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Belletristik
Buch Leseprobe Stilles Finale, Michael März
Michael März

Stilles Finale


Aus den Aufzeichnungen eines Lehrers

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Kapitel 1 (23)


Aus einem Dreigespann von zwei siebzehnjährigen Schülerinnen und ihrem schüchternen Lehrer für Deutsch und Geografie war innerhalb von ein paar Tagen eine kleine Reisegruppe geworden, die sich am frühen Morgen des 15. März 2003 auf Bahnsteig zwei des überschaubaren und unbelebten Crimmitschauer Bahnhofs sammelte, um auf den 7.14 Uhr einfahrenden Zug nach Leipzig zu warten.


Wir waren zu siebt. Neben Carla Brink und ihrer Freundin aus der 10c hatten sich noch drei Schüler aus dem Leistungskurs Englisch der zwölften Klassenstufe sowie die quirlige Klassensprecherin der 9a dazu entschlossen an diesem Samstag nach Jena zu fahren, um gegen das Kriegsbegehren der USA zu protestieren. Die Jungen waren mit einem selbstbemalten Spruchband und zwei Pappschildern ausgerüstet, die Mädchen hatten ihre Wangen mit blauen Peace-Zeichen bemalt und sich gegenseitig rote Kopftücher umgebunden, auf denen das Antlitz Che Guevaras aufgedruckt war.


Sie waren alle sehr gespannt auf die anderen, auf die Menschenmenge, die Demonstranten, die Linken, die Studenten, die Redner, gespannt auf die Stimmung, das Drängeln und Rufen, die Sprechchöre und das metallische Gegröle aus den Lautsprechern der Polizei. Sie wollten endlich erfahren, was es heißt, sich mit anderen gegen etwas aufzubäumen, Widerstand zu leisten, lautstark zu sein, und ich konnte sie gut verstehen. Sie gehören nicht zu der Generation, die die friedliche Revolution von 1989 in Bewegung brachte. Sie haben sie nur miterlebt. Aber sie haben das gleiche Recht, gegen das politisch Große zu opponieren. Und dabei fällt mir wieder auf, wie unpolitisch sie sind und wie fremdartig sich diese kleine Gruppe, mit der ich an jenem Samstag nach Jena fuhr, im Vergleich zu ihren Generationsgenossen verhielt, die nicht im Traum daran gedacht hatten, mit der Forderung nach einer friedlichen Lösung des Irak-Konflikts auf die Straße zu gehen.


Wir hatten einen Waggon für uns. Der Zug rollte in langsamer Fahrt über das erneuerte Gleisbett in nördlicher Richtung aus der Stadt. Nach zwei oder drei Kilometern gingen die Hügel des Pleißentals in die weite, ländliche Ebene über: Überall noch braune, matschige Felder, hier und da Ausläufer eines Dorfes, verlassene Schrebergärten und nach wenigen Minuten das verschlafene thüringische Städtchen Gößnitz, wo wir in den Interregio von Glauchau nach Göttingen umsteigen mussten.


Etwas später passierten wir Ronneburg und seine pyramidenhaften Abraumberge, die ihre sanft hügelige Umgebung als weithin sichtbare Denkmäler der Uran-Bergarbeiter überragen. Eine stumme, namenlose Umgebung, die bei Regen nach ihrer rotbraunen Erde duftet, die sich kilometerweit mit abgelegenen Bauerndörfern, eingefallenen LPG-Mastzuchtanlagen, ein paar Windrädern, ausgedehnten, rostbraunen Feldwegen und welligen Landstraßen, an denen hier und da kleine Holzkreuze an verunglückte jugendliche Verkehrsteilnehmer erinnern, um sie herum ausbreitet. Eine Gegend, die wie so viele andere Gegenden in Ostdeutschland zu wenige Arbeitsplätze und kaum Perspektiven bietet, auch wenn die Kommunalpolitiker etwas anderes versprechen.


Eine Gegend mit desillusionierten Menschen, die, wie den schlechten Aussichten zum Trotz, hübsche Eigenheime gebaut haben, die ihre Gärten pflegen, die Fußball- oder Faschingsvereinen angehören, einmal im Jahr Urlaub am Mittelmeer machen; oder nie.


Eine Gegend mit rauchenden Halbstarken, die an Mopeds herumschrauben oder in selbst eingerichteten Jugendclubs Gewaltvideos und Computerspiele konsumieren, und Jugendlichen, die sich samstagabends in Diskos flüchten, ihre Minderwertigkeitskomplexe durch Trinkgelage betäuben oder Nächte im Internet verbringen.


Eine Gegend, in der es ein paar ungebildete Möchtegern-Neonazis gibt und eine Menge potentieller Türsteher, die ihre Zeit in Fitnesscentern totschlagen, an Tankstellen herumlungern oder Autos tieferlegen. Sie haben ja sonst nichts. Sie haben nichts, was ihnen Hoffnung macht, und lediglich ein paar Möglichkeiten gefunden, um sich zu trösten.


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