurrierten. Neben meiner Freundin war ich ein Mauerblümchen, auch wenn sie ihre pixiekurzen Haare färbte, um jenen Honigton zu erreichen, der dem meines Lockenkopfs ähnelte. Doch mit ihren kniehohen Stiefeln und dem kurzen Rock konnte meine Alltagsmontur aus Jeans und Top einfach nicht mithalten. Ich bedeutete ihr, leiser zu reden. Dann spielte ich den letzten Trumpf aus. »Ich weiß doch nicht einmal, wo ich genau hinsoll. Adamant Bunch könnte überall sein.« »Dann mailst du denen und fragst.« Sie blinzelte mir verschwörerisch zu. »Und denk daran, den Namen der guten Stacey falsch zu schreiben.«

2
Heldenmomente


Es dämmerte, als ich in unsere Einfahrt bog. Das Licht der Außenbeleuchtung malte zaghafte Schatten auf den Kies, der unter meinen Schritten leise knirschte. Im Haus wehte mir Bratenduft entgegen, in der Küche klirrte und polterte es. Ich ließ die Tür lauter als nötig ins Schloss fallen. Die Reaktion kam sofort. »Schahaatz?« Mein Vater klang so gut gelaunt wie immer, wenn er sich mit Fettspritzern und Mehlschwitze auseinandersetzte. Ich verzichtete auf eine Antwort, weil das Topfgeklapper in diesem Moment so laut wurde, dass ich dagegen hätte anschreien müssen. Stattdessen begab ich mich freiwillig in die Küche, den Ort, wo Pa bevorzugt seine Schlachten schlug. Der Geruch wurde intensiver und entpuppte sich als ein Potpourri aus Schmorbraten, Zwiebeln und Karotten. Jürgen di Lorenzo stand in der Mitte des Raumes, strahlte mich an und winkte mir mit einem Messer zu. »Ah, Nala. Hast du Hunger?«, fragte er. »Das Essen ist fast fertig.« Weder wollte er wissen, wo ich den Tag verbracht hatte, noch wies er mich darauf hin, dass ich vergessen hatte, die Spülmaschine auszuräumen. So war er, mit Leib und Seele Koch, sowohl im Beruf als auch zu Hause. Essen war für ihn der Kamin, ohne den unser Leben kalt und grausam wäre. Trotzdem hatte ich momentan einfach keinen Appetit. Meine Gedanken drehten sich um die E-Mail und Kims Überzeugung, dass man möglichst viel wagen musste, um überhaupt irgendetwas zu gewinnen. »Nein danke.« »Hast du denn heute schon etwas gegessen?« »Ja, ich war mit Kim in der Stadt.« Ich dachte an das Gespräch bei Carly’s. Da war er wieder, dieser Zwang, eine Entscheidung zu treffen. Zu handeln. Damit hatte ich weniger Probleme, wenn ich wusste, womit ich es zu tun hatte. Ungeklärte Dinge bohrten dagegen ein Loch in meinen Magen. Ich beäugte meinen Vater und schwankte zwischen dem Wunsch, seine Meinung zu der Sache mit Adamant Bunch zu hören, und der Befürchtung, dass sie sich mit Kims decken könnte. Pa war durch und durch Optimist. Seine Gläser waren nicht nur halb voll, sie füllten sich darüber hinaus auf, sobald man einen Schluck nahm. Ich biss mir auf die Lippe und beichtete es dann doch. »Ich könnte heute eine Art Zusage bekommen haben.« »O Kleines!« Seine Freude ging in Zischen unter, als er den Braten ablöschte. »Von wem? Was ist eine Art Zusage? Und warum könnte?« Er griff zum Tranchiermesser. Ich lehnte mich gegen die Wand und erzählte ihm von der E-Mail. Er hörte aufmerksam zu und stellte genau die Fragen, die auch mir im Kopf herumschwirrten. »Welchen Job würdest du machen? Wie heißt denn die Firma? Und wo ist sie?« »Das weiß ich alles nicht. Kim meint, ich sollte zurückschreiben und um mehr Infos bitten.« »Und du denkst, dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht?« Ich nickte. Er legte das Messer beiseite, um mir einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. »Lass dich zu nichts drängen, wenn du dich unwohl fühlst. Nimm dir genug Zeit, um zu überlegen.« Er griff nach dem Topf mit dem Gemüse. Ich war entlassen. Ausnahmsweise war das Badezimmer frei. Ich stieg unter die Dusche, versuchte, mir alle Zweifel von der Haut zu waschen, und scheiterte. Als ich, in ein Handtuch gehüllt, auf den Gang trat, sah ich meine Mutter an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie kaute an einer Haarsträhne, wie sie es oft tat, wenn sie sich ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung widmete, dem Lesen über die Welt der Schönen und Reichen. Sie betrachtete es als Fortbildung und ihre Pflicht als Drogistin, ihren Kunden den Weg in eine bessere und vor allem teurere Pflegewelt zu zeigen. Image war alles für sie. Das ging so weit, dass sie damals Pas Heiratsantrag nur unter der Bedingung angenommen hatte, ihren Nachnamen behalten zu können. Alessia Conrad war für sie niemals eine Option gewesen. »Hey«, rief ich ihr zu. Sie schwang auf dem Stuhl herum und hob ihre Augenbrauen zu perfekt gezupften Bögen. Weizenblonde Bögen, denn die italienischen Gene ihres Vaters waren optisch vollkommen an ihr vorbeigegangen. Ihr Haar war nur unwesentlich heller als meins und weniger wuschelig. Ich spürte, wie meine Aufmerksamkeit von den blinkenden Buchstaben auf dem Monitor angezogen wurde. Ein Geistesblitz zuckte mir durch den Kopf. »Hattest du eigentlich in letzter Zeit Probleme mit dem Computer?«, kam ich Alessia zuvor, die bereits den Mund geöffnet hatte. Sie wirkte verwirrt. »Nein, wie kommst du …« »Nichts? Keine Zicken, keine Abstürze?« Sie verzog die Lippen. »Würdest du mir bitte verraten, worauf du hinaus willst?« Ich antwortete nicht, sondern dachte an vorgestern Abend, an meine übliche Session im Internet, Jobs suchen, Absagen kassieren, Bewerbungen schreiben. Während dieser Routine war das System abgestürzt. Der Monitor hatte sich zunächst verdunkelt und war schwarz geworden, mit einem hellen Punkt in der Mitte. Beinahe so, als würde man mich von der anderen Seite des Bildschirms aus beobachten. Das passierte ausgerechnet, als ich eine Mail abgeschickt hatte. Die hatte sich danach weder in meinen Entwürfen noch im Gesendet-Ordner befunden und ich hatte von Neuem lostippen müssen. Konnte das mit der Mail von ABM zu tun haben? »Nala?« Meine Mutter hasste es, wenn sie auf jemanden warten musste. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Alles in Ordnung.« »Gut.« Sie nickte hoheitsvoll. So sehr sie Neuigkeiten aus Hollywood jagte, so wenig interessierte sie sich für mein Leben. »Ich wünsche dir sehr, dass du bald Glück mit der Jobsuche hast«, bemerkte sie und öffnete eine Brangelina-Fanseite. »In deinem Alter ist es wichtig, auf eigenen Füßen zu stehen.« Sie war die einzige Mutter in meinem Bekanntenkreis, die ihre Tochter aus dem Haus haben wollte. Ehe ich hier wieder eingezogen war, hatte sie mein Zimmer in einen begehbaren Kleiderschrank verwandelt. Aber sie hatte vollkommen recht. Ich überlegte, ihr von der E-Mail zu erzählen, allerdings hatte sie sich bereits in die News der Seite vertieft. Seufzend wandte ich mich ab und tappte in mein Zimmer. Am nächsten Tag wurde meine Situation nicht besser. Am Abend hatte ich lange gegrübelt, und dann verfolgte mich die Chefsekretärin bis in meine Träume, sodass ich kaum geschlafen hatte. Ich war mit dem Gefühl aufgewacht, eine große Chance zu verschenken. Um mich abzulenken, fuhr ich zu meiner Oma. Immerhin hatte ich Zeit und ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich länger nicht blicken ließ. Außerdem wollte ich nach dem Gespräch mit Alessia seelisch versorgt werden, und Omas waren schließlich für solche Dinge da. Meinen Entschluss bereute ich schnell, genau genommen fünf Minuten, nachdem ich mich zu Oma an den Küchentisch gesetzt hatte. Großeltern fragten immer nach der Schule, der Arbeit oder der Ehe. In keiner dieser Disziplinen konnte ich eine Medaille aufweisen. Oma dachte nicht daran, deswegen das Thema zu wechseln. Mist, damit hatte ich in meiner Gutgläubigkeit nicht gerechnet. Bluthunde und alte Menschen hatten oft viel gemeinsam. Ich wusste nicht, ob das an ihrer Hartnäckigkeit lag oder an der Tatsache, dass sie es nicht anders kannten. »Und, was macht deine Stellensuche?« Ich studierte das Blumenmuster der Tasse und merkte, dass meine gute Laune mir entglitt wie ein glitschiger Fisch, den ich mit bloßen Händen zu halten versuchte. »Bisher noch nichts.« Ich verschwieg ABM geflissentlich. Bis ich die ganze Internetsache erklärt hatte, wären meine Nerven durch den Boden gesickert. Meine Oma schüttelte leicht ihren Kopf und starrte zu unserem Familienfoto an der Wand. Ich ahnte, was nun kam. »Robert hat damals auch viele Bewerbungen geschrieben, aber dann hat es doch geklappt«, begann sie das Loblied auf meinen älteren Bruder. Ich verdrehte die Augen und hoffte, sie würde es bemerken und zur Abwechslung auf Dinge wie schlechtes Benehmen eingehen. Sie tat mir den Gefallen nicht. »Die Ausbildung war nicht leicht, da musste er sich anstrengen und konzentrieren«, fuhr sie unbeirrt fort. »Aber er ist übernommen worden«, beendete sie ihre Ode mit stolzgeschwellter Brust. Mein Bruder arbeitete als Lagerist bei Absolom, einem Getränkemarkt am Rand von Westburg. Das war kein Job, um den ich ihn beneidete, aber er war nun mal Omas Lieblingsenkel. Da brachte es wenig, ihr zu erklären, warum meine Ausbildungsfirma mich nicht hatte übernehmen können. Heute war ich empfindlicher als sonst, also stellte ich die Tasse ab und stand auf. »Ich muss los.« »Was hast du denn vor?« »Bewerbungen schreiben«, antwortete ich ein wenig eisig. »Ja, man muss immer dran bleiben.« Sie lächelte mich an und zeigte auf ihren Herd, wo drei chromblitzende Töpfe standen. »Willst du noch etwas zu essen mitnehmen?« Sie war trotz allem die Mutter meines Vaters. Zu Hause stürzte ich in Alessias Arbeitszimmer. In meinen Ohren rauschten die vorwurfsvollen Worte meiner Mutter mit Omas Lobpreisungen auf Robert um die Wette. Sie hatten beide vollkommen recht. So ging das nicht weiter. Am Schreibtisch wühlte ich die Tastatur unter Hochglanzmagazinen und Parfümproben hervor, rief die Mail von ABM auf und kaute an meiner Unterlippe. Sollte ich wirklich? Ich klickte den Antworten-Button an. Und nun? Sollte ich die Zeilen lapidar und in der Annahme formulieren, einem Streich aufgesessen zu sein, oder ernsthaft schreiben, um mehr Informationen zu erhalten? Beides gefiel mir nicht. Ich musste einen Mittelweg finden. Sehr geehrte Frau Enn, ich bedanke mich für Ihre rasche Antwort. Nein, das war nicht gut. Ich wusste nicht, ob es sich überhaupt um eine Antwort handelte. Sollte es ein Witz sein, durfte ich hier nicht von Dank reden. Ich grummelte, löschte den Satz wieder und startete einen zweiten Versuch. Sehr geehrte Frau Enn, ich beziehe mich auf ihre Mail vom Ich sah noch einmal auf das Datum und fügte es ein. Da dieser jegliche Angaben bezüglich genauer Uhrzeit und Ort fehlen, ist es mir leider nicht möglich, den angegebenen Termin einzuhalten. Das war sachlich und präzise und konnte auch als sarkastische Zurechtweisung angesehen werden. Und im umgekehrten Fall? War es da nicht zu unfreundlich und unprofessionell? Darüber grübelte ich seit gestern nach, und ich wusste, dass ich an dieser Stelle nicht weiterkam. Dann zog ich den Mauszeiger auf den Senden-Button und schlug auf die Taste, als wollte ich einen Geist austreiben. Das war’s. Ich konnte die Worte nicht mehr rückgängig machen. Nun hieß es warten. Ich bekam einen Schluckauf. Insgesamt fühlte ich mich, als hätte ich etwas gezündet, das nun als Feuerwerk entweder am Himmel oder gleich in meinen Händen explodieren konnte. Ich wollte den Computer herunterfahren, doch ein helles Signalgeräusch hielt mich zurück. Sie haben eine neue Nachricht. In meiner Kehle kribbelte es so sehr, dass ich husten musste. Ich summte nervös, als die Mail sich öffnete. Sie waren wirklich schnell, die Jungs oder Mädels von ABM. Ich überlegte, ob das ein positives Zeichen war. Mein Exchef hatte Telefongespräche prinzipiell erst nach dem fünften Läuten angenommen, um wichtig zu wirken. Was sagte die schnelle Antwort also über ABM aus? Saßen da etwa zwei zahnspangige Teenager mit Limo und Pizza vor einem anderen Rechner in dieser Stadt und hatten ihren Spaß mit mir? Ich schüttelte den Kopf. Dann las ich. Und blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Liebe Nala, Ich runzelte die Stirn. Diese joviale Freundlichkeit gefiel mir nicht. Es fühlte sich an, als verletzte ein vollkommen Fremder meine Privatsphäre. Wo blieb da die schöne, distanzierte, geschäftliche Höflichkeit? Zudem erinnerte die Anrede mich an die Lehrer meiner Schule, die versucht hatten, sich mit dieser Kumpelmasche durch die Schrecken des Unterrichtens zu manövrieren. Es hatte niemals funktioniert, sondern dazu geführt, dass die Schüler auch den letzten Funken Respekt ihnen gegenüber verloren. Frau Enn war jedoch nicht meine Lehrerin, deshalb gab ich ihr eine allerletzte Chance und las weiter. entschuldigen Sie die fehlenden Angaben. Da unser Firmengebäude nicht ohne Hilfe zu erreichen ist, wird man Sie am kommenden Montag an der Ecke Brattstraße und Williamsweg in Camlen abholen. Bitte seien Sie um halb acht dort. Viele Grüße Stacey Enn Sie schaffte es mit jeder Nachricht, meine Verwirrung in neue Dimensionen zu treiben. Abholen? Sollte ich dort arbeiten oder verwechselten die mich mit einem heiß erwarteten Ehrengast? Vielleicht teilte ich meinen Nachnamen mit einem hohen Tier im Vorstand des ABM-Konzerns. Aber wie groß war eigentlich der Zufall, dass sich diese Firma ausgerechnet im Nachbarort befand? Ich grübelte mindestens fünf Minuten. Stacey schien nicht mit der Sprache herausrücken zu wollen. Was sollte das heißen, schwer zu finden? Camlen war keine Großstadt. Die Alarmglocken in meinem Kopf schlugen fortissimo. Immer mehr Indizien sammelten sich auf der Waagschale, die mit »Du machst dich lächerlich, Nala« beschriftet war. Aber nun hatte ich die Sache begonnen und würde sie durchziehen. Schon allein, um meiner Familie zu beweisen, dass ich eine selbstständige, junge Frau war. Ich biss die Zähne zusammen und rief mir die Titelmelodie von »Conquest of Paradise« ins Gedächtnis. Dann legte ich meine Finger auf die Tasten. Ein wahrhaft heroischer Moment. Sehr geehrte Frau Enn, Ich hatte gewiss nicht vor, auf die Freundschaftsmasche hereinzufallen. ich bedanke mich für Ihre Mühen und werde am Montag zur angegebenen Zeit in Camlen warten. Camlen war beinahe noch Heimat und nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt, sobald man sich auf der Überlandstraße befand. Bei all der Unsicherheit hätte ich es mir dreimal überlegt, weiter als eine Stunde zu fahren, nur um dann möglicherweise herauszufinden, dass ABM nicht existierte. Ich las meine Antwort noch dreimal. Mit Schwung knallte ich meine Faust auf die Maus und sah zu, wie sich mein Schicksal in Bewegung setzte. Ich hatte eine Verabredung mit der Zukunft. Meine Umgebung machte einen Staatsakt daraus. Alessia bestand darauf, ein passendes Kostüm für den ersten Arbeitstag zu shoppen und deklarierte es als Möglichkeit, einen Mutter-Tochter-Tag zu verleben. Da ich ein gutmütiger Mensch war, machte ich das Spielchen mit, hechelte mit ihr von einem Laden zum anderen, probierte züchtige Kostümchen an und hängte sie alle wieder zurück. Meine Mutter erstand währenddessen zwei neue Sommerkleider, drei Strumpfhosen, einen Gürtel, zwei Glamourtops und einen Augenschutz, gegen den jede Fashionbrille einschläfernd wirkte. Nachdem sie mich müde gehetzt hatte, kaufte ich das nächstbeste Kostüm, das mir halbwegs passte. Nachmittags rief meine Oma an und überprüfte alle Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt. Ob mein erster Arbeitstag wirklich am Montag wäre. Ob es wirklich in Camlen war. Ob die Firma wirklich ABM hieß. Ob man mich wirklich abholen wollte. Ob ich schon gegessen hätte. Mein Bruder Robert kam vorbei und beglückwünschte mich zwischen zwei Schlucken Bier zu meinem Triumph. Allerdings klang er, als würde er mich auslachen. Vielleicht lag das auch daran, dass er fragte, ob ABM eine Firma zur Vermittlung von Facility Managern sei. Kim zitierte mich am Abend zu sich nach Hause. Ich erzählte ihr von der Mail und der Antwort. Sie fand es ohne Frage höchst interessant. »Wenn jemand dahintersteckt, den wir kennen, sagst du einfach, du hättest nur mitgemacht, um zu sehen, wo seine kleine Inszenierung noch Lücken aufweist.« »Lücken?« Ich verstand gar nichts mehr. Kim hob die Arme wie eine Tempeltänzerin. »Eine Alibi-Erklärung solltest du schon bereithalten.« »Was, wenn es da um etwas ganz anderes geht? Wenn es gefährlich ist?« »Nala.« Kim kräuselte ihre Lippen. »Das ist Camlen. Die wissen nicht einmal, wie man Verbrechen schreibt.« »Wäre ich ein Krimineller, würde ich mir auch einen harmlosen Ort suchen und meine Opfer dorthin locken.« Sie kicherte. »Gut, dass du keine Kriminelle bist, weil sie dich sofort drankriegen würden. Mach dir mal keine Sorgen. Ich würde dich ja fahren, aber ich muss ausnahmsweise an der Uni auftauchen. Gespräch mit dem Prof.« Daran, jemanden zur Sicherheit mitzunehmen, hatte ich noch gar nicht gedacht. »Irgendwer sollte mich begleiten«, murmelte ich. »Frag doch deine Eltern«, gab Kim sich unbekümmert. »Oder deinen Bruder. Da findet sich schon jemand.« Manchmal kannte sie meine Leute wirklich schlecht. Pa ließ sich in meinem Zimmer blicken, als ich von Kim zurückkehrte, und drückte mir einen Becher Kokosmousse samt Löffel in die Hand. »Hier, zur kleinen Feier.« Ich drehte das Silber zwischen Daumen und Zeigefinger. Er beobachtete mich genau. »Bist du aufgeregt?« Ich überlegte, probierte etwas Mousse und atmete aus. »Pa, kannst du mich morgen nach Camlen bringen?« Ich sah, wie sich die Sorgenfalten auf seiner Stirn ausprägten, eine nach der anderen. »Was ist los, Nala? Du wolltest ihnen doch schreiben und um mehr Informationen bitten. Haben sie zurückgeschrieben? Was genau macht ABM denn nun?« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist komisch.« »Was meinst du? Die Firma? Der Job? Hast du aufgeklärt, dass du dich überhaupt nicht beworben hattest?« Er nickte, so als wollte er mir die Antwort vorausnehmen. Ich nickte nicht mit. Er blinzelte ungläubig. »Du hast es nicht …?« »Ich habe ihnen zurückgeschrieben, dass ich nicht weiß, wo ich hin muss. Spätestens da hätte ihnen der Fehler ja auffallen müssen, oder?« Ich merkte, wie ich mich rechtfertigte, und das passte mir ganz und gar nicht. Pa fuhr mit einer Hand über sein glatt rasiertes Kinn. Ich konnte die Erkenntnis in seinen Augen lodern sehen. »Deshalb willst du, dass ich dich fahre.« Ich nickte nachdrücklich und erzählte ihm von den vergeblichen Recherchen und Staceys seltsamen Angaben. Danach schwiegen wir beide eine Weile, bis er sich räusperte. »Das klingt, als hättest du mehr als die Hälfte ausgelassen. Du hättest gründlicher nachhaken sollen.« »Was hättest du denn getan?« »Geschrieben, dass ich durchaus in der Lage wäre, das Gebäude zu finden, und nach der genauen Adresse gefragt.« Unter normalen Umständen hätte ich das auch. Ich ärgerte mich, dass mich Alessia, Oma und Robert so sehr auf die Palme brachten, dass mein gesunder Menschenverstand nicht funktioniert hatte. Doch nun war es zu spät. Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und bemerkte, wie sie zitterten. »Ich pass schon auf mich auf.« Ich klang sorglos und unbeschwert, obwohl mir tief im Inneren absolut nicht so zumute war. Pa kannte mich zu gut, um mir durch seine Skepsis noch mehr Angst zu machen. Nachdem er gegangen war, umarmte ich mein Kissen, sank langsam und theatralisch auf mein Bett und schloss die Augen.


Für den Inhalt dieser Seite ist der jeweilige Inserent verantwortlich! Missbrauch melden



© 2008 - 2023 suchbuch.de - Leseproben online kostenlos!


ExecutionTime: 1 secs