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Buch Leseprobe ZWISCHEN KEKSEN UND KAFFEE:, R. H. H. Reineke
R. H. H. Reineke

ZWISCHEN KEKSEN UND KAFFEE:


Wir waren schon ganz schön modern!

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Ich fahre mit meinem alten, klapprigen VW Golf, den ich vor 10 Jahren von meinem Vater geerbt habe, sehr langsam durch einen verschlafen wirkenden Ort abseits der Bundesstraße, und niemand hier fühlt sich durch meine Fahrweise gestört. Wer sollte sich hier auch gestört fühlen? Es ist ja niemand zu sehen. Um diese Uhrzeit, es ist Donnerstagnachmittag kurz vor 15 Uhr, scheint es so, als sei ich in diesem vergessenen Örtchen ganz alleine mit meinem roten Golli unterwegs. Schon von weitem sichtbar fallen die vielen „ZU VERKAUFEN“-Schilder auf, die in den schmucken, sehr gepflegten Vorgärten stehen, und die bei dem kleinsten Windzug sofort hin und her schaukeln. An eine Schule und den Lebensmittelmarkt erinnern nur noch schwer erkennbare Schrift-züge. Die abgeschraubte Neonwerbung am ehemaligen Konsum hat ihre dreckigen Spuren auf der alten, grauen Wandfassade hinterlassen. Die Läden sind schon lange geschlossen, ein aussterbender Ort. Die alte Bushaltestelle mit der verrotteten Holzbank auf der einzigen Hauptstraße, die den Ort in Ober- und Unterdorf teilt, unterstreicht dieses triste Bild, das sich den einzelnen, schnell durchradelnden Besuchern bietet. Es erinnert mich alles ein wenig an die typische Kulisse einer alten Westernstadt. Ich fahre noch etwas langsamer, weil ich jede Sekunde damit rechnen muss, dass der legendäre Sheriff Wyatt Earp höchst persönlich mit gezückter Pistole plötzlich hinter einer Hausecke hervorprescht und mich zum Duell fordert, mitten auf der sogenannten Hauptstraße. Mit Glück und unversehrt schaffe ich es, mein Fahrzeug durch die Mainstreet zu lenken, wische mir den Schweiß aus meinem Gesicht und finde hinter der einzigen Rechtskurve auf Anhieb das gesuchte Haus meiner neuen Bekannten. Hier in diesem Ort hat der demografische Wandel bereits unübersehbar Einzug gehalten. Wir haben Mitte April, und die ersten Sonnenstrahlen in diesem Jahr durchfluten die alte, brüchige Terrassenüberdachung des kleinen, aber schmucken Einfamilienhäuschens, 10 km östlich von Braunschweig. Das Haus und die Gartenanlage befinden sich in einem gepflegten Zustand. Hier herrscht Ordnung, das sieht man auf den ersten Blick. Das Haus steht in einem kleinen Dorf, das - wie etliche andere Siedlungshäuser auch - so um 1955 nahe dem Hauptarbeitgeber dieser Region, einem weltweit agierenden Automobilkonzern, erbaut wurde. Mein roter Golli weiß, von wem ich spreche. Mir gegenüber sitzt eine fröhliche, ältere, kleine Frau. Sie ist, wie sie mir bereits vorab verraten hat, 81 Jahre alt, gut gekleidet und mit einem sehr individuellen äußeren Erscheinungsbild. Ich habe sie vor drei Tagen zufällig bei einem meiner täglichen Blitzeinkäufe in der am Stadtrand neu erbauten Shoppingmall kennengelernt. In diesem größten Einkaufstempel der Region zwischen Zwiebeln und Kartoffeln sprach sie mich an, ob ich ihr behilflich sein kann und ihr netterweise aus dem obersten Regal eine Packung Champignons herunterreichen könnte. Ich merkte sofort, dass sie ein Gespräch mit mir suchte, hatte aber eigentlich gar keine Zeit und Lust, ihr wirklich zuzuhören. Meine Mittagspause war schon kurz genug und außerdem gleich zu Ende. Ich stand - wie jeden anderen Wochentag auch - mal wieder voll unter enormem Zeitdruck. „Junge Frau, das ist sehr freundlich von ihnen. Früher bin ich oft mit meiner Tochter gemeinsam einkaufen gegangen, aber sie ist mittlerweile selbst über 60 Jahre alt und nicht mehr ganz fit auf den Beinen, da bin ich ja noch besser drauf als diese jungen Dinger von heute“, lachte sie und schob ihren Einkaufswagen langsam weiter in Richtung Tiefkühlkostregal. Sie hatte Probleme beim Gehen, was man nicht übersehen konnte. Aus diesem Grund diente der Einkaufswagen zur Hälfte als Rollator, an den sie sich tapfer festklammerte. „Das ist übrigens das Resultat einer meiner letzten Hüftoperationen. Vorher war ich besser auf den Beinen, aber seit dieser Operation im letzten Jahr kann ich kaum noch schmerzfrei gehen. Wissen sie, meine Nachbarin Else hat mich heute mit zum Einkaufen genommen, sonst komme ich überhaupt nicht mehr aus meinem Kaff raus. Wir trennen uns immer auf dem Parkplatz und treffen uns nach einer Stunde in der Damenabteilung unten im Tiefgeschoss, um wieder gemeinsam nach Hause zu fahren. Sie hat den alten Opel Kadett ihres verstorbenen Mannes behalten. Ich bin auch schon lange Witwe und lebe allein, bin aber nicht so mobil wie Else.“ In der Zeit, in der wir zusammen zu den endlos aufgereihten Tiefkühltruhen trotteten, hätte ich locker meinen gesamten Wocheneinkauf erledigen können, doch trotzdem war mir die kleine Frau mit ihrer selbstgehäkelten Strickmütze, der saloppen Sporthose und der etwas zu großen Steppjacke sofort sympathisch, und ich vergaß für einen kurzen Augenblick meine alltägliche Hetzerei. „Wenn ich mich bei ihnen einhaken dürfte, dann käme ich hier besser zurecht und wäre schneller mit dem Einkauf durch“, sprach sie und schnappte meinen freien linken Arm. Mit der rechten Hand hielt ich meinen überquellenden Tragekorb mit den Einkäufen für vier Personen umklammert, der auch nicht viel leichter war als die alte Dame. Mein Gleichgewicht konnte ich nun beim besten Willen nicht mehr verlieren. So schoben wir beide die nächste halbe Stunde (gefühlte 2 Stunden) gemeinsam von Gang zu Gang durch den Supermarkt, und sie erzählte und erzählte. Am Ende des Einkaufs brachte ich es nicht übers Herz, sie im Kassenbereich einfach so stehen zu lassen. Im Gegenteil, alles, was sie während der vergangenen halben Stunde so von sich gab, fand ich wahnsinnig interessant und von Berufs wegen war ich als Journalistin auch nun mal ausgesprochen neugierig. „Wissen Sie was? Wir bezahlen unseren Einkauf, und dann lade ich sie vorn am Ausgang beim Bäcker noch auf einen leckeren Cappuccino ein. Was halten sie von meinem Vorschlag?“ Ihre Augen glänzten und über ihr Gesicht ging ein Strahlen, als wenn für Kinder der Weihnachtsmann mit seinem Rentiergespann vom Himmel kam und direkt vor uns im Supermarkt landete. „Sie haben wirklich noch Zeit für mich?“ „Nun, eigentlich nicht, aber ich werde meinem Chef schon irgendwie erklären, warum ich etwas später aus der Mittagspause gekommen bin. Also, wie sieht es aus mit einem Cappuccino?“ „Klar gerne, wir müssen nur darauf achten, dass mich Else nicht übersieht, sonst komme ich heute nicht mehr nach Hause. Allein im Bus mit den vollen Tüten, das schaffe ich nicht mehr.“ Es dauert gar nicht lange, als eine resolut wirkende Dame um die Ecke biegt. Sie scheint ziemlich erbost, denn ihre Gesichtszüge versprechen nicht gerade große Sympathien. Das kann nur die besagte Else sein, die Freundin mit dem alten Opel, denke ich mir so. Sie entdeckte uns von weitem und steuert winkend und zielstrebig mit ihrem ebenfalls prallgefüllten Einkaufswagen auf unseren Ecktisch in der Bäckerei zu. „Rosi, wenn man dich mal einen Moment aus den Augen lässt, bist du auch schon verschwunden. Wir haben uns doch unten bei den Kleidern verabredet, da habe ich geschlagene 10 Minuten auf dich gewartet, und du sitzt hier in aller Seelenruhe und schlürfst gemütlich einen Cappuccino.“ Ziemlich angefressen schaut sie zu mir herüber. „Und wer sind sie?“ Ihr giftiger Blick trifft mich wie ein Donnerschlag, und sie mustert mich mehr als skeptisch von oben bis unten. „Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Christine Faller, ich arbeite hier in der Nähe im Zeitungsverlag und habe in meiner Mittagspause kurz ihrer Nachbarin beim Einkaufen geholfen.“ Else schaut zu Rosi. „Stimmt das Rosi? Und guck mal in deiner Handtasche nach, ob dein Portemonnaie noch da ist.“ Aufgeregt sucht meine bisher sympathisch wirkende Begleitung ihren Geldbeutel und hält ihn nach erfolgreicher Suche triumphierend in die Luft. „Was du immer hast Else, nicht alle Menschen sind schlecht. Außerdem habe ich doch gerade an der Kasse noch daraus bezahlt.“ Bei diesen Sätzen lächelt sie mich freundlich an. Die Nachbarin probiert mich zu besänftigen. „Sicher ist sicher, man weiß ja nie, was so in den Köpfen anderer Leute vor sich geht, nicht wahr Frau Faller? Besser, man prüft ab und an seine Sachen, so geht man unliebsamen Überraschungen aus dem Weg, das war aber nicht persönlich gemeint.“ Nachdem ein gewisses Vertrauen zurückgekehrt ist, beginnt auch Else mir ihren Lebenslauf im Schnelldurchgang zu erzählen, und ich habe nun wirklich keine Zeit mehr für die beiden liebenswerten alten Damen. Bei der herzlichen Verabschiedung auf dem Parkplatz des Supermarktes tauschen wir kurz unsere Telefonnummern aus, und ich verspreche, in der nächsten Woche Rosemarie Wilke und Elsbeth Försterling, wie sie richtig heißen, anzurufen. „Wo kommst du denn jetzt erst her, wir warten schon über eine Stunde auf dich, es war ein Meeting geplant.“ Mein Chef, der alte Grantler, befindet sich gerade in einer Profilierungsphase, obwohl er um einiges jünger war als ich. Er als mein unmittelbarer Vorgesetzter ist von meiner Bummelei wenig angetan, also muss ich mir spontan etwas Sinnvolles einfallen lassen, eine Notlüge muss her. „Sorry Chef, ich habe zwei ältere Damen kennengelernt, die mir so spannende Geschichten aus ihrer Jugend erzählt haben, dass ich auf die Idee gekommen bin, eventuell mal einen Artikel zu schreiben. Du weißt schon, so in die Richtung von „Wie haben unsere Großeltern vor 1945 gelebt“. Vielleicht könnte man sogar direkt eine Serie daraus machen, quasi immer eine ganze Seite für die Samstagsausgabe im Familienbereich. Was hältst du davon?“ Etwas besänftig lenkt Udo ein. „Vielleicht gar keine schlechte Idee Christine. Unsere Leser werden ja auch immer älter, und wenn wir reale Geschichten aus der Vergangenheit veröffentlichen, kann sich ein Großteil unserer Leser sicherlich damit identifizieren. Etwa nach dem Motto: Weißt du noch, bei uns war es doch auch nicht so viel anders. Ich werde über deine Idee nachdenken. Nicht schlecht Christine.“ Kein Wort mehr über mein verspätetes Erscheinen. Man gut, dass ich meinen Chef schon über viele Jahre kenne, denn nach so langer Zusammenarbeit weiß ich genau, wie er tickt und was er von mir hören will. Drei Tage später steht Udo erneut vor mir am Schreibtisch. Wenn der Kerl sich vor einen platziert, verdunkelt sich die Sonne und in diesem Fall die Helligkeit im Büro. Udo ist bis vor einigen Jahren noch aktiver Basketballspieler in der Bundesliga gewesen, also etwas über 2 m groß und hat ein Kreuz wie ein Kleiderschrank. Seine Stimmlage ist eine Oktave tiefer als beim Bariton, und er stellt DIE Respektperson in unserer Abteilung dar. Widerspruch ist fast unmöglich und schon gar nicht erwünscht! „Ich habe mir deine Idee durch den Kopf gehen lassen und finde, wir sollten das so machen, aber ich sage dir gleich, ich möchte keine reißerischen Geschichten auf dem Tisch haben, sondern das ganz alltägliche Leben von ganz normalen Menschen, so wie du und ich.“ Okay, denke ich bei mir, du arroganter, aufgeblasener Mega-Macho und ganz normal? Nun gut! „Ich stelle mir einfache Tagesabläufe vor, wie sie sich tatsächlich von 1930 bis Kriegsende abgespielt haben. Reale Geschichten von und für Jedermann möchte ich von dir haben, sagen wir mal das Leben so von 1930 bis 1955. Wir probieren, davon eine Serie aufzulegen. In etwa drei Wochen wäre der erste ideale Erscheinungstermin. Außerdem möchte ich von dir neben gut recherchierten Berichten auch Fotos aus der Zeit haben, und zwar viele. Ich werde die Anzahl der Storys erstmal auf vier begrenzen. Sollten unsere Leser daran Gefallen finden, können wir über eine Fortsetzung der Reihe gerne reden. Hast du schon jemanden im Auge, oder sollen wir Personen, die in Frage kommen, aus dem betroffenen Jahrgang per Inserat suchen?“ Ich bin überrascht über seine spontane Entscheidung. „Nein Udo, das ist erst einmal nicht nötig. Ich habe ja an dem Tag, als ich zu spät aus der Mittagspause kam, diese zwei netten Damen kennengelernt, und wir haben auf dem Parkplatz unsere Telefonnummern ausgetauscht. Sie würde ich gerne als erstes anrufen und fragen, ob Interesse an unserem Projekt besteht. Es kann ja auch sein, dass sie das alles gar nicht gut finden und sich ausgenutzt fühlen. Dann können wir immer noch andere Personen per Inserat suchen. Toll, dass du meinen Vorschlag gut findest, ich mache mich gleich an die Arbeit und ... Danke Udo.“ „Schon gut Chris, aber denk bitte daran, ich erwarte von dir ordentliche Storys. Vielleicht abwechselnd mal von Frauen, wie sie ihre Kindheit erlebt haben und auch von Männern, die sich auch noch erinnern können. Sie sollten jetzt so etwa zwischen 80 und 90 Jahren alt sein. Übrigens, mein Opa aus Hildesheim wird in Kürze 86 Jahre, er könnte bestimmt einiges aus seinem Leben erzählen, ist auch geistig noch richtig fit. Er wäre bestimmt ein geeigneter Interviewpartner für dich. Ich bin gespannt, was du alles zusammentragen kannst. Bitte berichte mir ab nächster Woche täglich über wen und was du schreibst und vergiss die Fotos nicht. Sie sind ein wichtiger Bestandteil dieser Berichterstattung. Sollten sie vergilbt sein, jagen wir sie einmal durch den Computer und lassen sie von unserer Graphikabteilung aufarbeiten. Das ist kein Problem, das kennst du ja. Nochmals Christine, gute Idee, hätte von mir sein können, leg los!“ Mit Daumen nach oben verschwindet Udo aus meinem Büro. Ich lasse die Sache erstmal in Ruhe sacken. Immerhin habe ich aufgrund einer Notlüge einen ganz passablen Job an Land gezogen, der mich für Wochen beschäftigen wird. Endlich kann ich die akribische Suche nach australischen Ameisenkäfern und wandernden Beutelratten in jüngere Hände legen. Noch am selben Tag rufe ich bei Rosemarie Wilke an und erläuterte ihr mein Anliegen. Sie reagiert erstaunt. „So, sie wollen, dass ich ihnen meine Kindheit erzähle. Wie denn, jetzt hier gleich am Telefon?“ „Nein, das würde nichts Richtiges werden. Wir sollten uns verabreden, am besten an einem Nachmittag mit Keksen und Kaffee, die Kekse bringe ich mit. Na, wie finden sie meinen Vorschlag, und haben sie überhaupt Lust dazu?“ Es folgt eine Denkpause. „Was kann ich ihnen denn schon erzählen. Das interessiert doch niemanden, ich bin doch nicht so bekannt und berühmt wie ein Filmstar“, sagt sie nach einer weiteren kurzen Pause am Telefon. „Aber warum eigentlich nicht. Okay, ich bin einverstanden, wir probieren das einfach.“ Ich erkläre ihr in der Kürze der Zeit, wie ich mir die Sache vorstelle und was ich von ihr wissen möchte. „Ich komme bei ihnen vorbei, stelle ein Diktiergerät auf den Tisch, wir trinken Kaffee, essen Kekse dabei, und sie erzählen einfach drauf los. Menschen in meinem Alter, ich werde im Oktober 39 Jahre alt, haben davon kaum eine konkrete Vorstellung, wie sich das Leben so um 1930 abspielte. So etwas interessiert mehr Leute als sie denken. Gerade der normale Tagesablauf von damals ist für die jüngere Generation kaum vorstellbar. Was meinen sie, wie meine 12jährige Tochter Lisa staunen wird, wenn sie erfährt, dass man auch ohne Handy eine glückliche Kindheit haben kann.“ Rosemarie Wilke lacht herzlich. „Wie gesagt, sie erzählen einfach drauf los, alles was ihnen aus ihrer Jugend so einfällt, und am Ende entscheiden wir gemeinsam, was wir daraus machen, einverstanden? Ach ja, es wäre schön, wenn sie noch ein paar Fotos aus der Zeit hätten. Sollten diese nicht mehr so scharf sein, ist es egal, das bekommen wir in unserem Labor wieder hin, versprochen.“ „Gut Frau Faller, ich bin einverstanden, dann treffen wir uns in drei Tagen bei mir, sagen wir so gegen 15 Uhr. Hoffentlich haben wir schönes Wetter, dann können wir auf der Terrasse sitzen und klönen. Soll Else auch kommen?“ „Nein, erst einmal nicht, wir beide sehen ja, wie sich die Sache entwickelt, und dann können wir immer noch Ihre Nachbarin hinzuziehen.“ „Gut, ich freue mich auf Donnerstag.“ „Halt Frau Wilke, noch nicht auflegen, ich brauch doch noch ihre Adresse.“ „Ach ja, Potsdamer Straße 5, direkt in dem Nest an der Autobahn Richtung Berlin. Haben sie das notiert? Sollten sie es nicht finden, haben sie ja meine Telefonnummer. Also, ich freue mich auf sie. Wir sehen uns Donnerstagnachmittag.“ Nun sitze ich bei meiner Einkaufsbekanntschaft Rosemarie Wilke auf der Terrasse und habe meine versprochenen Kekse, die ich unterwegs noch schnell an der Tankstelle gekauft habe, in eine dafür vorgesehene edle Meißner Porzellanschale gefüllt. Zwei zierliche Sammeltassen aus der Nachkriegszeit mit zartem Rosenmuster werden liebevoll mit frisch gebrühtem Kaffee vollgegossen, und der blühende Fliederbusch direkt am Haus verbreitet neben dem Kaffeearoma zusätzlich einen Duft, den ich als Stadtmensch in einer solchen Intensität lange nicht mehr wahrgenommen habe. Meine Sinne hüpfen vor Freude. „Früher haben die Kekse intensiver geschmeckt als heute, die wurden damals noch vom Bäcker mit guter Butter gebacken“, bemerkt Rosemarie beim Probieren der Billigkekse. Ich schäme mich ein wenig für die von mir auf die Schnelle gekaufte Tüte, denn schließlich hatte ich eigentlich genug Zeit, vernünftige Plätzchen zu backen und nehme mir vor, bei meinem nächsten Besuch die besten selbstgebackenen Kekse der Welt mitzubringen. Rosie schaut erwartungsvoll zu mir herüber. „Na, was wollen wir jetzt machen Christine? Ich darf doch Christine zu dir sagen und Du sollten wir auch sagen. Schließlich erzähle ich dir viele Dinge aus meinem Leben, die noch niemand gehört hat. Also, ich bin die Rosi.“ „Gerne, Rosi. Ich bin Chris, so nennen mich mein Freunde.“ Es ist sehr ungewohnt für mich, eine erheblich ältere Dame mit ihrem Vornamen anzusprechen. So bin ich nicht erzogen worden, und tatsächlich kostet mich die erste Anrede ziemliche Überwindung. „Rosi, hast du eigentlich Fotos gefunden?“ Sie holt einen verstaubten Schuhkarton aus dem Wohnzimmer. „Ja, schau mal, der stand einsam und verlassen im Keller auf einem Heizungsrohr. Diesen verdreckten Bilderkarton habe ich ganz vergessen. Der einstmals weiße Schuhkarton ist voll mit uralten Fotos. Ich wollte sie immer mal sortieren, aber anscheinend kam ständig etwas dazwischen. Selbst ein Fotoalbum habe ich vor 3 Jahren gekauft. Aber naja, du weißt ja wie das ist, aus den Augen aus dem Sinn. Ich habe sie gestern Abend noch kurz durchgesehen, und einige der Fotos sind noch sehr gut erhalten. Was du gebrauchen kannst, nimm bitte mit, aber nach Durchsicht bitte wieder zurückbringen.“ Ich stelle das kleine Diktiergerät auf den Tisch und schalte es ein. Der Karton mit den Fotos ist derweil auf meinem Schoß gelandet, und ich krame meine Lesebrille aus der über-großen Umhängetasche hervor, in der schon so manches Utensil auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Rosemarie Wilke benötigt mit ihren über 80 Jahren noch keine Brille. „Rosi, erzähl mal an was du dich aus deiner Kindheit erinnerst. Kannst du dich denn überhaupt noch an deine Kindheit erinnern?“ „Klar, ich bin doch noch nicht verblödet.“ „Entschuldige, so war das nicht gemeint.“ Das geht ja gut los denke ich mir. „Schon gut, soll ich in das Aufnahmegerät sprechen?“ „Nein, vergiss den kleinen Kasten und plaudere einfach frei von der Leber drauf los. Alles, was dir so spontan einfällt.“ Erst jetzt wird mir bewusst, was ich der alten Dame zumute. Diese Erinnerungen könnten durchaus teilweise sehr schmerzhaft sein, denn auf den vergilbten schwarz/weiß Fotos, die ich vor mir auf dem Kaffeetisch ausgebreitet habe, sehe ich überwiegend Personen, die aufgrund ihres Alters schon lange verstorben sein müssen oder ein schweres Schicksal hinter sich haben. Andererseits sind darauf aber auch lachende Menschen zu sehen. Rosi beginnt zu erzählen. „Also, ich bin mitten im Hochsommer 1932 in Sackisch geboren, übrigens am selben Tag, wie ich neulich in einer dieser Frauenzeitschriften lesen konnte, wie Bill Haley und Silvester Stallone, allerdings in anderen Geburtsjahren, aber das nur nebenbei.


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