Das Baumhaus Die Sonne brannte auf die Felder Lents herab. Der Sommer hatte erst vor kurzer Zeit den eher zarten Frühling abgelöst. Und das mit einer Kraft, wie es sich die Einwohner Lents nicht vorgestellt hätten. Die Hitze dieser Jahreszeit bestand erst seit ungefähr zwei Wochen, aber sie war bereits so stark, dass die Getreidefelder, welche sich um das Dorf Lent herum befanden, schon vollkommen vertrocknet waren. Kopfschüttelnd stand der junge Darry auf einem der Felder und ließ langsam seinen Blick kreisen. Vertrocknetes Gras und nun wertloses Getreide nahmen sein Gesichtsfeld ein. Darry sah zum Himmel empor. Nicht eine lockere, zerrissene Wolke verzierte den hellblauen Himmel. Wieder schüttelte er den Kopf. Selbst wenn es über Nacht endlich einmal wieder Regen geben würde, es war bereits zu spät! Das wertvolle Getreide war nicht mehr zu retten. Sie hatten Glück, dass die unglaubliche Hitze der Sonne die Felder bis jetzt noch nicht in Brand gesetzt hatte. Nach kurzem Zögern ließ sich Darry ins trockene Feld sinken. Er zog die Beine an seinen Körper und schlang seine Arme darum. Sein Blick suchte den kleinen Wald, östlich von Lent, gleich am Ende des riesigen Feldes auf dem sich Darry gerade befand. Er musste die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen, so sehr bohrte das helle Licht der Sonne in seine Augen. Und das, obwohl er gar nicht in sie hineinsah. Diese Hitze tat ihnen allen nicht gut! Nicht nur wegen des Getreides. Im Westen des Dorfes gab es einen kleinen Fluss, der den Namen Balanstrom trug, an dem sich die Einwohner seines Dorfes jeden Morgen frisches Wasser holten. Erst gestern war er dort gewesen und er hatte festgestellt, dass der Wasserstand bereits zurückgegangen war. Wenn sich diese Temperaturen nicht schleunigst senken würden, würde Lent eine Krise erleben, wie er es sich wahrscheinlich nicht vorstellen konnte. Darry starrte noch immer hinüber zu dem kleinen Wald und der Wunsch, sich dort unter dem dichten Blätterdach aufzuhalten, wo die kühlen, dunklen Schatten, die die Baumkronen und Stämme warfen, auf ihn warteten, wurde beinahe übermächtig. Schließlich, als er die Hitze nicht mehr aushielt, stand er vom Getreidefeld auf und lief zum Wald hinüber. Das Vorankommen war einfacher, als es hätte sein sollen. Das Feld war hoch, aber das vertrocknete Gras war überhaupt nicht mehr widerstandsfähig, denn die Sonne hatte es entkräftet. Dicht aneinander gedrängt standen kräftige Bäume mit riesigen Baumkronen auf einer mit Gras bewachsenen Fläche. Darry betrat den Wald auf der westlichen Seite und sofort schlug ihm eine Kühle entgegen, sodass er glaubte, der Schweiß auf seiner Haut würde augenblicklich zu Eis erstarren. Er ging in den Wald hinein und eine drückende Stille baute sich um ihn herum auf. Darry bemerkte, dass, obwohl das Blätterdach so dicht war, dass man kaum den Himmel erkennen konnte, trotzdem der ein oder andere Sonnenstrahl hindurchdrang und in einem durchsichtigen Gold in der Luft hing. In diesem Wald hielt er sich oft auf. Nicht nur, um sich an einem ruhigen Ort zurückziehen zu können, sondern auch um zu jagen, denn hier gab es viele Tiere. Er mochte ruhige Orte. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb er Lent so sehr mochte. Es war ein kleines, friedliches Dorf, indem er schon sein ganzes Leben wohnte. Jetzt war er sechzehn Jahre alt. Darry schritt einige Zeit den platt getretenen Waldweg entlang und genoss einfach die kühle, frische Luft und die Ruhe, die hier im Wald ganz anders war, als draußen auf den Feldern. Nach langem, stummen Laufen verließ der Junge den schmalen Waldweg und tauchte tiefer in dem Wald ein. Während er so durch das Gras strich, fiel Darry in kleiner Entfernung ein altes Baumhaus auf, das er und Helios, sein bester Freund, vor einigen Jahren gebaut hatten. Er hatte es in der Zeit, die inzwischen verstrichen war, völlig vergessen. Der Junge lief schneller durch das Gras, um das Baumhaus zu erreichen. Auf dem Weg musste Darry über einen gefällten Baumstamm klettern. Dies war das Werk seiner Dorfbewohner. Im Winter war es immer bitterkalt, deshalb sorgten sie schon im frühen Sommer vor und besorgten Brennholz, um in dieser quälend langsam verstreichenden Zeit nicht frieren zu müssen. Die letzten Schritte zum Baumhaus legte Darry rennend zurück. Er wusste selbst nicht, warum es ihm plötzlich so wichtig war, das Baumhaus zu besteigen. Er hatte es doch all die Jahre nicht vermisst. Eine aus Holz erbaute lange Treppe führte den Baumstamm empor und Darry stieg hinauf. Ein Stück unter den Blättern des Baumes war ein hölzerner, hohler Würfel, in dem man sich aufhalten konnte. Der Eingang des Würfels war sehr niedrig. Fast musste Darry hinein kriechen, konnte aber, als er den Würfel betreten hatte, aufrecht stehen, so hoch war er. Und tatsächlich. Hier war schon lange keiner mehr gewesen. Der Boden und die Wände, was alles vollkommen aus Holz bestand, waren mit Staub bedeckt. Darry durchschritt den kleinen Raum und setzte sich an die Wand auf den Boden. Über ihm in der Wand hatten sie damals ein großes Rechteck gesägt, es diente als Fenster. Darry zog die Beine zu sich heran, schlang seine Arme drumherum und starrte auf die Klappe an der gegenüberliegenden Wand, welche als Tür für den Eingang herhalten sollte, an. Er konnte sich noch sehr gut erinnern. Sein Vater Markus war Schmied in seinem Dorf und Darry und Helios hatten Schwerter aus der Schmiede mitgehen lassen und hatten damit ein Baumhaus errichtet. Es hatte lange gedauert. Schließlich waren außer zwei Schwertern noch andere Hilfsmittel nötig gewesen, um es fertig zu stellen. Anfangs hatten sie beide viel Zeit hier drinnen verbracht und niemandem etwas davon erzählt (Es hätte sowieso niemanden gegeben, den es interessiert hätte). Es war ganz automatisch ihr geheimer Treffpunkt geworden. Aber mit der Zeit hatten sie das Interesse daran verloren, bis es schließlich völlig verlassen hier draußen im Wald stand, ohne die geringste Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen. Jetzt fand er es toll, sich wieder hier aufzuhalten, obwohl es hier oben etwas heißer, dafür aber schattiger als unten im Gras war. Morgen würde er seinem Vater wieder in der Schmiede helfen müssen. Ihm machte die Arbeit Spaß, zumal Helios auch oft mithalf. Es war anstrengend, aber es lohnte sich. Er hatte schon einige Schwerter geschmiedet, die sie in andere Städte verkaufen konnten. Die Schmiede war der Grund, warum Darry und seine Eltern noch nicht verhungert waren. Auch wenn die Waffen seines Vaters in naheliegende Städte geliefert wurden, verdiente er doch kaum daran, etwas, worüber Markus sich immer wieder aufregte und natürlich zu Recht. Darry beobachtete, dass es im Baumhaus immer schattiger wurde. Es würde bald dunkel werden! Er stand auf und verließ den hölzernen Würfel, um sich zurück nach Lent zu begeben. In der Schmiede Es war sehr früh am Morgen, als sich Darry zusammen mit seinem Vater und Helios auf dem Weg zur Schmiede befand. Im Vergleich zu den Morgen zuvor, war es heute angenehm kühl. Es waren sogar ein paar vereinzelte Wolken am Himmel zu sehen, die die aufgehende Sonne ein wenig verdeckten. Markus hatte mal wieder einen zufriedenen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Darrys Vater war ein kräftiger Mann mit kurzen, braunen Haaren. Am Kinn hatte er sich einen schwarzen Bart wachsen lassen. Es ärgerte Darry manchmal ein wenig, dass sein Vater um einiges größer war als er selber. Das Gesicht seines Vaters war, bis auf ein paar leichte Falten an der Stirn, noch sehr jung. Die Schmiede befand sich im Süden, etwas außerhalb des Dorfes, deshalb mussten sie ein Stück laufen, aber das störte Darry nicht. Darry sah an einem Haus vorbei auf die große Tannenwand, die das Dorf umschloss. Hinter den Tannen befanden sich die vertrockneten Felder. Auf den Feldern bauten die Bewohner von Lent in den warmen Monaten Getreide an. Dieses wurde schließlich geerntet und daraus backten sie Brot oder ähnliches. Nur meistens war es so, dass nicht genug abgebaut werden konnte, so wie auch in diesem Jahr, da die Hitze das meiste Getreide zerstörte. Das war natürlich ein Problem, denn außer den Feldern gab es in der Nähe von Lent keine wirklichen Anbaumöglichkeiten. Das Dorf Lent war sehr klein. Es hatte vielleicht zwei Dutzend Häuser, die ohne irgendeine Ordnung auf einer grünen Wiese aufgebaut worden waren. Das Aussehen der Häuser ließ eher auf ein reiches Dorf hoffen, denn sie waren alle aus stabilen Ziegelsteinen erbaut. Auf den Dächern befanden sich gewaltige Schornsteine, aus denen bei dem einen oder anderen Haus bereits weißer Rauch hervorkam. Die Häuser sahen von außen sehr groß aus, denn jedes Haus hatte noch eine kleine zweite Etage. Darry, sein Vater und Helios hatten die Schmiede erreicht. Jeder, der sie als erstes sah, hätte dazu eher Schuppen gesagt, denn so sah sie auch aus. Es war ein großes Holzhaus mit einem gewaltigen, hölzernen Tor. Oben, nur ein Stück unterhalb des Daches, befanden sich kleine Fenster. Nur an der hinteren Wand der Schmiede war ein Fenster, das größer und niedriger war. Markus war gerade dabei, das große Tor zu öffnen, damit sie mit ihrer Arbeit beginnen konnten. Es ging knarrend und quietschend nach außen auf und sie traten ein. Durch die oberen Fenster fiel bereits leichter Sonnenschein, der das Innere der Schmiede nur schwach erhellte und nur vereinzelte Konturen wahrnehmen ließ. Aber es würde schnell hell werden! Im Inneren sah das Gebäude noch viel größer aus. Überall standen Gerätschaften herum und an den Wänden waren Regale angebracht, auf denen fertige Waffen lagen. Sein Vater schmiedete nicht nur, er schnitzte auch, deshalb war das Gebäude auch in zwei Teile aufgeteilt. In der ersten Hälfe, dort wo das gewaltige Tor offen stand, wurde geschnitzt und in der hinteren Hälfte wurde geschmiedet. Deshalb befand sich dort auch ein steinerner Glutofen, um das Metall zu erhitzen. „Darry, ich würde sagen, dass du heute ein paar Pfeile schnitzen wirst,“ sagte Darrys Vater. Seine Stimme hallte in diesem großen Gebäude merkwürdig fremd von den Wänden wider. Darry nickte und fragte anschließend mit einem freundlichen Gesichtsausdruck: „Darf ich auch welche davon behalten?“ Markus Mundwinkel wanderten nach oben. „Selbstverständlich, mein Junge. Du wirst sie morgen für die Jagd brauchen.“ Darry nickte erneut zufrieden und begab sich gleich darauf zu der Stelle, an der geschnitzt wurde. „Helios, du bleibst bei mir, ich brauche dich gleich am Glutofen,“ hörte er Darrys Vater sagen, denn Helios war schon dabei, Darry zu folgen. Darry beobachtete, wie beide hinter einem kaputten Glutofen verschwanden, und setzte seinen Weg in Richtung Schnitzstelle fort. Als er sie erreichte, fand er einen alten Baumstamm zum Sitzen vor. Gleich daneben lagen lange und kurze Äste, die nicht die kleinste Unebenheit aufwiesen. Sie würde er schnitzen müssen! Gleich an der Wand hinter dem Baumstamm hing eines von vielen Regalen. Darauf lag ein Messer. Er nahm es vom Regal, setzte sich auf den alten Baumstamm, griff nach dem Ersten von vielen Ästen und begann zu schnitzen. Die Arbeitszeit war nur langsam vergangen, sodass Darry am Abend heilfroh war, die Schmiede verlassen zu können. Bis auf eine Stunde Pause, in der er zu Hause mit seinem Vater etwas gegessen hatte (etwas Brot, Käse und eine klare Brühe), hatte er ununterbrochen gearbeitet. Auf dem Rückweg betrachtete Darry die Pfeile, die er behalten durfte. Sie waren sehr gut, das bemerkte er, auch ohne sie ausprobieren zu müssen. Ein dazugehöriger Bogen lag bereits in seinem Zimmer. Darry wandte seinen Blick von den Pfeilen ab und betrachtete den Himmel. Er bemerkte, dass sich zu den wenigen Wolken, die sich heute früh am Himmel befunden hatten, inzwischen noch mehr gesellt hatten. Vielleicht gab es ja tatsächlich bald Regen. Als Darry zusammen mit Markus zuhause ankam, wartete seine Mutter Helena im fast dunklen Essraum auf sie. Sie hatte eine Kerze angezündet, deren Flamme ein wenig Licht spendete, und sie auf den runden Esstisch gestellt. Obwohl Helena nur ein klein wenig von der Kerze entfernt am Tisch saß, waren von ihrem Gesicht nur dunkle Umrisse zu erkennen. Als Helena sie eintreten sah, stand sie auf, nahm ihren Mann zur Begrüßung kurz in die Arme und küsste ihn anschließend. Helena war eine hübsche Frau, die in ein schlichtes Kleid gehüllt war. Ihr Gesicht wirkte für ihr Alter noch sehr jung. Sie war schlank, aber nicht sehr groß. „Wie war euer Tag?“, fragte sie Helena, nachdem sie ihren Mann losgelassen hatte. Darry hielt zur Antwort die Pfeile, es waren acht Stück, in die Höhe. „Ich sehe schon, es hat dir Spaß gemacht, Darry“, sagte Helena, mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Das stimmte nicht ganz, trotzdem nickte Darry. Sein Vater folgte Helena in den Essraum, wo sie oft am Abend nach der Arbeit am Tisch saßen und noch ein wenig redeten. Nur Darry brauchte für den Rest des Tages Ruhe. Er lief den Flur entlang, bis er einen Knick machte und er an der linken Wand schließlich eine schmale Leiter aus Holz vorfand. Er stieg sie hinauf, schritt in sein Zimmer und legte sich, ohne eine Kerze anzuzünden, auf sein Feldbett. Er würde bald schlafen, denn morgen musste er für die Jagd fit sein! Panik im Dorf Darry befand sich in dem Wald in der Nähe seines Dorfes. Seit dem heutigen Sonnenaufgang war er hier, jetzt war es bald Abend. Die Sonne schickte goldig-warme Strahlen durch das dichte Blätterdach und ließ Baumstämme und hohes Gras dunkelgelb erstrahlen. Sein Ziel, etwas zu essen zu fangen, hatte sich leider nicht erfüllt. Ihm war ein Reh begegnet, aber das Pfeilanlegen und Bogenspannen hatte einfach zu lange gedauert. Kaum war er bereit gewesen, seinen Pfeil loszuschicken, war es schon wieder verschwunden. Das war schlecht, denn jetzt würde Darry mit leeren Händen nach Hause zurückkommen und wahrscheinlich erneut losziehen müssen. Aber vielleicht war dies auch gar nicht mal so schlimm, denn hier im Wald waren nur sehr wenige wilde Tiere, und er wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn es hier bald kein Wild mehr geben würde. Wenn Darry ehrlich war, dann lebten hier so wenig Tiere, dass es nicht mal ansatzweise reichen würde, um die Bewohner des Dorfes zu ernähren. Darry versuchte, seine Sorgen zu vertreiben. Immer an die Probleme zu denken, würde es auch nicht besser machen. Hier im Wald roch es wie immer nach Moos, feuchtem Gras und Blüten. In der gestrigen Nacht hatte es tatsächlich zu regnen begonnen, nicht lange, für ein bis zwei Stunden, länger nicht. Aber dieser Regen war wichtig gewesen, auch wenn es kaum gereicht hatte, dass sich die Felder vor dem Dorf wieder erholten. Aber es hatte eine neue Hoffnung der Besserung in jedem Bürger des Dorfes entfacht und das war vielleicht viel wichtiger, als irgendein erholtes Getreidefeld. Ein kleiner Vogel mit gelben, flauschigen Federn, der vor ihm auf dem Boden lag, riss ihn aus seinen Gedanken. Er beschleunigte etwas seine Schritte, um zu seinem Ziel zu gelangen. Er kniete sich vor dem Vogel nieder und betrachtete ihn genauer. Darry brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass der Vogel sich den linken Flügel gebrochen hatte. Er lag auf der Seite und hatte seinen verletzten Flügel leicht nach hinten abgespreizt. Der Vogel fiepte ihm entgegen, als er merkte, dass der Junge auf ihn aufmerksam geworden war. Darry sah nach oben und er fand, wonach er gesucht hatte. Über ihm, in einem großen Baum, befand sich ein Nest, wahrscheinlich war das Vogeljunge dort heraus gefallen. Von oben drang ein wilder Singsang von Vogelstimmen zu ihm herunter. Einen Moment überlegte er angestrengt. Es widerstrebte ihn, den Vogel wieder zurück ins Nest zu setzen, allerdings wollte er ihn auch nicht hier auf dem Weg liegen lassen. Somit hob er den Vogel vorsichtig auf und lief auf den Baum zu. Darry war schon oft Bäume hinaufgeklettert. Dicke, dünne, hohe, niedrige, diese bewältigte er alle. Er hatte aber immer beide Hände zur Verfügung gehabt. Mit einer Hand war es eine neue Herausforderung. Darry betrachtete den Baum genauer. Er war zum Glück dünn genug, um seinen Arm mit der freien Hand um den Stamm schlingen zu können. Er machte sich an die Arbeit. Er umklammerte den Baumstamm mit seinem freien Arm, was er mit seinen Beinen gleichtat. Er stieß sich mit beiden Füßen immer wieder nach oben und griff mit dem Arm nach. Es ging erstaunlich leicht. Nicht lange und er hatte die Baumkrone erreicht. Er setzte den Vogel wieder ins Nest, wo er auch gleich von seinen Geschwistern mit einem munteren Zwitschern begrüßt wurde. Darry sah dem Schauspiel noch einen Moment zufrieden zu, dann ließ er sich wieder herunter gleiten. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, lief er weiter Richtung Dorf. Es war nicht mehr weit. Während er lief, ließ er seinen Blick kreisen. Von dem Baumhaus, in dem er sich vorgestern aufgehalten hatte, war er inzwischen weit entfernt. Dort hatte er sich heute noch einmal aufgehalten, ohne wirklichen Grund, aber auf eine unbeschreibliche Weise, hatte er das Gefühl viel Zeit versäumt zu haben, als er nicht in diesem Baumhaus gewesen war. Und jetzt glaubte er, diese Zeit wieder aufholen zu müssen. Darry merkte selber, wie unsinnig seine Gedanken waren, und tat diese mit einem knappen Schulterzucken ab. Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, durchfuhr ein ohrenbetäubendes Gebrüll den friedlichen Wald. Ohne auch nur drüber nachzudenken, von wo dieses schreckliche Geräusch kommen mochte, rannte er los. Dass dieses eigenartige Gebrüll nicht aus dem Wald kam, sondern aus der Luft, war das Einzige, was er in diesem Moment wahrnahm. Er entschloss sich, den Waldweg zu verlassen, und lenkte seine Schritte Richtung Osten, um die Bäume schneller hinter sich lassen zu können. Voller Panik preschte er durch niedriges Gestrüpp, als dieses Gebrüll erneut in seine Ohren drang, und immer wieder drohte er zu stürzen, während er über das feuchte Gras schlitterte. Darry sprang über einen gefällten Baumstamm, kam wieder sicher auf die Füße und lief weiter. Und schon wieder vernahm er es. Dieses Gebrüll. Nur viel lauter, was bewies, dass das, was dieses Geräusch verursachte, bereits viel näher gekommen sein musste. Gleich hatte er es geschafft! Noch ein paar weit ausholende Schritte und er würde auf einen kleinen Abhang stoßen. Darry riss die Augen auf, als er ihn vor sich erkannte. Wie oft hatte er diese Abkürzung schon genommen, um rechtzeitig nach Hause zurückzukehren? Er hielt vor dem Hang nicht an, sondern schlitterte ein weiteres Mal über feuchtes Gras, ging während dieser Rutschpartie in die Knie und stieß sich ab. Der Hang war vielleicht eine halbe Manneslänge hoch, also nicht sonderlich gefährlich, trotzdem kam er falsch auf, fiel und überschlug sich zwei- bis dreimal. Sofort stand er wieder auf und hetzte über das große Feld, welches genau zum Dorf führte. Es war feucht, aber trotzdem noch immer vollkommen vertrocknet, und er kam nicht so schnell voran wie noch vorhin im Wald. Plötzlich, als er völlig damit beschäftigt war, dieses hochgewachsene Feld zu überwinden, breitete sich ein riesiger Schatten wie eine große, dunkle, alles verschlingende Decke über das große Feld aus. Er sah zum Himmel und erblickte einen riesigen, dunkelblauen, fast schwarzen Drachen und erkannte, dass auf ihm eine Gestalt saß, die in einem schwarzen Umhang gehüllt war welcher im starken Flugwind wild flatterte, beinahe so, als wolle er nichts anderes, als sich von dieser Person zu entfernen. Darry wandte seinen Blick vom Reiter des Drachen ab und konzentrierte sich wieder auf das Laufen. Plötzlich, als der Junge erneut hinauf zum Drachen sah, durchfuhr Darry ein gewaltiger Schock, als er bemerkte, dass der Drache direkt auf sein Heimatdorf zuhielt. Das durfte nicht sein! Panik ergriff ihn. Während er dem Drachen nachhetzte, nahmen in ihm tausende Gedanken Gestalt an, was wohl mit Lent passieren würde, wenn der Drache tatsächlich in dem kleinen Dorf landen würde. Der Junge schob diesen Gedanken (und noch viele andere) beiseite und rannte weiter. Der Vorsprung des Drachen wurde immer größer, trotzdem verlangsamte Darry seine Schritte nicht, ganz im Gegenteil. Er wurde schneller. Er rannte weiter über das leicht abfallende Feld hinab ins Dorf, da tauchten vor ihm die hohen Tannen auf, die das Dorf auf drei Seiten umschlossen. Darry schlitterte die letzten paar Schritte, um langsamer zu werden, und zwängte dich durch die eng stehenden Tannen, um das Dorf von der Südseite aus zu betreten. Er war gerade durch die Tannen hindurchgeschlüpft, als die Erde wie durch einen gigantischen Hammerschlag zu erzittern begann. War der Drache gelandet? Im nächsten Augenblick war es schon wieder vorbei. Darry wusste sofort, aus welcher Richtung die Erschütterung gekommen war. Aus dem Norden. Genau dort, wo sein Vater in seiner Schmiede arbeitete. Gehetzt sah sich Darry nach allen Seiten um und erblickte das reine Durcheinander. Menschen flohen in wilder Panik zu allen Seiten hin aus dem Dorf, nahmen keine Rücksicht auf andere, alle hatten nur den Wunsch, sich zu retten. Andere versperrten ihre Häuser und zogen sogar ihre Vorhänge vor den Fenstern zu, in der Hoffnung, dies könnte sie vor dem Drachen schützen. Und wieder andere kamen mit neugierigen Blicken aus ihren Häusern geschlichen und sahen mit großen Augen Richtung Schmiede. Ohne auf die flüchtenden Menschen zu achten, zu denen sich immer mehr gesellten, rannte er los. Nach kurzem laufen konnte Darry den gigantischen Drachen erkennen. Er war so groß, dass sein Kopf problemlos über die Häuserdächer ragte. Darry blieb mitten im Schritt stehen. Er durfte dieser Riesenechse nicht in die Klauen laufen! Er lief nach links, um hinter einem Haus Deckung zu suchen. Darry war nicht mehr weit von der Schmiede entfernt. Er sah, dass er nicht der Einzige war, der sich der Schmiede genähert hatte. Wenige Dorfbewohner, die mutig genug waren, hatten sich im großen Abstand zur Schmiede versammelt. In ihren Gesichtern konnte Darry die nackte Panik erkennen und manchen sah er an, dass auch sie über eine Flucht nachdachten. Darry hielt sich am Rand des Dorfes, um bei der kleinsten Regung des Drachen zwischen den eng aneinander stehenden Tannen Deckung suchen zu können. Er sah nervös zum Drachen hinüber. Auf dem Rücken saß der Reiter, den er schon vorhin auf den Feldern erkannt hatte. Soweit das Darry erkennen konnte, war er völlig in schwarz gehüllt. Er hatte lange, schwarze Haare, die im leichten Wind sanft flatterten. Der Drache schlug immer wieder wild mit seinem mit Stacheln besetzten Schwanz auf den Boden, wodurch er mehr oder weniger große Löcher hinterließ. Er stand unruhig auf allen Vieren, hatte seine Flügel aber an seinen schwarzen Körper angelegt. Zwei lange, spitze Stacheln verzierten seinen, im Vergleich zum Körper kleinen Kopf. Auf dem Rücken war die Riesenechse mit Panzerplatten geschützt. Sein Bogen wäre lachhaft, würde er versuchen, das Tier anzugreifen. Natürlich war er vernünftig genug, das nicht zu tun. Darry spielte eine Zeit lang mit dem Gedanken, den Reiter mit seinem Bogen anzugreifen. Da er nicht wusste, was dieser wollte, ließ er es lieber bleiben. Er war gerade an dem Drachen vorbei gekommen, als er auch schon seine Deckung verließ und mit schnellen Schritten auf die kleine Ansammlung von Dorfbewohnern zulief. Er hielt nach seiner Mutter Ausschau und fand sie einige Augenblicke später in den vorderen Reihen der Dorfbewohner. Er drückte sich an den aufgeregten Dorfbewohnern vorbei (was gar nicht so einfach war, denn viele waren so aufgeregt, dass sie laut durcheinanderriefen oder in Panik sogar manche Dorfbewohner schupsten), bis er schließlich neben seiner Mutter stand. „Was ist hier los?“, fragte Darry seine Mutter, während er beobachtete, wie der Reiter gerade von seinem Drachen stieg und seinen Drachen ruhig tätschelte. „Ich weiß es nicht“, antwortete seine Mutter Helena. „Der Drache ist gerade hier gelandet und ich bin sofort hierhergekommen, um zu sehen, was los ist“. Sie sah ihrem Sohn besorgt ins Gesicht. Darry sah wieder in Richtung des Reiters, der sich gerade auf den Weg zum Eingang der Schmiede begab, in der sein Vater arbeitete. Das Problem war nur, dass er wegen der Entfernung zu Schmiede nichts verstehen konnte. Er drehte in der Menschenmenge um und lief zurück. Er wollte raus aus dem Getümmel, und diesmal musste er selbst manche grob beiseiteschieben. Manche folgten seinem Beispiel und liefen kurzerhand davon. Nachdem er die wenigen Dorfbewohner hinter sich gelassen hatte, lief er einen großen Bogen, um auf die andere Seite der Schmiede zu gelangen. Er musste sehen, was dieser Mann von seinem Vater wollte. Während er lief, fiel ihm auf, dass er Helios noch gar nicht gesehen hatte. Es gab viele Orte, wo er hätte sein können. Wahrscheinlich hielt er sich gerade im Westen am Balanstrom auf, und selbst wenn er den Drachen bemerkt hatte, so konnte er noch gar nicht zurück sein. Der Weg war zu lang. Es dauerte nicht lange, da hatte er die andere Seite der Schmiede erreicht. Der Junge zog sich an einem wackeligen Fenstersims hoch, um durch das schmutzige Fenster der Schmiede etwas erkennen zu können. Darry fragte sich bereits die ganze Zeit, weshalb sein Vater nicht aus der Schmiede herausgeschritten gekommen war. Jetzt wusste er es. Markus schmiedete gerade an etwas und schlug deshalb immer wieder mit seinem Schmiedehammer auf das rotglühende Eisen. Der Junge konnte den Lärm, den sein Vater bei der Arbeit verursachte, bis nach draußen hören. Außerdem befand er sich ganz am Ende der Schmiede und somit auch recht weit von dem draußen entstandenen Durcheinander entfernt. Darry konnte sehen, wie der fremde Reiter seinen Vater gerade erreichte. Der Fremde blieb im kleinen Abstand vor Markus stehen und musterte ihn stumm, ehe er sprach: „Ich heiße Lobastor“, sagte der Fremde. Seine Stimme hörte sich rau und kratzig an. Markus fuhr fast schon erschrocken zu dem Fremden herum und wischte sich anschließend die Hände an seiner Hose sauber. „Es freut mich, Euch kennenzulernen“, sagte Darrys Vater freundlich, während er den Fremden nur ansah, und offenbar darauf wartete, dass dieser weiter sprach. Mit Sicherheit ahnt er nicht, dass vor der Schmiede sich ein riesiger Drache befindet, dachte Darry entsetzt. „Ich bewundere Eure Art zu schmieden… Markus. Aber nur um Euch dies mitzuteilen wäre der Weg von Bergul nach Lent nun wirklich etwas zu weit,“ fuhr der Fremde, der sich mit dem Namen Lobastor bekannt gemacht hatte, fort. „Gut, und was führt Euch dann zu mir?“, fragte Markus, während er das erhitzte Eisen in einen Behälter, der neben dem Glutofen stand, beförderte. Das Eisen ließ ein beißendes Zischen hören und anschließend stieg weißer, lockerer Dampf aus dem Behälter. Der Mann, ihn konnte Darry gut erkennen, weil er an ein altes Regal lehnte, fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Mir ist ein altes Buch in die Hände gefallen und dort habe ich ein Bild entdeckt. Auf diesem Bild war ein Schwert zu erkennen“, sagte Lobastor und sah Markus nun mit einem schmalen Grinsen an. Markus nickte und sagte: „Ich kann Euch gerne so eines schmieden, wenn es das ist, was Ihr von mir wollt. Dazu müsst Ihr es mir allerdings beschreiben“. „Ich denke das ist nicht nötig, denn Ihr habt es bereits geschmiedet“, sagte Lobastor. Er hatte sich von dem Regal, an dem er sich zuvor angelehnt hatte, entfernt und lief nun vor Markus in der Schmiede auf und ab. „Ich verstehe nicht ganz“, sagte Markus nur und Darry glaubte ihm, denn obwohl er sein Gesicht nicht erkennen konnte, weil er mit dem Rücken zum Fenster stand, war die Verwirrung nicht zu überhören. Sein Vater hörte jetzt dem Fremden aufmerksam zu und ließ seine Arbeit für eine Zeit liegen. Lobastor blieb plötzlich stehen und drehte sich mit einem Gesichtsausdruck zu ihm um, der irgendwo zwischen Ausdruckslosigkeit und leichtem Spott angesiedelt war. Schließlich zog er etwas aus seinem Umhang und sofort erkannte Darry, dass es das erwähnte Buch sein musste. Dabei ließ er seinen Vater nicht aus den Augen. Markus ließ keinen Laut hören, dann wandte Lobastor seinen Blick ab und fing an, in dem Buch zu blättern. Eine kurze Zeit verstrich, dann schien er die richtige Seite gefunden zu haben und überreichte Darrys Vater das Buch. Markus studierte die Seite eine Weile, dann sah er auf und musterte sein Gegenüber. „Es tut mir leid. Ich habe so ein Schwert noch nie geschmiedet.“ Der Gesichtsausdruck Lobastors wurde eine winzige Spur härter, ungeduldiger. „Markus“, sagte er dann. „Ihr seit nicht nur ein kleiner Schmied in diesem Dorf. Ihr liefert Eure Waffen bis in weit entfernte Städte aus. Selbst ich habe bereits von Euch gehört. Die Frage die ich Euch stelle: Welcher Markus soll es geschmiedet haben, wenn nicht Ihr? Es wäre schon ein großer Zufall, wenn es noch einen weiteren Schmied namens Markus in diesem Land gäbe, nicht war?“ Markus zuckte nur die Achseln und schlug das Buch zu. „Ich kann Euch da nicht weiter helfen“, sagte er nur und reichte Lobastor das Buch zurück. „Ich habe bereits viele Schwerter geschmiedet, doch dieses ist mir völlig fremd. Was ich auf dem Bild erkennen konnte ist, dass in dieser Waffe unglaublich viel Arbeit steckt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich dieses Schwert nachschmieden könnte.“ Ohne etwas auf seine Worte zu erwidern, nahm Lobastor das Buch wieder entgegen und schlug das Buch erneut auf, doch dieses mal eine andere Seite. Ein paar wenige Sekunden starrte er die Seite nur an, dann begann er zu lesen: „Das Schwert auf Seite vierundvierzig Kapitel drei ist ein seltenes Exemplar, von dem so gut wie nichts bekannt ist. Viele Alchemisten aus vergangener Zeit haben sich mit diesem Schwert befasst, doch alles was in Erfahrung gebracht werden konnte, sind nur Geschichten und Mythen. So soll es beispielsweise den Träger vor jeglicher Gefahr schützen. Nachdem es schließlich nach vielen Jahren Arbeit fertig geschmiedet wurde, soll sein Schmied namens Markus es an einem geheimen Ort versteckt haben und seitdem wurde dieses Schwert nie mehr gesehen.“ Lobastor sah von dem Buch auf und musterte Markus mit einem harten Blick. „Wo ist dieses Schwert?“ Seine Stimme klang nun eindeutig bedrohlich. „Ich kann mich nur wiederholen“, sagte der Schmied nun und auch seine Stimme klang nun eine Spur gereizter. „Ich weiß es nicht, was es damit auf sich hat, und ich bitte Euch nun, meine Schmiede zu verlassen, denn ich habe für heute Abend noch ein bisschen was zu tun!“ Darry verzog vor Schmerz das Gesicht. Er hielt sich noch immer am Fensterbrett fest. So wie er da hing, konnte er es nicht mehr lange durchhalten. Seine Arme schrien förmlich nach Entlastung. Plötzlich sah die fremde Person hoch zu dem Fenster, an dem Darry hing. „Da ist jemand am Fenster“, sagte er grimmig. Daraufhin ließ Darry das Fensterbrett los, natürlich viel zu spät, aber es war eine Art Reflex gewesen. Darry landete hart auf der Erde. Er richtete sich auf und rieb sich den Hinterkopf, den er sich beim Sturz gestoßen hatte. Plötzlich hörte er Lärm aus der Schmiede und einen überraschten Schrei. Er stand wieder vom Boden auf, als er sich plötzlich Helios gegenübersah. „Helios, wo warst du die ganze Zeit?“, fragte Darry seinen Freund. „Komm schnell! Dieser Fremde stürzt sich gerade auf deinen Vater. Es sieht nicht gut aus“, sagte Helios aufgeregt, ohne etwas auf Darrys Frage zu antworten. Helios musste nicht weiter sprechen. Darry hetzte hinter der Schmiede hervor. Er war zu spät. Er sah gerade noch, wie sein Vater über Lobastors Drachen geworfen wurde. Er war ohnmächtig, das erkannte er sofort. Dunkelrotes Blut lief ihm über die Stirn. Lobastor kletterte, ohne auch nur ein Wort an die Dorfbewohner zu verlieren, auf seinen Drachen und flog davon. Es dauerte nicht lange, dann war der Drache am dunkelblauen Himmel nur noch als verwaschener, kleiner Fleck zu erkennen.
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