1. Serena
»Huhu Serena«, erklingt eine vertraute Stimme.
Ich zucke zusammen und drehe mich um, dann entdecke ich meine beste Freundin Isabell. Sie eilt über die Straße auf mich zu. Ihr Haar weht im Wind. Die meisten Leute, speziell die Männer, schauen ihr nach. Sie hat eine lange blonde Mähne und blaue Augen. Isi ist bildschön und besitzt eine fantastische Figur. Sie kann essen, was sie will, ohne ein Gramm zuzunehmen. Im Gegensatz zu mir.
Ich brauche Essen nur anzuschauen und schon sind meine Hüften stärker gepolstert. Und umso mehr ich zunehme, desto frustrierter werde ich. Aus Frust stopfe ich immer mehr in mich hinein. Es ist ein Teufelskreis, aus dem ich mich einfach nicht befreien kann. So oft habe ich es mit Diäten versucht und sogar mit Sport angefangen. Leider hielt ich nie lange durch. Sobald die Zahl auf der Waage stillsteht, kehrt die Frustration zurück und ich erhöhe die Kalorienzufuhr.
Wenn es wenigstens nur bei einem Stück Schokolade bleiben würde, aber bei mir muss es immer die ganze Tafel sein. Anschließend fühle ich mich mies, der Heißhunger ist noch da und ich stopfe weiterhin sinnlos Essen in mich hinein. Mit jedem Bissen sinkt meine Hemmschwelle. Erst, wenn ich kurz davor bin, mich zu übergeben, höre ich auf. Bis zu diesem Punkt dauert es bei mir inzwischen viel zu lange. An manchen Tagen nehme ich den Kalorienbedarf von einer Woche zu mir. Am nächsten Tag kommt die Reue. Sie ist so groß, dass ich mich kaum auf die Waage traue. Falls ich es schaffe, mich zu überwinden, fasse ich jedes Mal den Entschluss, nun endlich mit der Fresserei aufzuhören und eine Diät anzufangen. Nach spätestens drei Tagen geht alles wieder von vorne los. Das ist schon seit meinem 16. Lebensjahr so. Vorher war ich auch nie schlank, aber es war mir herzlich egal. Erst, als mein Interesse für Jungs da war, fing ich zwangsläufig an, mich mit meinem Gewicht zu befassen. Obwohl es so oder so hoffnungslos war. Grundsätzlich verliebte ich mich nur in die Typen, die sich für solche Mädchen wie Isi interessierten.
Inzwischen bin ich 33 Jahre alt und hatte noch nie einen Freund. Ich bin tatsächlich noch Jungfrau. Und ja, es ist mir peinlich, aber die Dinge sind, wie sie sind. Ich kann es nicht ändern. Andere Frauen in meinem Alter haben längst eine Familie gegründet. Für mich wird es immer ein Traum bleiben. Dabei wollte ich seit ich denken kann mindestens zwei Kinder bekommen.
Isabell hat auch noch keine Familie, aber sie ist näher dran. Immerhin hat sie schon den passenden Mann. Sie ist seit drei Jahren mit Alex zusammen. Die beiden wollen zusammenziehen und befinden sich zurzeit auf Wohnungssuche. Das scheint sich schwierig zu gestalten. Entweder sind die Wohnungen viel zu teuer oder sie gefallen einem von ihnen nicht.
Isi würde es ja am besten finden, wenn Alex bei ihr einzöge. Das Problem ist nur, ihre Wohnung ist eindeutig zu klein. Für Alex würde der Platz noch reichen, aber er könnte nichts von seinen Sachen mitbringen. Selbst für Isis Kram wird es allmählich eng. Die Wohnung von Alex ist zwar ein bisschen größer, für die beiden dennoch zu klein und sie gefällt meiner Freundin nicht. Das Schlimmste für sie ist, dass es keinen Balkon gibt. Das Bad ist ihr auch viel zu winzig. Isabell kämpft eben immer mit ihren Luxusproblemen. Diese Probleme hätte ich nur allzu gern. Das würde bedeuten, ich hätte jemanden an meiner Seite, der mich liebt.
Manchmal bin ich total neidisch auf Isi, aber ich gönne ihr von ganzem Herzen ihr Glück. Sie ist seit der ersten Klasse meine beste Freundin. In all den Jahren hat sie immer zu mir gehalten. Allerdings ist sie sehr direkt. Das kann ziemlich wehtun, besonders wenn es um mein Gewichtsproblem geht. Sie hat mir oft versucht zu helfen, doch ich blocke grundsätzlich alles ab, was mit Essen und Sport zu tun hat. Diese Kämpfe trage ich lieber heimlich aus.
Ihren Verkupplungsaktionen versuche ich genauso, auszuweichen. Isabell verschaffte mir mehrere Dates mit irgendwelchen Typen, auf die ich gerne verzichtet hätte. Keiner von ihnen interessierte sich je für mich. Sie glaubten wohl, ich würde so aussehen wie Isi und waren am Ende umso mehr enttäuscht, als sie mich sahen.
»Wartest du schon lange?«, fragt Isabell. Als sie den Kuchen vor mir sieht, nickt sie und gibt sich dadurch selbst die Antwort.
Ich lächle verlegen und schaufle mir ein weiteres Stück Schokoladenkuchen in den Mund. Schließlich war das Treffen im Straßencafé ihre Idee.
»Ich habe mich so beeilt, aber Alex kam zu spät zur Wohnungsbesichtigung und deshalb hat sich alles nach hinten verschoben. Du weißt ja, wie wichtig es für uns ist, endlich eine Wohnung zu finden.«
»Und? War es dieses Mal eure Traumwohnung?«, frage ich mit vollem Mund.
»Oh nein, ganz sicher nicht. Das Bad hat die Größe einer Abstellkammer. Es ist noch kleiner als das von Alex. Bis zu der Besichtigung hatte ich keine Ahnung, dass dies möglich ist.« Sie zwinkert mir zu.
Ich nicke nur. Was soll ich auch dazu sagen? Ich frage mich, ob die beiden es jemals schaffen werden, zusammenzuziehen. Mir kam schon der Gedanke, Isi könnte vielleicht noch nicht bereit dazu sein. Und ihr Unterbewusstsein teilt ihr das mit, indem ihr keine der Wohnungen gefällt. Ich weiß, das klingt total verrückt. Deshalb habe ich mich bisher nicht getraut, es ihr zu sagen. Mit jeder abgelehnten Wohnung wird die Versuchung größer, meine Vermutung laut auszusprechen. Da ich meine Freundin lange genug kenne, weiß ich, sie würde ausrasten. Das ist die einzige Motivation, meine Klappe zu halten. Im Streit fällt es mir besonders schwer, mich in Zurückhaltung zu üben.
»Einen Kaffee und einen kleinen Erdbeereisbecher ohne Sahne, bitte«, ruft Isi der Kellnerin zu. »Und du isst heute schon wieder Kuchen«, stellt sie überflüssigerweise fest und rümpft die Nase.
»Irgendein Laster braucht der Mensch schließlich«, verteidige ich mich.
»Aber doch keinen Kuchen!« Ihre Mundwinkel zucken. »Warum versuchst du es nicht mal mit Sport oder noch besser mit Sex? Das macht Spaß und ist garantiert kalorienfrei.« Sie prustet los.
Ich verdrehe die Augen. Als ob Isabell nicht wüsste, wie sehr ich Sport hasse. Und auch, dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters noch Jungfrau bin, ist ihr bekannt. Sie ist eine der wenigen, mit der ich dieses Geheimnis teile.
Sie lächelt mich liebevoll an. »Keine Sorge, auch für dich finden wir den passenden Deckel. In unserer Firma hat übrigens ein neuer Typ angefangen und er ist noch Single.« Isi zwinkert mir verschwörerisch zu. »Wollen wir nicht mal etwas zu viert …«
»Nein!«, protestiere ich energisch, bevor Isabell den Gedanken ausgesprochen hat. Ich weiß genau, worauf das hinauslaufen soll. Sie ist dabei einen neuen Verkupplungsversuch zu starten. »Du weißt, wie sehr ich das hasse. Ich muss alleine jemanden finden«, füge ich etwas freundlicher hinzu.
Die Kellnerin stellt wortlos den Kaffee und den Eisbecher ab und will gerade wieder verschwinden. »Ich hätte gern noch ein Stück«, sage ich hastig und deute auf meinen Teller.
Die Kellnerin lächelt mich an, aber es ist nur aufgesetzt. Schließlich muss sie zu allen Gästen freundlich sein. Ich weiß genau, was sie denkt. Es ist immer das Gleiche. Wenn sie könnte, würde sie mir sagen, dass ich fette Trulla nicht noch mehr fressen soll, weil ich meine Situation damit nur verschlimmere. Als ob ich das nicht selber wüsste.
Statt diese Worte laut auszusprechen, nickt sie nur und verschwindet.
Isi schaut mich streng an, sagt aber keinen Ton. Stattdessen löffelt sie ihre winzige Portion Eis.
Wir schweigen uns an.
Dann kommt die Kellnerin mit meinem Kuchen und stellt ihn wortlos vor mir ab. Dabei mustert sie mich mit einem frechen Grinsen.
»Wie willst du jemanden kennenlernen?«, fragt Isi, als wir wieder alleine sind.
»Keine Ahnung. Durch einen Zufall halt.«
»Aha. Und wie genau soll das gehen? Du verlässt das Haus doch nur, wenn ich dich dazu zwinge.«
»Jetzt übertreibst du aber!«, widerspreche ich.
»Stimmt, ich vergaß. Wenn es etwas zu essen gibt, kommst du freiwillig mit.«
Treffer versenkt.
Isabell hat keine Ahnung, was sie mit ihren Worten bei mir anrichtet. Sie bringt mich erst recht dazu, Trost im Essen zu suchen. Diese Seite finde ich an meiner Freundin abscheulich.
Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu verbergen. Mir schießen die Tränen in die Augen, mein Blick wird immer verschwommener. Tröstend schaufele ich den Kuchen im Eiltempo in mich hinein. Wenig später ist mein Teller leer.
Am liebsten würde ich mir ein weiteres Stück ordern, aber ich sehe schon die Blicke der Kellnerin und höre Isabell einen ihrer dummen Sprüche aufsagen. Das kann ich jetzt nicht ertragen. Also verkneife ich es mir. Sobald ich zu Hause bin, werde ich mich am Kühlschrank zu schaffen machen und es nachholen.
»Mensch Serena, ich meine es doch nicht böse. Ich will nur, dass du endlich glücklich bist. Diese ganze Fresserei macht dich nur unglücklich. Lass uns zusammen ins Fitnesscenter gehen und einen Anfang für dein neues Leben machen. Nebenbei erstellen wir dir gleich einen Ernährungsplan. Weißt du was? Der Cousin von Alex ist Ernährungsberater. Du solltest dich mit ihm zusammensetzen.« Während Isabell ihren kleinen Vortrag hält, tätschelt sie meine Hand.
Ich schlucke und verdrehe gedanklich die Augen. In der Vergangenheit hat sie mir unzählige solcher Vorschläge unterbreitet. Bisher konnte ich alles abblocken, aber irgendwas sagt mir, dass sie sich dieses Mal nicht abwimmeln lässt. Sie scheint es todernst zu meinen. Einen Experten hinzuzuziehen, hat sie noch nie vorgeschlagen. Mich würde es kaum wundern, wenn sie mit ihm schon etwas ausgemacht hätte. »Das ist nicht nötig!«, versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen.
»Natürlich ist es das! Morgen mache ich einen Termin bei ihm. Wir gehen zusammen da hin! Es wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht an den Mann bringen könnten. Mit einem bisschen Tuning laufen dir die Kerle bald scharrenweise hinterher.
»Isi, bitte lass es gut sein! Es bringt sowieso nichts!«
Statt zu antworten, grinst Isabell mich an. Ich kenne dieses Grinsen genau. Es bedeutet, sie hat sich längst entschieden. Egal, was ich jetzt noch sage, ich habe keine Chance. Ich kann mir die Mühe sparen, ihr zu widersprechen.
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und hoffe insgeheim auf eine Gelegenheit, um aus der Nummer rauszukommen.
2. Isabell
Sie schließt die Wohnungstür auf und betritt den Flur. »Schatz, bist du da?«, ruft sie in seine Wohnung hinein. Wenig später erscheint ein verschlafener Alex. »Ja«, kommt die kurze Antwort gebrummt.
»Wie siehst du denn aus?«
»Ich habe geschlafen«, murmelt Alex kaum verständlich.
»Jetzt?« Isabell klingt empört.
»Ja, warum? Ist das verboten? Ich war total kaputt«, rechtfertigt er sich.
Isabell schnauft. Sie atmet tief durch. »Können wir Kasper anrufen?«
Alex schaut seine Freundin fragend an. Er wartet auf weitere Informationen. Als sie nichts mehr sagt, fragt er: »Warum?«
»Wegen Serena«, antwortet sie, als würde das alles erklären.
Alex reißt die Augen auf. »Und?«
»Langsam muss mal was bei ihr passieren. Wenn sie nicht bald die Kurve bekommt, frisst sie sich irgendwann tot. Kasper muss sie beraten.«
»Isabell!«, sagt Alex schockiert. »Ich dachte, Serena ist eine Freundin …«
»Ist sie ja auch, was meinst du, warum ich mir so viele Gedanken über sie mache?«
»Und dann sprichst du so über sie?« Alex atmet scharf ein. »Redest du von mir auch so, wenn ich nicht da bin?«
»Nein, aber du weißt doch, dass ich es nicht böse meine«, besänftigt sie ihn und gibt ihm einen schnellen Kuss auf den Mund.
»Weiß Serena darüber Bescheid oder ist das wieder so eine Aktion hinter ihrem Rücken?«
Isabell funkelt ihren Freund böse an. »Was glaubst du denn? Natürlich weiß sie Bescheid! Ich habe es ihr vorhin erzählt.«
»Hast du es ihr nur gesagt oder sie gefragt?« Alex grinst.
Isabell verzieht den Mund zu einer schmalen Linie.
»Also ist sie einverstanden?«, hakt er nach.
»Natürlich«, säuselt sie lächelnd.
Alex schaut sie misstrauisch an. In seinem Blick sind Zweifel zu erkennen. Er kennt seine Freundin gut genug, um nicht weiter auf der Sache herumzureiten. Isabell geht schnell an die Decke, wenn sie ihren Willen nicht bekommt.
Obwohl Alex Serena mag und er es kaum mit ansehen kann, wie sie wegen ihres Gewichts permanent behandelt wird, ist er zu erschöpft, um sich ihretwegen jetzt mit seiner Freundin anzulegen. »Na schön«, sagt er. »Aber ich kann Kasper erst übermorgen anrufen.«
Isabell schürzt die Lippen. »Warum?«
»Kasper ist bei einer Fortbildung. Er macht neuerdings nämlich auch Personal…« Alex bricht mitten im Satz ab, als ihm bewusst wird, was diese Information für Isabell bedeutet. Sie wird Serena nicht nur einen Termin zur Ernährungsberatung machen, sie wird ihre Freundin direkt zum Training anmelden.
»Das ist ja interessant und kommt genau zur richtigen Zeit. Dann kann Serena gleich mit ihm trainieren.«
Alex verzieht den Mund. Innerlich bittet er Serena um Verzeihung für das, was auf sie zukommen wird. Andererseits hätte Isi die Information auch direkt von seinem Cousin bekommen können. »Ja, vielleicht. Du solltest das vorher mit Serena absprechen. Es ist nicht gut, sie so zu überrumpeln«, gibt er zu bedenken.
Isabell nickt. Ihr Gesichtsausdruck sagt das Gegenteil. Sie hält sich mit ihren wahren Gedanken zurück, da sie weiß, was Alex von ihren Einmischungen hält. Würde sie mit Serena darüber sprechen, hätte sie Ausreden parat, um dem Training zu entkommen. Das kann Isabell nicht zulassen. Aus Erfahrung hat sie gelernt, dass es besser ist, ihre Freundin vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie ist sicher, Serena ist ihr tief in ihrem Inneren dankbar dafür.
Sie muss endlich etwas tun. Viel zu lange hat sie sich Zeit gelassen. Serena ist einer der liebsten Menschen, die sie kennt. Sie hat ein großes Herz und ist immer für andere da. Leider wird sie dadurch ausgenutzt. Wenn es um sich selber geht, steckt Serena ständig zurück und strengt sich kaum an. Dabei hat sie so ein schönes Gesicht. Sie könnte mehr aus sich machen und die Männer würden ihr zu Füßen liegen.
Ihr Gewichtsproblem stellt nicht das einzige Hindernis dar. Serena könnte sich auch ein bisschen hübscher stylen. Solange Isabell sie kennt, trägt Serena diesen komischen Topfschnitt. Früher hat sie ihn von ihrer Mutter verpasst bekommen und nun sorgt eine ältere Friseurin, die sich auf Omafrisuren spezialisiert hat, dafür, dass Serenas Haar so unvorteilhaft aussieht. Isabell versteht nicht, warum ihre Freundin nicht einfach den Friseur wechselt. Jeder, der in den Laden geht, kommt entweder mit einem Topfschnitt oder mit dauergewellten Haar wieder raus. Es ist beinahe so, als würde es in dem Salon nur die beiden Frisuren zur Auswahl geben. Die Friseurin steht kurz vor der Rente, sie wird sich jetzt keine neuen Fertigkeiten mehr aneignen. Sie wird bis zum Schluss an ihrem jetzigen Stil festhalten. Isabell ist der Meinung, sie könnte neunundneunzig Prozent der Kunden aus diesem Laden selbigem zuordnen.
Isabell ist fest entschlossen, ihre Freundin nicht nur bei ihrem Figurproblem behilflich zu sein. Sie wird ihr auch einen Friseurbesuch bei ihrer eigenen Friseurin schmackhaft machen, mit ihr shoppen gehen und ihr beibringen, sich richtig zu schminken.
Sie kann sich nicht erinnern, ihre Freundin jemals mit Make-up gesehen zu haben. Es mag schon sein, dass es Männer gibt, die auf den natürlichen Typ Frau stehen, das bedeutet aber nicht den kompletten Verzicht auf Kosmetikprodukte. So weit Isabell weiß, besitzt Serena nur einen Lippenstift, den sie zu besonderen Anlässen trägt. Diese wenigen Male im Jahr kann sie an einer Hand abzählen.
Isabell sieht die neue Serena bereits vor sich. Sie weiß, wie viel Arbeit vor ihr liegt, bis es so weit ist. Aber die Mühen werden sich lohnen.
3. Serena
»Oh Gott, diese Windbeutel sind einfach himmlisch«, sage ich zu mir selber, als ich gerade in den Dritten hineingebissen habe.
Heute ist wieder einer dieser fiesen Tage, an denen ich unbedingt für einen erhöhten Zuckergehalt sorgen muss. Im Laden hatte ich nur nörgelnde Kundschaft und mein Chef war alles andere als hilfreich. Manchmal macht er den Eindruck, als wäre er ein Zuschauer und nicht der Inhaber.
Ich arbeite mittlerweile seit drei Jahren in dem Schuhladen. Eigentlich macht mir der Job Spaß, aber nur, solange ich es mit normalen Menschen zu tun habe. Leider verirren sich diese selten zu uns in den Laden. Unsere Kundschaft besteht aus Tussis, die ganz ohne Essen auszukommen scheinen. Sie sind teilweise so dünn, dass es sicher nicht mehr gesund sein kann. Als ob ihr Anblick mir nicht reichen würde, mustern mich diese Frauen von oben bis unten und rümpfen dabei ihre Nasen. Wenn sie mir anschließend ins Gesicht schauen, sind sie im Besitz eines unnatürlichen Lächelns. Umso weiter ihre Augen an mir heruntergleiten, desto mehr verblasst es, als ob ihr Gesichtsausdruck unsichtbar werden würde.
Sobald sie meinen zugegeben sehr üppigen Bauch erreichen, nehme ich die ersten Regungen wahr, zumindest bei denen, die noch im Besitz einer Mimik sind. In letzter Zeit tauchen häufiger Frauen auf, die sich mit Botox vollpumpen lassen haben. Bei den Damen bin ich mir nie sicher, wie ihre Gefühlslage gerade ist. Ihre Gesichtszüge bewegen sich keinen Millimeter.
Der zweite Halt bei den Musterungen sind meine breiten Oberschenkel. Darum trage ich meist weite Hosen und Pullover in Überlänge. Isi bezeichnet sie immer als Säcke, aber bei meinem Gewicht kann ich mich wohl kaum figurbetont kleiden. Ich habe es ein Mal versucht. Anschließend hatte ich die Vorstellung davon, wie sich eine Wurst in ihrer Pelle fühlt. Es war unangenehm, deshalb ziehe ich die weiten Sachen vor.
Ich will mir gerade den vierten Windbeutel schnappen, als es an der Tür klingelt. Stöhnend erhebe ich mich, gehe in den Flur und schaue durch den Türspion meiner Wohnungstür.
Oh Mist!, denke ich, als ich Isabell sehe. Ich hätte die Windbeutel verstecken sollen.
Noch bevor sie die süßen Köstlichkeiten gesehen hat, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf, die mir eine Moralpredigt hält. Für einen Sekundenbruchteil überlege ich so zu tun, als wäre ich nicht zu Hause, aber dann besinne ich mich eines Besseren.
Ich habe es nicht nötig, mich in meiner eigenen Wohnung zu verleumden. Außerdem weiß jeder, der Isabell kennt, wie hartnäckig sie sein kann. Sie würde die nächste halbe Stunde damit verbringen, abwechselnd zu klingeln und gegen die Tür zu hämmern. Danach würde sie sich dem Telefonterror hingeben. Da ich ihr in spätestens einer Stunde sowieso genervt öffnen werde, kann ich es auch gleich tun.
»Waren wir verabredet?«, platzt es aus mir heraus, als Isabell an mir vorbei in meine Wohnung stürmt.
Sie läuft schnurstracks in die Küche, lässt sich auf einen der Küchenstühle fallen und starrt auf die restlichen Windbeutel. »Ist das dein Ernst?«, fragt sie mich schockiert. Ihre Augen sind so groß, dass es ein wenig beängstigend wirkt.
»Äh, ich …«, stammle ich.
»Ich denke, du willst abnehmen?«, stichelt sie weiter.
»Wozu? Ich schaffe es doch sowieso nicht, also kann ich auch essen. Hör endlich auf, dich einzumischen!«, gifte ich los. Meine Stimme wird immer lauter.
»Du bist meine Freundin. Ich kann nicht aufhören, mich einzumischen. Deshalb habe ich eine Überraschung für dich.« Isi setzt ein schiefes Lächeln auf.
Mir schwant Böses. »Was für eine Überraschung?«, antworte ich und verdrehe die Augen. »Du weißt, wie sehr ich Überraschungen hasse, oder?«
»Wir fahren jetzt zu Kasper, er wird dir helfen.«
»Was soll ich denn im Kaspertheater?«, frage ich gestellt dumm. Ich weiß, wen sie damit meint. Alex` Cousin heißt so. Er hat ihn irgendwann mal erwähnt und mir verraten, wie lange sie keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Deswegen bin ich verwundert, warum er nun eine Rolle spielt.
Wann haben sich die beiden wiedergetroffen? Und warum?
»Serena! Sei nicht albern! Wir fahren zu Kasper. Er ist Ernährungsberater und macht neuerdings auch Personaltraining.«
»Und was machen wir da?«, frage ich trotzig und verschränke meine Arme vor der Brust.
»Du lernst ihn kennen und er berät …«
»Sag mir nicht, du hast mir einen Termin bei dem gemacht?«, schreie ich meine Freundin an.
»Doch, natürlich! Wir gehen deinen Kilos jetzt an den Kragen«, beschließt Isabell mit fester Stimme.
»Meine Kilos bleiben da, wo sie sind! Kümmere dich um deine Eigenen. Wenn du unbedingt Kilos loswerden willst, dann friss dir selber welche an!« Meine Stimme klingt kratzig.
»Serena, Süße. Ich meine es doch nur gut mit dir. du sollst endlich glücklich werden. Du willst doch irgendwann einen Mann kennenlernen, dem du deine Jungfräulichkeit schenken kannst.« Isi schaut mich mitleidig an.
Ich muss schlucken. »I-Ich … W-Wer sagt denn, dass ich das will?« Ich atme hörbar aus. »Außerdem kann ich keinen Mann gebrauchen, der mich nur nimmt, weil ich Modelmaße habe. Ich möchte einen, der mich liebt, weil ich bin, wie ich bin«, argumentiere ich.
»Ja, ich verstehe dich ja, aber du weißt doch, wie entscheidend der erste Eindruck ist. Er ist ausschlaggebend, ob man jemanden anspricht oder nicht.«
»Wie auch immer. Ich bleibe dabei! Du kannst alleine zu diesem Kasperletheater gehen.« Bei dem Wortspiel muss ich mir das Grinsen verkneifen. »Ich werde weder meine Ernährung umstellen, noch mich abquälen, nur damit ich irgendeinem Typen gefalle. Lieber bleibe ich Single. Und weißt du was?« Ich rede mich so richtig in Rage.
Isabell schaut mich mit großen Augen an.
Ich greife mir einen Windbeutel, führe ihn zu meinem Mund und stoppe kurz vorher. »Ich werde diese leckeren Teile jetzt alle in mich hineinstopfen und du kannst nichts dagegen tun.« Genüsslich beiße ich ein Stück von dem Gebäck ab. »Mmh, die sind so gut.«
Bevor ich einen weiteren Bissen nehmen kann, reißt Isabell meine Hand runter und der Windbeutel landet auf dem Fußboden.
»Was soll der Mist?«, schreie ich sie an.
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mich zufrieden an.
Mein Blick fällt auf die restlichen Teilchen, die noch auf dem Tisch liegen.
Isabell verfolgt meinen Blick. Eh ich mich versehe, greift sie sich die Packung. »Die brauchst du jetzt nicht mehr!« Mit den Worten versenkt sie die Kalorienbomben im Mülleimer.
»Ey, du kannst die doch nicht so einfach wegwerfen, die haben Geld gekostet. Und zwar mein Geld.«
»Serena, hör endlich auf! Sei froh, dass ich dich von den überflüssigen Kalorien befreit habe. Statt das Geld in so einen Mist zu investieren, wirst du es bald für neue Klamotten brauchen. Wenn wir erst mal mit dir fertig …«
»Du bist so gemein!«, schreie ich Isabell an. Ich spüre, wie meine Augen langsam feucht werden. Noch bevor ich etwas unternehmen kann, laufen mir die Tränen an den Wangen hinunter.
Ich halte mir die Hände vor das Gesicht und schluchze hinein.
Als mir die Flüssigkeit ungehalten aus den Augen und aus der Nase läuft, stehe ich auf und renne ins Badezimmer. Damit Isabell mir nicht folgen kann, schließe ich mich ein.
Traurig setze ich mich auf den Badewannenrand, greife nach der Rolle Toilettenpapier und reiße mir etwas davon ab, um mir die Nase zu putzen.
Als ich fertig bin, halte ich mir erneut die Hände vors Gesicht und lasse einen weiteren Heulkrampf über mich ergehen.
Ein Kratzen an der Tür lässt mich zusammenfahren. »Perry!«, flüstere ich und haste zur Tür, um sie zu öffnen.
Als die Tür nur einen Spalt auf ist, stürmt mein Kater hinein.
Aus der Küche sind Schritte zuhören. Sie kommen näher.
Ich schließe die Tür und drehe den Schlüssel wieder herum. Dann setze ich mich auf den Fußboden und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wanne. Mein graues Schmusetier nutzt die Gelegenheit und reibt schnurrend seinen Körper an mir. Ich streichle ihn und spüre, wie ich langsam ruhiger werde.
»Serena, mach auf!«, höre ich Isabell auf der anderen Seite der Tür krakeelen, nachdem sie mehrfach erfolglos versucht hat, die Tür zu öffnen. »Serena, ich will doch nur dein Bestes. Ich möchte dich glücklich sehen. Verdammt noch mal, mach jetzt auf!« Ihre Stimme wird lauter und höher. Sie klingt verzweifelt.
Ich hadere mit mir, ob ich ihr aufmachen soll.
Isabell stöhnt frustriert auf. »Komm schon, Süße! Lass uns zu Kasper gehen und schauen, was er dir empfiehlt! Falls es dir nicht gefallen sollte, dann belassen wir es bei dem einen Termin.«
Schön wär`s.
Ich kenne Isabell gut genug, um zu wissen, dass dieses Versprechen keine lange Haltbarkeitsdauer hat. »Von wegen«, nuschele ich.
»Na ja, vielleicht gefällt es dir auch.«
»Bestimmt nicht! Es wird mir mit Sicherheit keinen Spaß machen. Also kann ich es gleich bleiben lassen.«
»Süße, lass uns in Ruhe reden, aber nicht so! Wenn eine Tür zwischen uns ist und ich dich nicht sehen kann, ist es irgendwie dämlich.«
Genau! So kannst du mich nicht weichklopfen, weil mir dein Hundeblick erspart bleibt.
Ich grinse in mich hinein. Dennoch erhebe ich mich und gehe zur Tür. Dort nehme ich den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger und harre so aus. Einerseits möchte ich mich mit Isabell versöhnen, weil ich es furchtbar finde, wenn wir uns streiten. Andererseits weiß ich, sie wird nicht eher Ruhe geben, bis sie ihren Willen durchgesetzt hat. Sie wird mich auch dieses Mal so lange bequatschen, bis ich nachgegeben habe. Das ist so, seit wir uns kennen. Manchmal hasse ich sie dafür, obwohl ich sie liebe, als wäre sie meine Schwester.
Isis Hartnäckigkeit hat mir schon immer imponiert, jedoch nur so lange, wie ich nicht davon betroffen bin. Sobald sie mich im Visier hat, hört der Spaß auf.
»Na schön«, murmle ich. »Ich mache dir auf, aber nur unter einer Bedingung.«
»Gut«, kommt ihre Bestätigung viel zu schnell.
»Du weißt doch noch gar nicht, was ich will, wie kannst du also sofort zustimmen? Das bedeutet nur, dir ist egal, was ich möchte. Am Ende setzt du dich wieder durch, stimmt`s?«
»Nein, quatsch! Ich habe nur so schnell zugestimmt, weil ich so ziemlich alles dafür tun würde, damit du nicht mehr sauer auf mich bist. Also, was ist deine Bedingung?«
Ich atme tief durch. »Versprich mir, mich nach dem Termin mit allem, was mein Gewicht betrifft, in Ruhe zu lassen! Ich werde alleine entscheiden, ob ich danach weiter zu diesem Kasper gehe oder mich so akzeptiere, wie ich bin.«
»Ja«, kommt Isabells stöhnende Antwort.
»Ich meine es ernst, versprich es mir!«
»Serena …«
»Nein, nicht Serena! Du versuchst schon seit Jahren, mich zum Abnehmen zu zwingen. Wenn du es mir jetzt nicht versprichst und du dich nicht daran hältst, muss ich über den Sinn unserer Freundschaft nachdenken. Also überlege dir gut, ob du mir dieses Versprechen geben kannst!« Mein Herz hämmert lautstark in meiner Brust. Noch nie habe ich Isi ein solches Ultimatum gestellt. Ich hoffe, sie respektiert meinen Wunsch. Ohne sie wäre mein Leben leer und einsam.
Auf der anderen Seite der Tür herrscht Stille.
Mir schnürt sich die Kehle zu. Ich vermute, Isabell kann nicht über ihren Schatten springen.
Doch dann überrascht sie mich. »Gut.« Sie atmet laut aus. »Ich verspreche dir, dich mit dem Thema Diät in Ruhe zu lassen. Wenn du nach dem Termin nicht weitermachen möchtest, werde ich dich in Ruhe lassen.« Ihre Stimme klingt ernst.
Insgeheim habe ich Zweifel. Mich würde es nicht wundern, wenn sie mit überkreuzten Fingern hinter der Tür steht und sich nur so lange daran hält, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Es ist schwer vorstellbar, dass Isabell sich meinem Willen beugt.
Jeder Tag, an dem du deine Ruhe hast, ist viel wert, ertönt meine innere Stimme. Ich gebe ihr recht und atme erleichtert auf.
Vielleicht hätte ich darauf bestehen sollen, den Termin bei diesem Kasper sausen zu lassen.
Ich drehe den Schlüssel herum. Bevor ich mich versehe, hat Isabell die Tür geöffnet und fällt mir um den Hals. »Es tut mir leid, Süße! Du hast ja recht. Es ist dein Leben, ich sollte mich nicht immer einmischen.« Ihre Worte überschlagen sich.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Perry davonläuft, und muss schmunzeln.
***
»Jetzt rase doch nicht so!«, ermahne ich Isabell, die mit ihrem kleinen silbernen Flitzer fährt, als ginge es um Leben und Tod. Na ja, in gewisser Weise tut es das auch. Es geht darum, lebend unser Ziel zu erreichen. Wobei es mir recht wäre, nie bei diesem Kasper anzukommen, aber sterben möchte ich deshalb nicht. Insgeheim hoffe ich auf eine Panne, die ausreichend lange dauert, um den Termin abzusagen. Anschließend würde ich keinen Neuen vereinbaren. Sollte Isi auf die Idee kommen, müsste ich sie einfach an ihr Versprechen erinnern.
Isabell reagiert nicht. Sie fährt weiterhin so, als wäre der Leibhaftige hinter uns her.
Ich halte mich ängstlich am Türgriff fest und bete innerlich, dass alles gut gehen möge.
Nach zehn Minuten Fahrzeit wird unsere Geschwindigkeit langsamer. Kurz darauf hält Isabell am Stadtrand vor einem Einfamilienhaus. Ich schaue mich um. »Hier soll das sein?«, frage ich skeptisch.
»Ja, Kasper wohnt hier in der oberen Etage. Unten wohnen seine Eltern. Das hat mir Alex gesagt.«
»Also warst du noch nie hier?«
»Nein, Alex und ich sind aber schon ein paar Mal vorbei gefahren. Jedes Mal hat er mir von seinem Cousin erzählt. Die beiden hatten in den letzten Jahren keinen Kontakt, weil sie wegen einer Kleinigkeit im Streit lagen. Was es genau war, hat mir Alex nicht gesagt. Das war bestimmt irgendeine bescheuerte Lappalie.«
»Aha. Und hier empfängt dieser Kasper seine Kunden?«, frage ich ungläubig.
»Meistens fährt er wohl zu ihnen. Zu sich nach Hause bestellt er nur Freunde und Bekannte.«
»Okay, ich verstehe.«
»Bist du bereit?«
Am liebsten möchte ich ganz laut Nein schreien, aber ich verkneife es mir. Die Aussicht, Isabell könnte mich nach diesem Termin mit allem in Ruhe lassen, was mit meiner Figur zu tun hat, motiviert mich.
Mir ist bereits klar, dass ich diesen Kasper nach diesem Treffen nie wieder sehen muss, höchstens auf der Hochzeit von Isi und Alex, aber bis dahin ist es noch eine Ewigkeit hin.
Isabell steigt aus. Ich atme ein letztes Mal tief durch, eh ich es ihr gleich tue. Gemeinsam gehen wir zu der Haustür. Bevor ich etwas sagen kann, hat Isi schon die Klingel betätigt. Die Chance, abzuhauen ist vertan.
Als ich Schritte im Inneren des Hauses vernehme, bleibt mir für einen Moment die Luft weg.
Die Tür geht auf. Vor uns taucht ein sportlicher Typ auf. Mir fallen sofort seine strahlend grünen Augen auf.
»Hi, ich bin Kasper«, stellt er sich vor. »Du musst Isabell sein«, sagt er, während er meiner Freundin eine Hand hinhält.
Isi nickt. »Genau.«
Kaspers Augen blitzen auf. Er schaut meine Freundin einen Moment zu lange an, bevor er sich mir zuwendet. »Dann bist du …«
»Das ist meine Freundin Serena. Um sie geht es heute«, wird er von Isabell unterbrochen.
Ich starre sie an, unfähig etwas zu sagen.
Fast wäre mir Kaspers Hand entgangen, die er mir entgegenhält. »Freut mich«, sagt er, als ich sie ergreife.
»M-Mich a-auch«, antworte ich leise. Obwohl ich es nicht schaffe, ihm ins Gesicht zu schauen, spüre ich seine mitleidigen Blicke auf meinem Körper. Mit so jemandem wie mir hat er bestimmt nicht gerechnet. Ihm wäre eine Kundin wie Isabell lieber gewesen. Sie hat er richtig herzlich angelächelt. Während seine Mundwinkel sich bei mir nur aus Höflichkeit verzogen, sein Lächeln reichte nicht bis zu den Augen, als er mich anschaute.
Wenn er gewusst hätte, dass ich seine Kundin bin, hätte er sich wohl kaum auf den Termin eingelassen. Vielleicht hat er Alex auch nur einen Gefallen getan.
Seine Kunden sehen sonst sicher anders aus. Ich wette, die meisten haben bereits eine tadellose Figur und besitzen Problemzonen, die von niemandem wahrgenommen werden.
Menschen mit meiner Figur gehen eher selten zu einem Personaltrainer. Ohne Isi würde ich es mir auch verkneifen. Es ist Zeitverschwendung, eine Verschwendung meiner Lebenszeit, die ich anders nutzen könnte.
»Kommt rein!«, sagt Kasper und tritt einen Schritt zur Seite.
Isabell betritt als erste das Haus. Ich folge ihr. Wir betreten einen schmalen Flur und warten vor einer Treppe am Ende, bis Kasper die Tür geschlossen hat, um uns vorauszugehen.
Er steigt die Stufen hinauf und führt uns in der oberen Etage in eine geräumige modern eingerichtete Wohnküche.
»Setzt euch!«, fordert er uns auf und deutet auf einen kleinen Küchentisch, an dem vier Stühle stehen.
Wir kommen seiner Aufforderung nach. Dann nimmt auch Kasper Platz, er setzt sich mir gegenüber und mustert mich. »Also Serena, du möchtest deine Ernährung umstellen«, stellt er nach einer Weile fest.
Obwohl von wollen keine Rede sein kann, nicke ich tapfer. Ich schaue zu Isi, die mir verschwörerisch zuzwinkert.
Kasper beginnt mit einem Vortrag über Nahrungsmittel. Er erzählt mir, welche Lebensmittel besonders gut für mich sind und welche ich weglassen soll.
Als ob ich das nicht wüsste.
In der Theorie kenne ich mich gut aus. Oft genug habe ich mich mit dem Thema Ernährung befasst. Die Male, wo ich etwas ändern wollte, kann ich nicht mehr zählen.
Mein Problem lag schon immer darin, das theoretische Wissen mit der Praxis in Einklang zu bringen. Und das Ganze dann durchzuhalten.
Kasper scheint sich nicht vorstellen zu können, dass es Menschen gibt, die sich bei Kummer mit Essen trösten. Er tut so, als würde er geheime Informationen mit mir teilen.
Sein Blick wechselt zwischen Isi und mir hin und her. Wenn ich mich nicht täusche, schaut er sie länger an als mich.
Ich höre nur noch mit einem Ohr zu. Sein Gerede langweilt mich. Immer wenn Kasper mich intensiver anschaut, nicke ich.
»Also gut, dann sehen wir uns morgen Abend zur ersten Trainingsstunde«, schließt er seinen Monolog.
Erneut nicke ich, bevor die Bedeutung der Worte in meinem Gehirn angekommen ist.
Was? Wie? Trainingsstunde? Wer hat das denn beschlossen?
»Morgen? Trainingsstunde?«, frage ich mit piepsender Stimme.
Kasper schaut mich irritiert an. »Ja, du hast doch gerade zugestimmt.«
Oh mein Gott, scheinbar habe ich genickt, als er mir den Vorschlag für das Training gemacht hat.
Verflucht Serena!, ermahne ich mich.
Ich bin nicht in der Lage zu sprechen. Stattdessen schaue ich zwischen ihm und Isi hin und her.
Isabells Blick ist warm. Sie nickt mir aufmunternd zu. »Schön, dass du dich für das Training entschieden hast.« Sie drückt meine Hand. »Nach unserem Gespräch vorhin hätte ich damit nicht gerechnet«, fügt sie flüsternd hinzu.
Ich schlucke. Noch immer finde ich keine Worte.
Wie komme ich jetzt aus der Nummer wieder raus?
»Kommst du?«, fragt Isabell. Sie und Kasper haben sich inzwischen erhoben und stehen neben mir. Mein Blick wechselt zwischen ihnen hin und her.
Kasper sieht ungeduldig aus, wahrscheinlich will er mich schleunigst loswerden.
Langsam erhebe ich mich und gehe den beiden hinterher.
Kasper bringt uns hinaus und verabschiedet sich hastig.
Isi und ich laufen wortlos zum Auto. Nachdem wir unsere Plätze eingenommen haben, finde ich meine Sprache wieder. »Ich will das nicht machen!«
»Du hast doch zugesagt. Und Kasper ist so ein Netter. Er wird dir helfen.«
»Er mag ja nett sein, wie er will. Trotzdem werde ich das Training absagen«, sage ich mit fester Stimme. »Am besten gehe ich zurück und teile ihm das gleich mit.« Ich lege meine Hand auf den Griff, um die Autotür zu öffnen, als Isabell Gas gibt.
»Hey, halt sofort an!«, schreie ich sie an.
Isabell grinst schief und fährt einfach weiter.
Ich koche vor Wut. »Halt verdammt noch mal an!«, versuche ich es erneut. Meine Stimme ist lauter als zuvor.
Als sie wieder nicht reagiert, ziehe ich trotzig die Handbremse. Bevor ich weiß, was geschieht, drehen wir uns ein paar Mal im Kreis.
Ich spüre Schwindel in mir aufsteigen, eh wir gegen einen Strommasten knallen. Mir wird auf einmal kotzübel. Ich schließe die Augen und werde dann wollständig von Schwärze umhüllt.
4. Isabell
Ihr gesamter Körper zuckt, als der Strom durch sie hindurchfließt. Die Augen sind verdreht und die Atmung ist hektisch. Dieser Zustand scheint ewig anzuhalten. Nach einer Weile lässt das Zittern nach und Isabell öffnet die Augen. Sie schaut sich um und wird panisch.
»Ich bin tot!«, schreit sie, als sie ihren eigenen Körper neben sich auf dem Fahrersitz entdeckt. Sie stupst ihn an. »Hey Isabell, wach auf! Du kannst jetzt nicht sterben!«, sagt sie wie in Trance.
Kurz darauf öffnen sich die Augen. »Gott sei Dank, du lebst«, stellt sie erleichtert fest. »Aber Moment! Wenn du … Wenn ich lebe, warum kann ich mich von hier sehen?«
»Was? Was erzählst du denn … Oh … Was zur Hölle …«, ertönt die Stimme, die aus ihrem Mund kommt.
»Was ist hier los?«, kreischt Isabell und schaut sich panisch um. »Serena? Wo bist du?«
Statt einer Antwort erklingt nur ein Schrei.
Plötzlich spürt sie, dass sie kein Geist ist und in einem Körper steckt. Sie klappt die Sonnenblende herunter und schaut in den Spiegel. »Aaaaahhhhh«, schreit sie. »Ich bin du! Nein, ich bin in deinem Körper. Sie schaut zum Fahrersitz. »Serena, bist du hier drin? In meinem Körper?«, quietscht sie und wackelt an ihrem Körper, der sie anstarrt.
»Wie ist das möglich?«, fragt Isabells eigene Stimme. »Wir sind vertauscht! Wie kann es sein?«
»K-Keine A-Ahnung, vielleicht durch die Kollision mit dem Strommasten«, antwortet Isabell verunsichert. Erst jetzt bemerkt sie, dass ihre Worte mit der Stimme ihrer Freundin erklingen.
»Und wie machen wir das wieder rückgängig? Müssen wir noch mal … Moment, ich bin jetzt schlank«, stellt Serena grinsend fest und schaut an ihrem neuen Körper herunter.
»Oh Gott, und ich bin fett«, sagt Isabell voller Wut. »All die Jahre habe ich mich umsonst abgequält. Ich habe Sport gemacht und auf so viel verzichtet.«
»Quatsch! Du kannst doch essen, was du willst, ohne dick zu werden.«
»Das glaubst auch nur du. Es wäre schön, wenn … Stopp! Bis wir zurückgetauscht haben, musst du dich genau an meinen Diätplan halten.«
»Du weißt schon, dass du mir etwas versprochen hast, oder?«
»Ja, aber da ging es um deinen Körper, nicht um meinen. Bitte Serena, du musst dich an meine Anweisungen halten. Ich flehe dich an«, kreischt Isabell panisch. »Oh Gott, ich will meinen Körper zurück!« Sie spürt wie sich Tränen bilden. »Du darfst mir meine Figur nicht kaputtmachen«, flüstert sie.
Serena mustert ihr neues Ich erneut. »Mmh, bei der Figur dürfte es ein Kinderspiel sein, zumindest werde ich glücklicher sein und deshalb auch weniger essen.«
»Ja, das wäre prima. Und ich werde versuchen, dich in Form zu bringen«, stellt Isabell mit einem gezwungenen Lächeln fest.
»Wirklich? Du meinst, wenn wir zurücktauschen, bin ich schlanker?«, fragt Serena hoffnungsvoll.
»Ich gebe mir jedenfalls alle Mühe. Am besten wir machen uns einen gemeinsamen Ernährungsplan«, schlägt Isabell vor. In ihrem Blick liegt Skepsis. Ihre Angst, Serena könnte ihr die Figur versauen, ist so groß, dass sie sie am liebsten nicht mehr aus den Augen lassen würde. Aber wie sollte sie Alex erklären, warum sie ihre Freundin von nun an immer mitbringt?
Moment! Alex!
»Oh nein! Wie soll ich das Alex beibringen? Er glaubt uns doch nie, was passiert ist! Er wird uns für verrückt halten.«
»Stimmt. Entweder sagen wir es allen und riskieren, dass wir für verrückt erklärt werden oder …«
»Oder wir tauschen die Rollen«, fällt Isabell ihr ins Wort.
»Nein, das geht nicht! Dann müsste ich in der Werbeagentur arbeiten. Ich habe keine Ahnung von Werbung. Und ich kann auch nicht …« Sie schluckt.
»Was?«
»Ich kann nicht zu Alex. Was ist, wenn er mit mir, nein mit dir … ach mit Isabell schlafen will?«, fragt Serena panisch.
»Stimmt, das geht auf gar keinen Fall. Hm«, Isabell denkt angestrengt über eine Lösung für das Problem nach. »Noch haben wir getrennte Wohnungen. Du tust einfach so, als hättest du im Moment wenig Zeit.«
»Und die ganzen Wohnungsbesichtigungen?«
»Die müssen unbedingt stattfinden … Obwohl, du hast einen anderen Geschmack und würdest dich für die falsche Wohnung entscheiden. Verdammt! Warum muss so etwas Dummes ausgerechnet jetzt passieren?«
»Warum muss so etwas überhaupt passieren?«
»Ja, natürlich. Die Wohnungssuche müssen wir auf Eis legen. Die kommenden Termine musst du noch wahrnehmen, du darfst dich für keine Wohnung entscheiden. Oder … du machst Fotos für mich, falls meine Traumwohnung doch dabei ist.«
»Okay, also geht die Wohnungssuche weiter?«
»Ja, und du fotografierst alles. Du kannst aber auch von jeder Wohnung ein Video drehen. Vielleicht kommt es dann besser rüber.«
»Sonst noch was?«
»Nö, erst mal nicht.«
»Du musst meinen Job machen, das ist dir klar oder?«
»Das kann ja nicht so schwer sein«, antwortet Isabell und rümpft dabei Serenas Nase.
»Du hast ja keine Ahnung, was wir manchmal für Kunden haben.«
»Damit komme ich schon klar, obwohl ich ehrlich gesagt wenig Lust habe, den ganzen Tag Schuhe zu verkaufen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Entschuldige! So habe ich das nicht gemeint. Es ist nur … Scheiße, ich will mein Leben zurück. Vielleicht sollten wir noch mal gegen den Strommasten fahren.«
»Ernsthaft? Was ist, wenn wir dabei drauf gehen? Ich will nicht sterben!«
»Ich doch auch nicht, aber es ist alles so kompliziert.«
»Stimmt, du musst mir unbedingt sagen, was meine Aufgaben in der Agentur sind. Ich habe überhaupt keine Ahnung von deiner Arbeit.«
»Urlaub! Du nimmst einfach Urlaub. Nein, du meldest dich krank.«
»Brauchen die nicht ein Attest? Was soll ich denn beim Arzt sagen? Mit der Wahrheit kommen wir sicher in die Klapse.«
»Herrje, ich weiß doch auch nicht.«
»Wie kommen wir eigentlich hier weg? Meinst du, der Wagen fährt noch?«
»Keine Ahnung.« Während Isabell antwortet, öffnet sie die Beifahrertür und steigt aus. »Puh, das ist ja echt anstrengend mit deinem Körper.«
»Wem sagst du das«, entgegnet Serena, bevor sie ebenfalls den Wagen verlässt. Als sie draußen ist, grinst sie ihren Körper an. »Mit deinem Körper ist es dafür umso leichter.«
»Ich weiß. Und? Ist es nicht viel schöner mit weniger Kilos auf den Hüften?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Mensch, das Auto ist ja total verbeult. Ich versuche, es zu starten.« Mit den Worten umrundet Isabell den Wagen und steigt auf der Fahrerseite ein. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit, die richtige Position gefunden hat, dreht sie den Schlüssel herum. Der Motor gibt stotternde Geräusche von sich. »Ich würde sagen, das war`s.«
»Mist! Und nun?«
»Nun müssen wir einen Abschleppwagen rufen.« Isabell steigt aus, öffnet die Hintertür und sucht ihre Handtasche. »Scheiße!«, flucht sie. »Ich komme nicht ran.«
»Soll ich dir helfen?«, fragt Serena mit lieblicher Stimme.
»Ja, ich brauche meine Tasche, da ist mein Handy drin.«
Serena nickt und krabbelt auf die Rücksitzbank. Als sie kurz darauf mit Isabells Tasche wieder aussteigt, sagt sie grinsend. »Genau genommen ist das ja jetzt meine Tasche, oder?«
Isabell schnauft. »Klar, genau, wie es deine Aufgabe ist, einen Abschleppwagen zu rufen. Immerhin hat dieser tolle Körper, in dem du gerade steckst, den Unfall verursacht. Na ja, wenn du die Handbremse nicht gezogen hättest …«
»Schon klar«, seufzt Serena. »Na ja, dafür darfst du dich morgen mit Kasper treffen und dich abplagen.« Sie lacht auf.
Isabell verdreht die Augen.
»Es ist irgendwie komisch, sich selbst zu beobachten, oder? Ich mein, man sieht seinen eigenen Körper von außen, ohne ihn steuern zu können.«
»Ja, voll komisch.« Isabell lacht ironisch. »Warum hast du nur diese verfluchte Handbremse gezogen?«
»Maul mich nicht an! Wenn du vernünftig gefahren wärst, hätte ich das nicht tun müssen.«
»Boah Serena, halt die Klappe! Ich bin mit diesem fetten Körper schon genug bestraft«, sagt sie, während sie an sich hinunter deutet.
»Ist es das, was du insgeheim wirklich über mich denkst, ja?«, fragt Serena beleidigt.
Isabell zuckt mit den Schultern. »Und wenn schon. Jetzt hast du diese Schwarte ja gegen meinen Traumkörper getauscht.«
»Weißt du was? Du kannst mich mal!«, schreit Serena, wirft die Tasche auf den Boden und läuft davon.
»Du kannst nicht einfach abhauen! Du bist jetzt Isabell und du musst den Abschleppwagen rufen! Hey, bleib verdammt noch mal hier!«