Kapitel 1 Die vierzehnjährigen, zweieiigen Zwillinge Andreas und Christian saßen zusammen mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Daniel und Mama am Küchentisch. Die Familie aß gerade zu Abend. Daniel fragte: „Wie soll das denn morgen ablaufen?“ Morgen, das war für Andreas und Christian der reinste Schicksalstag. Da sollten sie ihr Zuhause in Garmisch-Partenkirchen verlassen. Hier waren sie geboren und hatten sogar in ein und derselben Wohnung ihr gesamtes Leben verbracht. Zugegeben, es war nicht viel Platz. Das einzige Kinderzimmer hatten sich die drei Brüder teilen müssen, ehe der Älteste ausgezogen war, weil ihn sein Beruf in die Nähe von Würzburg verschlagen hatte. Aber sie kannten es nicht anders. Nun hatten jedoch Mama und Papa neue Arbeitsstellen gefunden. Und diese lagen nicht gerade um die Ecke! Nein, für die Familie Moosleitner sollte es an den Ammersee gehen! Papa war bereits seit zwei Monaten dort. Er hatte den Posten des Geschäftsführers in einem kleinen Hotel übernommen. Er war gelernter Hotelkaufmann und hatte bisher hier am Ort gearbeitet. Mama dagegen hatte schon viele unterschiedliche Tätigkeiten ausgeübt. Sie hatte als Sekretärin, als Empfangsdame und als Buchhalterin gearbeitet, um nur einige zu nennen. All das war ihr immer etwas einseitig vorgekommen. Umso mehr kam es ihr entgegen, dass sie nun einen Job als Mädchen für alles angeboten bekommen hatte. Und was noch besser war – zumindest aus Mamas Sicht – war die Tatsache, dass sich ihr neuer Arbeitsplatz direkt im Nebengebäude zu dem ihres Mannes befand. Dort war nämlich der Bereich für Familien und Reiter untergebracht. „Kinder, ich freue mich schon so“, verkündete Mama da, erst einmal, ohne direkt auf die Frage ihres Ältesten einzugehen, den man ja auch nicht mehr als Kind bezeichnen konnte. „Ihr wisst doch, wie gerne ich früher geritten bin. Ich hoffe, dass ich in Zukunft auch wieder dazu kommen werde. Ich meine, wenn wir die Pferde schon fast im Haus haben.“ „Bist du für den Stall auch mitverantwortlich?“, stellte Daniel erneut eine Frage. „Ja, alles, was mit den Urlaubern zu tun hat, die auch reiten wollen, gehört zu meinem Aufgabenbereich. Und traumhaft gelegen ist das! Ihr werdet es ja morgen sehen.“ Christian warf Andreas einen vielsagenden Blick zu. Natürlich hörte sich das alles ganz toll an, wie Mama da schwärmte. Dennoch! Sie mussten die Schule wechseln, ihre Freunde verlassen und sich von der ihnen so vertrauten Umgebung verabschieden. Und ganz ehrlich, das wollten die beiden nicht. „Ihr macht ja Gesichter, als würde man euch zur Schlachtbank führen“, stellte Mama fest. „Die ganzen Ferien liegen vor euch! Wie kann man denn da so Trübsal blasen?“ „Weil wir nicht nur die Ferien, sondern unser ganzes Leben an einem Ort verbringen sollen, den wir nicht einmal kennen“, stieß Christian hervor. „Wir hatten Pläne! Wenn ich mir denke, was unsere Klassenkameraden jetzt alles zusammen und ohne uns machen werden!“ „Ihr werdet auch am Ammersee Freunde finden, da bin ich mir ganz sicher“, versuchte Mama, ihre Söhne zu trösten. Daniel versuchte es erneut: „Also, wie hast du dir das morgen vorgestellt? Kommt Papa her und hilft?“ „Nein, Papa kann nicht weg. Aber er erwartet uns ab Mittag. Beim Ausladen und Einräumen der neuen Wohnung ist er dann dabei. Stellt euch nur vor, wie viel Platz wir endlich haben werden! Andi und Chris bekommen jeder ein eigenes Zimmer.“ Sie wandte sich an die Zwillinge. „Und dann ist sogar noch ein extra Arbeitszimmer da. Die Wohnung wird uns vom Hotel gestellt und geht über zwei Etagen. Sie ist frisch renoviert.“ Mama schweifte schon wieder von Daniels Frage ab. Dann besann sie sich. „Eure Omas und Opas kommen morgen gleich ganz früh. Das meiste haben wir ja eh schon gepackt. Für neun Uhr ist der Umzugswagen bestellt. Der wird beladen. Ein paar Kleinigkeiten kriegen wir sicher auch noch in unsere Autos. Und dann geht es ab an den Ammersee. Hab ich euch schon erzählt, dass ein kleiner Fluss, die Windach, direkt an dem Hotelgelände vorbeifließt?“ „Warum heißt es dann nicht Reiterhotel Windachauen?“, wollte Andreas wissen. „Amperauen klingt besser“, stellte Daniel fest. „Aber dann sollte doch lieber die Amper vorbeifließen. Findet ihr nicht?“, beharrte Andreas. „Tut sie ja auch, nur eben ein paar Meter weiter. Das ist der Fluss, der direkt aus dem Ammersee herauskommt“, erklärte Mama. „Und die Windach fließt in die Amper. Aber das könnt ihr euch alles selber anschauen.“ „Es wollen wirklich alle unsere Großeltern zum Helfen kommen?“, vergewisserte Daniel sich. Es war nämlich so, dass sich Papas Eltern schon vor langer Zeit hatten scheiden lassen. Er war damals selbst erst zwölf Jahre alt gewesen. Beide hatten erneut geheiratet. So kam es, dass Daniel, Andreas und Christian jeweils drei Omas und Opas hatten. Zu allen sechs hatten sie ein gutes Verhältnis. „Cool! Die Dießener haben wir ja schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen“, freute sich Andreas nun. „So sind wir morgen zu zehnt, das sollte zu machen sein. Schließlich packen wir seit Wochen“, gab Mama sich optimistisch. „Und Eching liegt viel näher an Dießen als Garmisch-Partenkirchen“, warf sie ein. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich jetzt öfter bei uns blicken lassen.“ „Dafür werden die anderen vier nicht so oft auftauchen. Für die ist es jetzt dann ein ganz schöner Schlauch, wenn sie uns besuchen wollen“, gab Christian zu bedenken. Mamas Eltern wohnten ebenfalls in Garmisch-Partenkirchen, gar nicht weit entfernt von hier. Die andere Hälfte von Papas Verwandtschaft war auch nur etwa dreißig Kilometer entfernt. „Wir finden bestimmt eine Möglichkeit, um in Verbindung zu bleiben“, tröstete Mama. „Und jetzt helft mir bitte beim Abräumen! Ich muss die Spülmaschine noch laufen lassen, damit wir das Geschirr morgen gleich einpacken können.“ Später lagen die drei Brüder zusammen im Kinderzimmer – wie in alten Zeiten. Allerdings gab es Daniels Bett nicht mehr. Er musste sich bei seinen Besuchen mit einer zusammenklappbaren Matratze zufriedengeben. „Na? Was sind das für Aussichten, künftig in einem Hotel zu wohnen, in dem auch Pferde zu Hause sind?“, stichelte Daniel. „Ob man die dann sogar in den Zimmern riecht?“ „Ha ha“, gab Christian zurück. „Wir würden auch lieber hierbleiben, das weißt du ganz genau. Andererseits freut sich Mama so sehr auf diesen neuen Job.“ „Sie ist doch seit Jahrzehnten auf keinem Pferd mehr gesessen“, entgegnete Daniel. „Wahrscheinlich kann sie das Reiten ganz neu lernen. Und dafür wird sie gar nicht die Zeit haben. Ihr werdet schon sehen, die Freude ist von kurzer Dauer.“ „Hauptsache, du kannst morgen Abend wieder abhauen, wenn du deine Schuldigkeit getan hast“, rief Andreas dazwischen. „Aber hallo!“, stimmte Daniel zu. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich in diesem Hotel wohnen müsste, wo ständig einer mit Pferdemist an den Stiefeln angelatscht kommt … nein danke.“ „Eigentlich mag ich Pferde ja auch“, gab Andreas schließlich zu. „Früher ist Mama doch immer mit uns zu den Ponys gegangen, die der Santer-Bauer damals hatte.“ „Stimmt!“, fiel es nun auch Christian ein. „Das war lustig! Ich hab es ganz vergessen. Waren immer schöne Stunden. Mama war so glücklich! Da hatte sie ganz automatisch bessere Laune und hat sich Zeit für uns genommen.“ „Das mit dem Zeit nehmen fand ich auch gut, aber wir hätten gerne etwas anderes unternehmen können, als zu diesen Ponys zu gehen“, gab Daniel zu bedenken. „Nein, das fand ich schon in Ordnung. Die haben einen immer mit ihren großen Augen angeguckt“, erinnerte Christian sich. Daniel widersprach: „Weil sie gehofft haben, dass wir Leckerbissen für sie dabei hatten. Das waren vielleicht kleine verfressene Biester.“ „Also reinschauen will ich auf jeden Fall mal in diesen Pferdestall“, nahm Christian sich nun vor. „Zum Gucken komme ich auch mit“, stimmte Andreas ihm zu. Die beiden machten viel gemeinsam. Sie waren nicht nur Zwillingsbrüder, sondern auch die besten Freunde. Daniel brummte etwas Unverständliches und meinte dann: „Wir sollten jetzt vielleicht wirklich eine Runde pennen. Morgen wird bestimmt anstrengend.“ Bald waren von ihm nur noch gleichmäßige Atemzüge zu hören. Andreas schlief ebenfalls nach kurzer Zeit ein. Nur Christian lag noch wach. Er versuchte, sich das Reiterhotel vorzustellen. Wie es dort wohl aussah? Was für Pferde die dort hatten? Die Ponys bei dem Bauern hatten sie hauptsächlich putzen und streicheln dürfen. Manchmal war Mama auch mit einem davon spazieren gegangen. Dann hatten die Brüder abwechselnd reiten können. Das alles hatte er fast vergessen. Erst jetzt, wo Andreas es erwähnt hatte, war die Erinnerung daran zurückgekommen. Christian hatte diese Spaziergänge mit den Ponys immer sehr genossen. Es hatte sich angenehm angefühlt, wie sich die Tiere bewegten, während man auf ihnen saß. Er hatte sogar bitterlich geweint, als Mama ihnen erklärt hatte, dass die Ponys verkauft worden waren. Ob ihm Reiten immer noch Spaß machen würde? Vielleicht konnte er das ja in diesem Hotel zumindest ausprobieren. Er drehte sich auf die andere Seite, doch auch hier wollte der Schlaf nicht kommen. Schließlich stand Christian noch einmal auf. Leise schlich er aus dem Zimmer und wollte sich zur Küche wenden. Da entdeckte er, dass im Wohnzimmer Licht brannte. War Mama denn noch auf? Sie hatte doch früh ins Bett gehen wollen! Langsam drückte Christian die Wohnzimmertüre auf. Tatsächlich! Da saß Mama auf der Couch und starrte auf den Fernseher. Die Türe knarzte leise, daher wurde sie auf Christian aufmerksam. „Nanu? Was machst du denn hier?“ „Ich kann nicht schlafen“, gestand Christian ehrlich. „Und du?“ „Ich auch nicht“, schloss Mama sich an. „Weißt du, ich freue mich so sehr auf unser neues Leben. Und trotzdem bin ich schrecklich aufgeregt. Ein Zurück gibt es ja schließlich nicht mehr – allein schon wegen Papas Job. Er ist so glücklich, dass er endlich einen Geschäftsführerposten bekommen hat.“ „Du Mama, Andreas ist da etwas eingefallen“, erzählte Christian. „So? Was denn?“ „Unsere Ausflüge früher zu den Ponys beim Santer“, antwortete Christian. Mama seufzte. „Das war eine schöne Zeit. Du warst so traurig, als die Ponys weggekommen sind. Aber vielleicht fängst du ja im Amperauen richtig mit dem Reiten an. Andreas ging es damals ähnlich.“ „Daniel zieht uns damit auf, dass wir in Zukunft mit Pferden unter einem Dach leben werden“, berichtete Christian. Mama legte den Arm um ihren Sohn. „Du kennst doch Daniel. Der hat euch schon immer gern geärgert. Und wenn es dich beruhigt, die Pferde stehen nicht im selben Gebäude. Im Gegenteil, man muss auf die andere Straßenseite und dann noch hundert Meter weiter, ehe man zu ihnen kommt. Das zeige ich euch morgen alles. Ich war nämlich auch noch nicht im Stall. Aber immerhin habe ich ihn kurz von außen gesehen, als wir damals bei dem Vorstellungsgespräch waren.“ „Mama, was sollen wir machen, wenn es uns dort nicht gefällt?“, fragte Christian plötzlich gerade heraus. „Gute Frage“, antwortete Mama. „Man kann es nie vorher wissen, aber wir können ohne Vorurteile an die Sache rangehen und auf jeden Fall das Beste daraus machen. Meinst du nicht auch?“ Christian nickte. Manche seiner Freunde hatten kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Bei ihm und seinen Brüdern war das anders. Sie konnten mit allen Problemen zu Mama und Papa gehen. Die hatten bisher immer eine Lösung oder wenigstens Trost gehabt. Und in der Regel hatte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst – eben, weil die Familie so gut zusammenhielt. „Magst du noch ein bisschen mit mir fernsehen?“, fragte Mama. Christian nickte und machte es sich in Papas Lieblingssessel bequem.
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