Ankunft auf Birkenfeld Marina blinzelte. Sie musste sich zwingen, die Augen offenzuhalten. Es war drei Uhr nachts. Seit zwei Stunden saß sie am Steuer von Papas Jeep. Kilometer um Kilometer bewegte sich das Gespann in Richtung Norden. In dem Anhänger, den der Wagen zog, stand Randy, Marinas kleine Arabohaflingerstute. Auf dem Beifahrersitz saß Papa und schlief. Sie fuhren nun schon mehrere Stunden so dahin und wechselten sich ab. Bei der nächsten Raststätte wollte Marina ihn wecken, damit er das Steuer wieder übernahm. Wie es wohl Randy ging? Konnte sie im Pferdetransporter schlafen? Zu Hause in ihrer Box hatte sie sich immer nachts hingelegt. Da kam ein Schild, das den nächsten Parkplatz in fünf Kilometern ankündigte. So lange musste Marina noch durchhalten. Wieder versuchte sie, die Müdigkeit wegzublinzeln. Sie öffnete das Fenster auf der Fahrerseite einen Spalt, um frische Luft zu bekommen. Vielleicht half das ja. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass es so anstrengend war, zwei Stunden am Stück in der Nacht zu fahren. Da die Strecke keinerlei Abwechslung bot, immer nur auf der Autobahn verlief und sie wegen des Anhängers nicht schneller als achtzig Stundenkilometer fahren durfte, gestaltete sich das Unterfangen als höchst eintönig. Endlich! Noch dreihundert Meter bis zur Abfahrt. Marina setzte den Blinker rechts und nahm den Fuß vom Gaspedal. Vorsichtig lenkte sie den Jeep zu den Parkplätzen. Dort stellte sie den Motor ab. Neben ihr erwachte Papa. Er gähnte, streckte sich und brummte: ″Bin ich schon wieder dran?″ ″Ich kann nicht mehr″, gab Marina zurück. ″Tut mir leid.″ Papa warf einen Blick auf die Uhr. Dann meinte er: ″Wir hatten alle zwei Stunden ausgemacht. Die hast du doch durchgehalten. Gib mir aber bitte die Zeit für einen Kaffee! Dann übernehme ich schon.″ Steif stiegen sie aus dem Wagen. Papa wandte sich der Raststätte zu: ″Soll ich dir was mitbringen?″ ″Nein danke″, entgegnete Marina. ″Wenn du wieder da bist, gehe ich auch.″ Sie musste eh die Toilette aufsuchen, da konnte sie sich gleich selbst verpflegen. Leise öffnete sie die kleine Türe, durch die man von vorne in den Anhänger gelangen konnte. Randy stand ganz ruhig da und schien tatsächlich zumindest zu dösen. Ein Ohr zuckte, als sie Marina hörte, doch ansonsten reagierte sie gar nicht. ″Schlaf weiter!″, flüsterte Marina und zog sich wieder zurück. Dann lief sie ein paar Mal auf und ab, um wieder etwas beweglicher zu werden. Papa kam mit einem Pappbecher in der Hand zurück. ″Du kannst.″ Nach einer kurzen Pause stiegen beide wieder ein. Marina machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Sie hatte sich in der Tankstelle eine Tüte mit Schokoerdnüssen gekauft. Davon aß sie nun ein paar. Schon bald fielen ihr die Augen zu, während der Motor gleichmäßig brummte und das Gefährt weiter gen Norden schaukelte. Als Marina das nächste Mal erwachte, war bereits die erste Dämmerung zu erkennen. Die meisten Sterne waren am Firmament verschwunden, und der Himmel sah im Osten blass-grau aus. Bald würde die Sonne über den Horizont steigen. Marina warf einen Blick auf die Uhr. ″Papa, du hättest mich wecken sollen. Ich bin doch schon längst wieder dran mit Fahren″, stellte sie fest. ″Alles gut″, beruhigte Papa sie. ″Der letzte Kaffee hat Wunder gewirkt. Da dachte ich, ich lasse dich lieber schlafen, aber bei der nächsten Gelegenheit tauschen wir wieder, okay?″ ″Klar!″, erwiderte Marina und blickte neugierig aus dem Fenster. ″Wo sind wir eigentlich?″ ″Zwischen Kassel und Hannover″, antwortete Papa. ″Ich denke, in zwei Stunden könnten wir es geschafft haben.″ ″Und du bist sicher, dass du die ganze Strecke alleine wieder zurückfahren willst?″, erkundigte Marina sich. ″Bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, aber ich schlafe mich nachher erst einmal richtig aus. Außerdem fahre ich ja dann tagsüber. Da ist es nicht so anstrengend″, gab Papa zurück. Marina machte sich wieder über ihre Nüsse her. Bei der nächsten Raststätte genehmigte sie sich auch einen Kaffee. ″Uuh, der ist vielleicht stark und bitter″, stellte sie fest und verzog das Gesicht. ″Da muss ich mir noch mehr Milch holen.″ Diesmal war Randy etwas munterer, als Marina zu ihr in den Anhänger stieg. Daher füllte Papa einen Eimer mit Wasser, damit die Stute etwas zu Trinken hatte. Als das Pferd seinen Durst gestillt hatte, meinte Papa: ″Also los! Endspurt!″ Marina kletterte wieder auf den Fahrersitz, stellte diesen und die Spiegel auf sich ein und startete den Motor. Nun, da man die Umgebung erkennen konnte, war es viel angenehmer zu fahren. Sie kamen gut voran, weil der Verkehr sich um diese frühe Uhrzeit noch in Grenzen hielt. Endlich passierten sie die Ausfahrten von Hannover. Von hier aus war es wirklich nicht mehr weit. Marina musste an Michael denken. Sie hatte ihn bei ihrem Vorstellungsgespräch auf Gut Birkenfeld kennengelernt. Er machte dort selbst eine Ausbildung zum Pferdewirt und hatte ihr erzählt, dass er von hier stammte. Jetzt nahm die Kilometeranzahl nach Hamburg mit jeder Tafel, an der sie vorbeifuhren, ab. Sogar Bispingen war schon angeschrieben. Hier mussten sie die Autobahn verlassen. ″Jetzt sind wir echt bald da″, murmelte Marina. Papa schlief wieder neben ihr. Marina hing ihren Gedanken nach. Wie würde ihre Zeit in Schneverdingen wohl werden? Fast siebenhundert Kilometer von zu Hause entfernt sollte sie die nächsten zwei Jahre verbringen. Würde sie Sehnsucht nach dem Ammersee und vor allem den Pferden in Papas Stall bekommen? Sie hatte sich bewusst für diesen Ausbildungsbetrieb entschieden. Es schien ihr an der Zeit, sich abzunabeln und eine Weile auf sich selbst gestellt zu sein. Die nächste Abfahrt war Bispingen. Als Marina die Geschwindigkeit verringerte und das Gespann in die enge Kurve lenkte, erwachte Papa neben ihr. ″Das ging ja jetzt flott″, stellte er fest. ″Dann werd ich mal in meinem Handy schauen, wie wir nach Birkenfeld kommen.″ Er begann, auf dem Display seines Smartphones zu wischen und Eingaben zu machen. Kurz darauf ertönte die Stimme der Navigationsapp, die sie von nun an führen würde. Marina folgte den Anweisungen. Es ging direkt auf das freie Land hinaus. Hier war alles flach. Das kannte Marina aus Bayern nicht. Die ersten Getreidefelder waren bereits abgeerntet. Auf manchen lagen noch die Strohballen, die darauf warteten, in ihre Lager gebracht zu werden. ″Da hinten ist der andere Betrieb, der mich auch genommen hätte″, erklärte Marina und deutete in die ungefähre Richtung. ″Hier gibt es mit Sicherheit tolle Reitwege″, stellte Papa fest. ″Das denke ich auch″, stimmte Marina zu. ″Überall dieser Sand. Da können die Pferde ja viel besser laufen als auf unseren steinigen Feldwegen. Es wird allerdings sicher eine Weile dauern, bis ich mich einigermaßen auskenne.“ Während sie dahinfuhren, fiel Marina auf, dass die Ortschaften hier viel weiter auseinanderlagen, als es in ihrer Gegend der Fall war. Da kam meistens nach zwei bis drei Kilometern die nächste. Sie hatten Bispingen schon längst hinter sich gelassen, doch von Schneverdingen war noch keine Spur zu sehen. Die Minuten vergingen. Endlich kamen Häuser in Sicht. Dann passierten sie das Ortsschild. Wenige Minuten später steuerte Marina den Jeep die lange birkengesäumte Zufahrt zum Gut entlang. Die Straße war holprig. An vielen Stellen wies sie Frostschäden auf. Hinter den Bäumen lagen Koppeln. Noch waren sie leer, denn die Pferde waren um diese Zeit im Stall. Endlich fuhren sie direkt auf den u-förmig angelegten Stall zu. Davor stellte Marina den Wagen ab. Papa sah sich um. ″Schön ist es hier. Du hast eine gute Wahl getroffen.″ ″Dann wollen wir mal sehen, ob jemand da ist, der mir sagen kann, wo Randy hin soll″, meinte Marina und stieg aus. Sie hatte das Gefühl, ewig gesessen zu sein und konnte erst einmal kaum laufen. ″Schau du dich um! Ich bleibe hier″, schlug Papa vor. Marina nickte und betrat den Stall. Sie hatte den linken Eingang gewählt, durch den sie auch bei ihrem Vorstellungsgespräch gegangen war. Neugierig lief sie die lange Reihe der Boxen entlang. Es gab immer wieder Nischen dazwischen, wo die Spinde für Putz- und Sattelzeug standen. Direkt geradeaus gelangte man in die große Reithalle. Dort war Marina vorgeritten. Sie kam auch zu der Box von Hans im Glück, ihrem Pferd von damals. Kurz machte sie halt und begrüßte den Rappschimmel. Da sie bisher keiner Menschenseele begegnet war, wandte sie sich nach rechts. Wieder waren zu beiden Seiten der Stallgasse Boxen angelegt. Erst in der dritten Gasse sah sie, dass jemand dabei war, hier auszumisten. Mitten auf dem Durchgang stand ein kleiner Traktor mit Anhänger. Von beiden Seiten flog die verbrauchte Einstreu darauf. ″Hallo″, meinte Marina zaghaft, als sie an die Box auf der linken Seite trat. ″Moin″, grüßte ein Mann zurück. Marina hatte ihn bei ihrem Termin hier auch kurz kennengelernt. Er war schon älter und trug einen Rauschebart, der ihm bis auf die Brust reichte. ″Ich wollte mich nur erkundigen, wo ich mein Pferd unterbringen darf. Ich fange in drei Tagen hier meine Ausbildung an. Mein Name ist Marina Trautberg″, erklärte Marina. ″Ina!″, rief da plötzlich jemand aus der Box hinter ihr. Sie wirbelte herum und erkannte Michael, der gedankenlos in ihr Probereiten geplatzt war und damit beinahe für einen Sturz von ihr und Hans im Glück gesorgt hatte. ″Hi Michi!″, grüßte Marina zurück. ″Ole, kann ich dich kurz mit der Arbeit allein lassen?“, erkundigte Michael sich. „Dann gehe ich mit Ina hier.“ Der Pferdepfleger brummte etwas Unverständliches und winkte ab. ″Kann man als ja werten″, grinste Michael und lief Marina voran auf dieser Seite aus dem Stall. ″Ist dein Pferd da drin?″ Er deutete auf den Hänger an Papas Auto. Marina nickte. ″Ja, und das hier ist mein Papa″, stellte sie vor. Die Männer machten sich miteinander bekannt. ″Frau Anders sagte, dass du heute kommen wolltest, aber nicht, dass du so früh da sein würdest″, teilte Michael mit. Papa entgegnete: ″Wir sind die Nacht durchgefahren. Da sind die Straßen so schön leer.″ ″Habt ihr recht gehabt. Dann hol dein Goldstück einmal heraus! Bin schon mächtig gespannt darauf″, forderte Michael Marina auf. ″Sei aber bitte nicht enttäuscht!″, gab diese zurück. ″Ich hoffe, du erwartest jetzt nicht ein super-edles Warmblut. Keine Witze über ihre Größe.″ Sie stieg durch die Türe vorne, während Papa und Michael die Klappe hinten öffneten. Kurz darauf stand Randy auf dem Hof. Sie hob ihren Kopf und nahm Witterung auf. ″Die ist ja hübsch″, war Michaels Urteil. ″Und mit der Größe bist du hier nicht einmal allein. Wir haben einige Kleinpferde in Beritt. Wart′s nur ab! Aber als Erstes solltest du sie auf einen Paddock bringen, damit sie sich etwas bewegen kann. Danach melden wir dich bei der Chefin an.″ ″Dann komm mal mit, meine Süße!″, forderte Marina Randy auf. ″Wir gehen jetzt einfach mit dem Michi.″ Wie immer folgte Randy ihrer Besitzerin vertrauensvoll. Im Innenhof des Stalls waren mehrere Paddocks angelegt. Michael ging gleich auf den ersten zu und hielt Marina den Eingang auf. ″Hier kann sie sich wälzen und laufen, wie sie will″, meinte er. Marina führte ihr Pferd durch die Öffnung im Stromzaun. Dann hakte sie den Führstrick aus und klopfte den fuchsfarbenen Hals. ″Ich bin bald wieder da. Schau dich ein bisschen um! Es ist alles gut.″ ″Geht ihr ruhig! Ich bleibe hier und warte, bis ihr wieder zurück seid″, forderte Papa die jungen Leute auf. So folgte Marina Michael zu einem anderen Gebäude auf der rechten Seite des Stalls.
|
Marina tritt ihre Ausbildung zur Pferdewirtin auf Gut Birkenfeld in Schneverdingen an. Doch sie verlässt die Heimat nicht allein. Ihre Stute und Freundin Randy begleitet sie in die Fremde. Als Marina allerdings von einem Turnier zurückkommt, ist das geliebte Pferd verschwunden - und mit Randy auch die Ponys der Reitschule. Sind die Tiere ausgebrochen? Wurden sie absichtlich aus ihrer Koppel gelassen? Oder war hier sogar ein Pferdedieb am Werk? Eine aufregende Suche beginnt.
|
5,0 von 5 Sternen Eine wunderschöne Pferdegeschichte Rezension aus Deutschland vom 15. Juni 2016 Verifizierter Kauf Diese Geschichte ist wunderbar und vor allem sehr lehrreich. Man erfährt sehr viel zum Umgang mit Pferden. Zudem ist die Geschichte sehr spannend geschrieben. Eine wunderbare Pferde-Serie, die hoffentlich noch lange weiter geschrieben wird. 5,0 von 5 Sternen Schöne Pferdegeschichte! Rezension aus Deutschland vom 20. Juli 2016 Auch wenn ab diesem Band fast vollständig andere Personen mitspielen, ist es nach wie vor eine schöne Geschichte, die selbst für mich als Erwachsene, die in ihrer Jugend gerne Pferdebücher gelesen hat, lesenswert ist. Ich hoffe auch, dass diese Reihe noch lange fortgeführt wird. 5,0 von 5 Sternen Immer wieder ... Rezension aus Deutschland vom 16. Januar 2017 Verifizierter Kauf ... sehr angenehm zu lesen, selbst wenn man das typische Lesealter schon überschritten hat. Eine mit viel Liebe und Wissen geschriebene, gelungene Serie.
|
|
Martina Sein
Martina Sein wurde 1976 in Eching am Ammersee geboren und war schon ein pferdebegeistertes Kind. Mit dem Schreiben hat sie bereits in der sechsten Klasse begonnen, konnte jedoch erst mit Aufkommen des Selfpublishing ihr erstes Werk veröffentlichen. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ist hauptberuflich Schriftstellerin und reitet nach wie vor in ihrer Freizeit leidenschaftlich. So erlebt sie immer neue Situationen, die sie anschaulich in ihren Büchern mit ihren Lesern teilt.
|
|