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> Zeitzeugen > Meine Kindheit in Rotterdam
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Bücher Zeitzeugen
Buch Leseprobe Meine Kindheit in Rotterdam, Frido van de Visser
Frido van de Visser

Meine Kindheit in Rotterdam


Gewalt in Heimen und Pflegefamilien

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Ich bin das zwölfte von dreizehn Kindern und feierte gerade meinen dritten Geburtstag. Während mein Vater mit mir am großen Tisch saß, auf dem sich die Reste meiner Geburtstagstorte befanden, rannte meine Mutter schimpfend in der Wohnung hin und her. Meine Eltern hatten sich kurz zuvor mal wieder lautstark gestritten. Wie immer unterstellte sie ihm, er sei fremdgegangen, und er ihr, sie würde Gespenster sehen und ihre Einbildungen zur Realität verdrehen. Diese Streitereien waren inzwischen zu einer Art Ritual geworden, um sich gegenseitig zu verletzen und niederzumachen. Ob mein Vater wirklich nebeneheliche Affären hatte oder nicht, ist mir bis heute nicht bekannt. Ich fand es als Kind einfach nur schrecklich, dass sie sich überhaupt stritten. Wie gütig man miteinander umgehen konnte, erlebte ich immer wieder, wenn sich meine älteren Geschwister gegenseitig trösteten und Mut zusprachen, sollte mal wieder der Haus-segen schief hängen. Obwohl sie immer wieder versuchten, das gröbste Übel von mir fernzuhalten, bekam ich natürlich doch das meiste davon mit. Es war ja auch kaum zu überhören. Meine älteren Geschwister hatten eine Art Familie innerhalb der Familie gegründet und organisierten den größten Teil des Alltagsablaufes selbstständig. Wie ich später erfahren sollte, hatte sich diese Art des Zusammenlebens schon ein paar Jahre vor meiner Geburt Stück für Stück entwickelt. Der Zusammenhalt meiner Geschwister entsprang wohl einer simplen Überlebensstrategie, da unsere Eltern sich kaum Zeit für uns nahmen und lieber stritten oder außer Haus aufhielten, als sich um uns zu kümmern. Innerhalb der Geschwisterschar hatte sich nicht nur eine liebevolle Rangordnung herauskristallisiert, sondern auch eine mehr oder weniger festgelegte Arbeitsteilung. Während die älteren Mädchen kochten und wuschen, also die Haushaltsführung innerhalb der Wohnung übernommen hatten, waren die Jungen für Heizmaterial, kleinere Reparaturen und die Einkäufe zuständig. Kurz nach meinem dritten Geburtstag kam es zum großen Knall. Meine Mutter hatte meinen Vater dermaßen verhöhnt und erniedrigt, dass ihm die Hand ausrutschte und er meiner Mutter mehrere schallende Ohrfeigen gab. Jetzt war das Maß offensichtlich voll. Während er schnell erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte und winselnd um Entschuldigung bittend hinter ihr her kroch, packte sie eisern schweigend eine Reisetasche und verließ das Haus. Ob sie diesen unschönen Schlussstrich ab-sichtlich provoziert hatte oder nicht, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis. Obwohl sich diese Szenen direkt vor unseren Augen abgespielt hatten, sah sich unser Vater nicht dazu genötigt, uns eine Erklärung abzugeben. Kurz nachdem unsere Mutter die Wohnung verlassen hatte, zog auch er seinen Mantel über und ver-schwand. Dass wir beide nie wieder sehen sollten, war uns in dem Moment noch nicht klar. Ob wir ehrlich auf ihre Rückkehr warteten, bezweifele ich von heute aus gesehen. Der Alltag lief auch ohne sie sehr gut. Drei Monate später klingelte es nachmittags an unserer Wohnungstür. Meine älteste Schwester öffnete. Draußen stand eine Frau um die fünfzig und erklärte uns, sie sei vom Jugendamt geschickt worden, um unsere Wohnsituation zu überprüfen. Meine älteste Schwester ließ sie ein und führte sie durch die Räume. Kopfschüttelnd und vor sich hin flüsternd inspizierte die Frau ein Zimmer nach dem anderen. „So kann das nicht weitergehen.“ „Wieso? Was machen wir denn falsch? Es läuft doch alles prima.“ „Geht ihr denn alle regelmäßig zur Schule?“ „Wir Älteren kümmern uns um die Jüngeren und sorgen dafür, dass alles perfekt läuft. Alle, die alt genug sind, gehen zur Schule. Ich zum Beispiel, habe die Schule lange hinter mir und beschäftige mich mit den Kleinsten. Abends helfe ich beim Einräumen der Regale im nahen Einkaufsladen. So kann ich ein paar Gulden verdienen und komme obendrein günstig an Lebensmittel. Mein nächstjüngerer Bruder macht eine Lehre zum Tischler und hackt nebenher für einige Nachbarn Feuerholz. Manchmal hilft er auch bei Wohnungsrenovierungen. Die Geschwister, die noch zur Schule gehen, tragen Zeitungen aus oder gehen für ein paar ältere Leute einkaufen. Auf diese Weise können wir uns einigermaßen über Wasser halten. Wir brauchen ja nicht viel.“ „Nein, nein, so kann das nicht bleiben. Ihr müsst hier raus. Wer soll denn die Miete bezahlen? Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr eure Eltern ersetzen könnt. Ihr könnt euch noch so viel Mühe geben, Eltern sind und bleiben nun mal Eltern.“ „Aber das machen wir doch schon seit einigen Jahren so. Unsere Eltern haben sich nie um uns gekümmert.“ „Das kann ich nicht so ganz glauben. Kinder können Eltern niemals ersetzen.“ „Ja, gute Frau, wo sind denn dann unsere liebenden Eltern?“ „Mir ist zugetragen worden, dass sie sich getrennt haben und jetzt mit neuen Partnern zusammenleben. Diesen kann man wohl kaum eine solche Kinderschar zumuten. Da würden ja alle neuen Partner sofort Reißaus nehmen. Ich denke, es ist das Beste für euch, wenn ihr alle gemeinsam in ein Heim übersiedelt.“ „Aber warum denn? Es funktioniert doch alles gut.“ Obwohl ich erst drei Jahre alt war, konnte ich die Verzweiflung meiner großen Schwester ganz deutlich spüren. Sie kämpfte um uns, ihre Großfamilie, und verlor. Nach zwei Wochen wurden wir abgeholt und in ein Heim in der Nähe von Limburg gebracht. Noch während wir unsere Sachen packen mussten, versuchte meine älteste Schwester, die Frau vom Jugendamt, die den Umzug begleitete, umzustimmen. Es half nichts. Diese Frau war nicht einsichtig. Sie war ausschließlich wichtig und rechthaberisch. Nach einigen Monaten im Heim, wurden wir, obwohl die Frau vom Jugendamt meiner ältesten Schwester versprochen hatte, wir könnten zusammenbleiben, getrennt und auf verschiedene Pflegefamilien verteilt. Ich musste miterleben, wie ein Geschwister nach dem anderen weggebracht wurde. Ich wurde gemeinsam mit meiner Schwester Hanny zu Pflegeeltern nach Rotterdam gebracht. Wir kamen im Dunkeln an und ich erinnere mich noch an die beleuchtete Straße und an die Straßenbahn. Das beeindruckte mich sehr, da ich zuvor noch nie eine Straßenbahn gesehen hatte. In einem mehrstöckigen Altbau mitten in der Stadt mussten wir mehrere Treppen emporsteigen. Als ich mein neues Zuhause betrat, fiel mir sofort ein großes Aquarium auf, das im Wohnzimmer aufgebaut war. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass erst in dieser Zeit meine Erinnerungen einsetzen. Für mich war damals meine Pflegefamilie keine Pflegefamilie. Für mich war es meine richtige Familie. Alles was davor passiert ist, weiß ich aus den Erzählungen meiner älteren Geschwister. Anderes ist mir erst Jahrzehnte später selbst wieder eingefallen. Ich war einfach noch zu klein, um die Ereignisse und Zusammenhänge zu verstehen. Wir bewohnten gemeinsam mit unseren neuen Eltern die beiden obersten Etagen in dem Mietshaus und ich erinnere mich noch, dass die Eisenbahntrasse genau an meinem Zimmerfenster im Abstand von vier oder fünf Metern vorbeiführte. Die Gleise verliefen auf der Höhe meines Zimmers in etwa zehn Metern Höhe auf einem gemauerten Bahndamm, in dem es in den Rundbögen Geschäfte gab. An das Rattern der vorbeifahrenden Züge musste ich mich erst gewöhnen. Ab und zu bebte auch mal der Fußboden meines Zimmers, wenn ein schwerer Güterzug vorbeifuhr. Schule und Kirche lagen ganz in der Nähe. Wenn ich über die Bahn hinwegschaute, konnte ich sie direkt vor mir sehen. Hatten sich meine richtigen Eltern eher untereinander gestritten und uns selten angebrüllt oder gar geschlagen, so sah die Lage hier etwas anders aus. Während unser neuer Vater immer sehr freundlich zu uns war, stapfte unsere neue Mutter meistens furienhaft durchs Haus. Ihre eigenen Töchter, wurden buchstäblich in Watte gepackt. Wir wurden dagegen fast ausschließlich angeschrien und ver-prügelt. Die Töchter des Hauses waren wesentlich älter als wir und kümmerten sich nie um uns. In ihren Augen waren wir wohl Abschaum, dem man besser aus dem Weg geht.


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