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Science Fiction
Buch Leseprobe Vernichtung, Pascal Wokan
Pascal Wokan

Vernichtung


Weiße Edition

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»DA KOMMT DER HELD VON BEIRUT!« Henry Wilson betrat den Saal und präsentierte das freundlichste Lächeln, zu dem er fähig war, wobei es ein wenig verkrampft geriet. So viel Zuspruch war er nicht gewohnt. »Seit heute ist es offiziell, der Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina wurde unterzeichnet. Und das haben wir unserem britischen Diplomaten Henry Wilson zu verdanken!« Der Sprecher, ein untersetzter Mann im schwarzen Anzug mit einem Bauch wie eine Bowlingkugel, erhob sein Champagnerglas. »Auf ihn, unseren Helden!« Der Saal bebte unter dem schallenden Applaus. Henry schüttelte Hände von Diplomaten, einflussreichen Unternehmern, Schutzherren anerkannter Religionsgruppen und Politikern aus der ganzen Welt, darunter sogar Parlamentariern aus London, seiner Heimatstadt. Es mussten hundert Gäste geladen sein, mindestens. Der Gesprächslärm schwoll an und begleitete ihn, wohin auch immer er sich bewegte. Er konnte kaum ein Wort verstehen, genoss aber die Zustimmung und die warmen Worte, die aus allen Ecken an seine Ohren drangen. Manche Beglückwünschungen gingen runter wie Öl. Kein unbedeutender Teil der Anwesenden hatte an ihm gezweifelt. Aber ich habe es allen gezeigt, fügte er in Gedanken hinzu. »Eine Freude, Sie zu sehen«, sagte er zu einem einheimischen Religionsvertreter, den er nur flüchtig kannte. »Ah, Sie sind auch gekommen?« Er schüttelte die Hand eines bekannten Unternehmers aus Tel Aviv, den er nur oberflächlich kannte. »Vielen Dank! Ja, genau, es ist mir auch ein Vergnügen. Schön, dass Sie da sind.« Die Nacht war noch jung und die letzten Ausläufer der Sonne fielen durch die Arkadenfenster, aber irgendjemand hatte darauf bestanden, den sündhaft teuren Kronleuchter in aller Pracht erstrahlen zu lassen, und zu allem Überdruss brannten Bienenwachskerzen in filigranen, goldenen Halterungen an den gekachelten terracottafarbenen Wänden. Dazwischen reihten sich Ornamentbögen aneinander, jeder Bogen war mit Glaubensbekenntnissen einer anderen Religion beschrieben. Lange Tischreihen bogen sich unter einem üppigen Büffet, beladen mit traditionellen Gerichten aus dem Libanon, darunter Baklava, Hummus und sogar Layali Lubnan, ein Dessert aus Milch, Rosenwasser und Pistazien, das Henry während seiner Aufenthalte am Gaza-Streifen liebgewonnen hatte. Bei dem Anblick knurrte sein Magen und sandte stumme Schreie aus, aber er musste erst noch einigen Verpflichtungen nachkommen, ehe er einen Moment der Ruhe hatte. Schließlich wollte man sich in seinem Glanz sonnen, wie es zumeist bei Menschen der Fall war, die eine Gelegenheit beim Schopf packen wollten. Henry kam ins Schwitzen, während er unzählige Hände schüttelte, kurze Begrüßungen austauschte und halbherzige Glückwünsche entgegennahm. Die Gesichter verschwammen vor seinen Augen, aber für jeden hatte er ein Lächeln und ein Dankeschön. Während er sich langsam durch den Saal arbeitete, nicht einmal mehr mitbekam, wem er gerade die Hand gab, war er ganz auf die kleine Gestalt am anderen Ende fixiert, die ein Lächeln auf seine Lippen zauberte. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, wiegelte er eine alte Frau ab, die ihm gerade berichtete, wie beeindruckend sie seine Arbeit fand, und schob sich durch die Menge. Schneller als er gucken konnte, prallte ein kleiner Körper gegen seine Beine und umschlang sie. Er streichelte über den schwarzen Zopf, ging in die Knie und atmete erleichtert auf. »Akila, mein kleiner Schatz.« »Papa!«, piepste Akila und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Ich hab dich vermisst.« »Ich dich auch. Wie war der Flug? Alles in Ordnung? Oder hattest du wieder Angst?« Akila schob die Unterlippe vor und schüttelte trotzig den Kopf, wie sie es immer tat, wenn sie ihm etwas beweisen wollte. »Ich hatte nicht ein einziges Mal Angst! Hudi war bei mir.« Sie hielt den ausgefransten Plüschbären hoch, den sie überallhin mitnahm. »Mama hat mir gesagt, dass er Angst hat, also habe ich ihm geholfen. Er war ganz tapfer.« »Das hast du wirklich gut gemacht. Ich bin sehr stolz auf dich.« Henry stand auf und nahm sie an die Hand. »Wo ist Mama?« Akila deutete nach rechts zu einem Beistelltisch, an dem eine Frau von mehreren Männern umringt stand, die selbst nach zehn Jahren sein Herz höherschlagen ließ. Ihre Haut war kaffeebraun, kräftiges, schwarzes Haar fiel in Wellen über ihre schmalen Schultern und sie trug ein elegantes, cremefarbenes Abendkleid, obwohl sie normalerweise keinen Wert auf solche Dinge legte. Bereits als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war er sicher gewesen, dass er mit ihr sein Leben verbringen wollte. »Gadi, mein Sonnenschein«, sagte er, als er vor ihr stehenblieb, ihre Hand nahm und einen sanften Kuss darauf hauchte. Er wusste, dass sie ihn für seine vornehme Art liebte. »Henry, mein Mondlicht«, sagte sie mit rauchiger Stimme, umfasste mit beiden Händen seine Wangen, hauchte ihm Küsse auf Stirn, Kinn und Backen, bis sich endlich ihre Lippen begegneten. »Ehrlich gesagt, habe ich mit euch gerechnet«, meinte er, als sie sich wieder lösten. »Mach dich doch nicht lächerlich, Henry. Glaubst du ernsthaft, dass ich mir den größten Moment deiner Karriere entgehen lasse?« Gadi lachte leise. »Nicht in tausend Jahren! Außerdem will ich dich nochmal gesehen haben, bevor das neue Jahr beginnt.« »Ah«, seufzte er. »Es ist so viel passiert, dass es mir beinahe entglitten wäre.« Tatsächlich hatte er gar nicht daran gedacht, dass es der Vorabend zu Neujahr war. »Du wirst vergesslich, mein Lieber.« »Zu viel auf einmal. Wo wurdet ihr untergebracht?« »Nicht weit von hier. Bachara hat sich um alles gekümmert.« »Er ist hier? Wo denn?« Henry sah sich in der Menge um, die das zum Anlass nahm, ihm erneut zu applaudieren. Er winkte schwach und wandte sich Gadi wieder zu. »Keine Sorge, wenn es Allahs Wille ist, werdet ihr euch schon noch begegnen.« »Bei der Menschenmenge?« Gadi zog seinen Schlips zurecht. »Die Unsicherheit passt nicht zu dir. Du bist ein Pragmatiker, Henry. Vergiss das nicht. Außerdem hast du es geschafft. Heute Abend bist du der Star.« »Das kann sich schnell ändern. Du weißt doch, wie die Oberschicht ist.« Sie legte einen Finger auf seine Lippen. »Nicht heute. Genieße es, du hast es verdient.« Er stieß einen Seufzer aus, der alles ausdrückte, was in ihm vorging. »Du weißt nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen. Die letzte Zeit war«, er zögerte, »nennen wir die letzte Zeit ereignisreich.« »Das kann man wohl sagen. In England gibt es keinen Sender, der nicht ununterbrochen von deinem Erfolg berichtet. Es ist beinahe anstrengend, zumal das die einzige Gelegenheit ist, bei der ich meinen Ehemann sehen kann.« Ihm entging nicht der Vorwurf in ihrer Stimme, aber sie hatten schon im Vorfeld lang und ausgiebig über die Situation diskutiert. Es war nicht leicht, ein ganzes Jahr getrennt von der Familie in einem fremden Land zu verbringen und nur alle zwei Monate einen kurzen Besuch zu machen, aber das war das Opfer, das er eingegangen war, um seinem Lebensziel einen Schritt näherzukommen. Und es hatte sich ausgezahlt, nicht nur für ihn. »Du siehst blass aus.« Gadi musterte ihn kritisch vom Scheitel bis zur Sohle. »Nicht, dass du noch vom Fleisch fällst. Du solltest etwas essen.« Er konnte ihr nie widersprechen, so sehr er sich auch bemühte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er ohne sie machen würde. »Es war eine anstrengende Zeit. Ich kam mir manchmal vor wie in einem Käfig voller Narren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie zäh die Verhandlungen waren. Vor allem, weil man hier eine Sprache spricht, die sich offenbar aus drei unterschiedlichen Sprachen zusammensetzt.« »Das ist der Libanon, Henry. Du wusstest, worauf du dich einlässt.« »Ja. Wenn man den Libanon verstehen will, muss man sich eine Herberge ohne Gastwirt vorstellen. Jeder tut, was er will, und jeder verrät den anderen, nur um einen Vorteil zu ziehen …« »Das ist wohl die treffendste Beschreibung, die ich jemals gehört habe, Mister Wilson.« Er zuckte beim Klang der Worte zusammen. »Ist schon gut«, meinte Gadi lächelnd. »Spiele den Diplomaten. Wir reden später. Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.« Sie strich vielsagend über ihren Bauch. »Bist du etwa …?« »Später!«, unterbrach sie ihn und schob ihn sanft weg, damit er sich dem feisten Mann zuwenden konnte, dem die Ungeduld bereits anzumerken war. »Einen Moment!«, sagte Henry, stibitzte sich ein Kibbeh vom Büffet, das er geschwind in den Mund schob. Gott, was hatte er Hunger! Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war ein bedeutender britischer Politiker und Großunternehmer, dem er schon ein paarmal über den Weg gelaufen war. Er war einer seiner großen Förderer gewesen, hatte sich mehrfach eingesetzt, dass Henry die Verantwortung für die Friedensverhandlungen bekam, und vermutlich wollte er nun seine Lorbeeren einheimsen. »Sir Arthur Richardson.« Henry hielt ihm die Hand hin. »Mister Wilson, eine Freude, dass wir uns heute Abend wiedersehen.« Richardson langte kräftig zu und zog ihn zu sich. »Sie wissen natürlich, dass ich Ihr größter Fan bin.« »Natürlich. Ich verdanke Ihnen und Ihrem Einfluss viel.« »Ach was!« Richardson legte einen fleischigen Arm um seine Schulter. »Ich liebe Pferderennen.« Henry runzelte die Stirn. »Verzeihung, Pferderennen?« »Gewiss! Mein Vater hat mich schon zu Pferderennen mitgenommen, als ich noch ein Jungspund war.« Er hielt seine Hand einen Meter über den Boden. »So klein war ich damals. Kaum jemandem ist bewusst, was man alles beim Pferderennen lernen kann. Ich habe auf das beste Pferd gesetzt und gewonnen.« Henry kämpfte sein Unbehagen nieder. »Wie auch immer, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.« »Wer sonst wäre in der Lage gewesen, einen Friedensvertrag am Gaza-Streifen auszuhandeln? Hört mir zu, liebe Freunde, habe ich zu ihnen gesagt. Dieser Mann wird Geschichte schreiben. Jawohl!« Henry wand sich aus dem Arm. »Ich gebe zu bedenken, dass es kein Friedensvertrag ist, sondern ein Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit.« »Papperlapapp. Es ist genau das, was wir den Menschen da draußen verkaufen.« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht. »Viele haben mich gefragt, warum ich ausgerechnet Henry Wilson so sehr vertraue. Dort draußen gab es so viele Nato-Diplomaten, die viel besser für die Aufgabe geeignet waren. Ich sag dir was, mein lieber Henry. Denen haben wir es aber ordentlich gezeigt!« Woher der vertraute Umgang plötzlich kam, konnte sich Henry nicht erklären. Aber es konnte nur von Vorteil sein, einen so wichtigen Förderer hinter sich zu wissen, auch wenn er den Mann genau genommen nicht leiden konnte. Das Oberschichtgehabe war einfach nicht sein Ding. Richardson wurde in ein Gespräch verwickelt, was Henry ausnutzte und sich schnell davonstahl. Er schwitzte, das Hemd klebte unangenehm an der Brust. Tatsächlich transpirierte er dauerhaft, seitdem er sich in Beirut aufhielt. An die schwüle Feuchtigkeit und das Klima würde er sich als echter Brite wohl nie gewöhnen. Aber er ertrug es wie ein Mann und überspielte sein Unbehagen. »Hier steckst du also!« Henry bemerkte, wie sich seine Stimmung schlagartig hob. Hinter ihm stand ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters mit glattrasiertem, kräftigem Kinn und großen, wachen Augen. Die Uniform eines britischen Soldaten wölbte sich über dessen breiten Schultern. Major Bachara Al Ghabra, ein Freund, den er seit Kindestagen kannte. Henry nahm ihn in eine Umarmung und schob ihn wieder von sich. »Shu fi?«, fragte er und bewegte charakteristisch seine Hand mit, wie es sich im Libanon gehörte. »Scheiße, du hast es immer noch nicht gelernt?« Bachara machte es richtig vor. »Du bist sowas von unfähig, Henry. So geht das! Außerdem, warum siehst du so blass aus? Ich kenne keinen anderen Menschen, der sich ein Jahr an einem Ort aufhält, an dem die Sonne von morgens bis abends scheint, und trotzdem keine Farbe bekommt. Wie machst du das?« »Ich bin Brite.« »Das bin ich auch. Zerfällst du zu Asche, wenn du in die Sonne gehst?« Henry musste grinsen. »Wenn ich mich nicht in Anwesenheit des feinen Pinkels befinden würde, würde ich dich jetzt als Arschloch bezeichnen.« Bachara grinste ebenfalls. »Und das aus dem Mund von unserem Pragmatiker? Henry Wilson, es sieht aus, als wärst du zum Mann gereift.« »Ich betrachte die Situation einfach nur ganz nüchtern, das ist alles. Jetzt sag schon, was machst du hier?« »Familie besuchen.« Bachara stahl zwei Baklava vom Tablett eines Kellners, der an ihnen vorbeiwirbelte, und drückte Henry eines der kleinen Gebäckhäppchen in die Hand. »Ich will ins neue Jahr mit ihnen feiern. Außerdem wollte ich mir dein stolzes Gehabe nicht entgehen lassen, du eitler Gockel. Ich weiß ja, wie sehr du Menschenmengen liebst.« »Ist es so deutlich zu sehen?« »Wenn man dich kennt, schon. Du bewegst dich, als müsstest du dauerhaft die Arschbacken zusammenkneifen. Aber das ist egal. Du hast es geschafft!« »Besten Dank, für deine erbaulichen Worte. Reist du morgen wieder ab?« Bachara verzog das Gesicht. »Ja, ich werde am Persischen Golf eingesetzt, also nicht weit von hier. Aber genug davon. Lass dich ansehen.« Er betrachtete ihn kritisch. »Gut siehst du aus. Stolz. Man kann fast den Stock sehen, der dir aus dem Arsch wächst.« »Du hast nichts von deinem bösen Mundwerk eingebüßt, wie ich sehe.« Bachara grinste breit. »Ich arbeite heftig daran, dass ich es nicht verliere. Und du? Du bist ein richtig Großer geworden, wie ich sehe. Wie geht′s jetzt bei dir weiter? Wahrscheinlich kriechen die dir alle in den Hintern, oder?« Henry hielt eine Kellnerin am Arm zurück. »Verzeihung, haben Sie auch etwas anderes zu trinken als Champagner oder Sekt?« Die Kellnerin starrte ihn an, als hätte sie sich verhört. »Was genau möchten Sie denn haben, Mister Wilson?« »Wie wäre es mit einem richtigen Getränk, um meine Geschmacksknospen zu verwöhnen?« »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Woran haben Sie genau gedacht?« Henry und Bachara blickten sich kurz an. »Whisky«, sagten sie gleichzeitig. *** Der Abend schritt voran. Es wurde viel geredet, gegessen und gelacht, aber Henry Wilson, der Diplomat, der es bewerkstelligt hatte, einen Waffenstillstand am Gaza-Streifen auszuhandeln, war in aller Munde. Bedienstete gingen umher und schenkten Champagner in Strömen aus. Henry hätte gern verzichtet und lieber einen zweiten Whiskey getrunken, aber alle Augen waren auf ihn gerichtet und er konnte es sich nicht erlauben, der Oberschicht die kalte Schulter zu zeigen. Bachara hatte sich zwischenzeitlich verabschiedet, um seine Familie aufzusuchen, aber versprochen, später noch einmal vorbeizuschauen. Für Henry glich der Abend fast einem Spießrutenlauf, da er sich in all der Aufmerksamkeit nicht wohl fühlte, eine ungewohnte Eigenart für einen Diplomaten, aber er kam nicht dagegen an. Mittlerweile waren es nur noch zwei Stunden bis Neujahr und die ersten Vorbereitungen für die Feierlichkeit wurden getroffen. Zuerst bemerkte niemand das Mädchen, das umgeben von schwatzenden Gästen in der Saalmitte stand und sein weites Gewand auszog. Wer würde schon darauf kommen, dass sich dieses unscheinbare, kleine Ding als Selbstmordattentäterin entpuppen könnte? Als die ersten Schreie erklangen, Gläser klirrten und der Gesprächslärm erstarb, als hätte jemand den Regler heruntergedreht, galt Henrys Sorge zuerst seiner Familie, die nicht weit von ihm stand. Gadi hielt Akila an der Hand. Ihr Blick war hoch konzentriert, ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Das Mädchen war eine Einheimische, höchstens acht Jahre, mit kleinen Zöpfen und großen, traurigen Augen. Es hätte genauso gut Henrys Tochter sein können, wäre da nicht für jedermann sichtbar die verkabelte Sprengstoffweste gewesen, die um ihren Oberkörper geschnürt war. »Nein«, raunte er und fühlte Furcht in seine Glieder kriechen. »Nein, nein, nein.« Aber genauso gut hätte er sein »Nein« dem Sonnenuntergang hinterherrufen können. Die ersten Gäste wollten die Flucht ergreifen, doch das Mädchen hob ihren Arm, in dem sich der Zünder befand. Ihr Daumen näherte sich bedrohlich dem dicken, roten Knopf. Eine so unscheinbare Sache, aber Henry hatte im vergangenen Jahr viel zu oft gesehen, was eine Sprengstoffweste dieser Größe anrichten konnte. Die Eingangstüren wurden aufgestoßen. Mehrere Uniformierte strömten herein und legten auf das Mädchen an. In den Händen hielten sie SA80-Gewehre. Gasdrucklader mit Drehkopfverschluss. Die Situation spitzte sich zu. Ein Gast fiel in Ohnmacht, ein anderer tippte hektisch auf seinem Smartphone. Henry sah sogar jemanden, der das Geschehen filmte, um es vermutlich live auf YouTube zu streamen. Das süffisante Lächeln war aus allen Gesichtern gewichen. Auf einmal war ihnen klar, dass es ums nackte Überleben ging. Henrys Gedanken ratterten und standen im Wechsel zu seinen Schuldgefühlen. Seine Familie war seinetwegen hier. Wegen ihm, weil er angeblich für Frieden gesorgt hatte. Er sah sich um und traf eine Entscheidung. Als Vermittler war das hier seine Aufgabe. Zwar bewies das Geschehen, dass sein ausgehandelter Waffenstillstand keinen feuchten Furz wert war, aber in erster Linie galt es, das Mädchen abzuhalten, den Zünder zu betätigen. Dafür musste eine Situation geschaffen werden, in der es sich nicht bedroht fühlte. »Nehmen Sie die Waffen runter!«, rief er und wagte einen Schritt auf den freien Raum zu, der sich rund um das Mädchen gebildet hatte. Die Soldaten reagierten nicht auf seinen Befehl. »Ich sagte, runter mit den Waffen! Sofort!« Zögerlich kamen sie seiner Aufforderung nach. Bevor Henry sich weiter nähern konnte, schritt Gadi energisch an ihm vorbei und hielt auf das Mädchen zu. »Gadi!«, zischte er, aber sie ignorierte ihn und ging vor dem Mädchen in die Knie. Sanft, aber bestimmt wechselten sie ein paar Worte auf Arabisch, zu schnell, um ihnen folgen zu können. Zwar beherrschte er die Sprache, aber man musste im Libanon aufgewachsen sein, um die einzelnen Dialekte auseinanderhalten zu können. Gadi konnte das. Eine Hand fühlte nach seiner. Akila schmiegte sich an sein Bein und war ungewohnt ruhig. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Mund wurde ganz trocken und er musste schlucken. In der drückenden Stille hätte man eine Feder fallen hören können. Alle lauschten dem Gespräch zwischen Gadi und dem Mädchen, das nur einsilbige Antworten gab, den Arm mit dem Zünder allerdings langsam sinken ließ. Ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. »Papa, was ist das für ein Mädchen?«, flüsterte Akila ihm zu. Er drückte ihre Hand. »Es ist verwirrt und hat Angst. Mama wird sich um das Mädchen kümmern. Keine Sorge, es wird alles gut.« Gadi umfasste die Hand des Mädchens. Tränen rannen über seine Wangen. Langsam, aber bestimmt, nahm sie den Zünder aus deren Hand und nickte den Soldaten zu, die sich zaghaft näherten. Henry ging in die Knie und lächelte Akila an. »Siehst du? Alles wird …« Ein donnernder Knall biblischen Ausmaßes, so allumfassend und vernichtend, dass Henry von den Füßen gefegt wurde und mit dem Kopf auf den Boden schlug. Seine Hand löste sich. Er keuchte vor Schmerz, während der Knall noch in seiner Brust bebte, und kämpfte verzweifelt gegen die Ohnmacht. Es fiepte in seinen Ohren, seine Glieder fühlten sich bleischwer und taub an. »Akila?«, keuchte er. »Akila, wo …?« Ein zweiter Knall, noch lauter und heftiger als der erste. Henry rollte zur Seite, kämpfte sich auf Hände und Knie, während sich sein kalter Bauch zusammenzog und warmes Blut seinen Nacken hinabrann. Ihm schwindelte, aber er konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Stimmen riefen durch den Saal, seltsam gedämpft, als würde er sich unter Wasser befinden, und vermengten sich zu einem schrecklichen Konzert aus verzweifeltem Gekreische. Henry schaffte es, sich auf die Füße zu wuchten und kam taumelnd zum Stehen. Jemand prallte gegen ihn. Es war hell. Und bunt. Sollte es um diese Zeit so hell sein? Sein Kopf war wie in Watte gepackt, seine Gedanken träge und langsam. Akila, schoss es durch seinen Kopf. Wo ist Akila? Er sah sie nur drei Meter von sich entfernt eingerollt am Boden liegen. Sie weinte, ihre Lippen bebten, die Wangen tränennass. »Akila.« Das Wort verfing sich in seinem geschwollenen Mund. Seine blutigen Lippen bewegten sich auf und ab, aber es kam nichts heraus außer einem langen, roten Faden. Sein Kopf ruckte herum, suchte den Saal ab. Der Marmor am Boden war gesplittert, dicke Risse zogen sich durch die Decke, aus der Staub und Mörtel bröckelte. Einen Wimpernschlag später fand er Gadi, die neben dem fremden Mädchen am Boden lag und starr zur Decke blickte. Ihr Hals war seltsam verkrümmt. »Nein!« Er stolperte über einen Körper und fiel der Länge nach hin. Überall lagen Menschen, überall taumelten sie durch den Saal auf der Suche nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Sirenen heulten in der Ferne, dicht gefolgt von weiteren Donnerschlägen, die auf seinen Verstand einhämmerten. Die Luft schmeckte metallisch und das lag nicht alleine an dem Blut, das sich in seinem Mund sammelte. Gleichzeitig stellten sich seine Nackenhaare auf, als wäre die Atmosphäre statisch aufgeladen. »Gadi!« Er robbte auf sie zu. Ein Vorhang aus Tränen verklebte seine Augen. Jemand trat ihn in die Seite und stolperte über ihn. Er hievte sich auf die Beine und torkelte wie ein Betrunkener durch die Gegend. Sein Blick fiel auf das Mädchen mit der Sprengstoffweste. Es umklammerte den Zünder und drückte darauf. Ein Bersten, wie von einem Tonkrug, der auf dem Boden splitterte, und die Welt wurde schwarz. *** Das Wummern von Maschinen. Das war das Erste, was an Henrys Ohren drang. Das Rauschen eines Sturms, das Donnern von weit entfernten Schlägen, das gelegentliche Kreischen eines Menschen. Ein Windstoß fuhr über ihn hinweg, zerzauste seine Haare und blies ihm heiße Asche ins Gesicht. Henry öffnete die Augen einen Spalt. Licht schien verschwommen durch das verkohlte Gerippe eines Gebäudes. Er versuchte, tief Luft zu holen, würgte, hustete Dreck aus dem Mund. Stöhnend drehte er sich auf Hände und Knie, kroch aus der Kuhle und keuchte durch zusammengebissene Zähne. Überall stapelten sich geschwärzte Steine und Metallstreben. Dazwischen lagen Leichen, seltsam verkrümmt, manche mit abgerissenen Gliedern, andere mit Köpfen, die nur noch eine leblose, rote Masse darstellten. »Akila!«, wollte Henry rufen, brachte aber nicht mehr als trockenen Husten hervor. Er wühlte im Dreck, zog Steine zur Seite und entdeckte ein zerzaustes, geschwärztes Stofftier unter einem Streben. Es war Akilas Plüschbär Hudi. »Nein …« Er drückte das Stofftier an sich, wiegte es wie ein Kind in den Armen und konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Dann rollte er sich inmitten von Staub, Asche und Mörtel auf den Rücken und starrte in den Himmel, der vor lauter Farben explodierte. Lila- und Blautöne breiteten sich über das gesamte Firmament aus und warfen Blasen wie dickflüssige Suppe. Er blinzelte, aber die Farben verschwanden nicht, verstärkten sich eher noch, als hätte sich ein verrückter Künstler auf einer Leinwand ausgetobt. Dazwischen sah er längliche Gebilde, kaum größer als Stecknadeln, die schimmerten, als würden sie von Sonnenlicht angestrahlt werden. Sie kamen näher, fielen in die Tiefe und hinterließen brennende Feuerschweife. Weitere folgten, immer mehr, bis der gesamte Himmel bevölkert war. Lichter blitzten zwischen ihnen auf, wie im Kern eines Gewittersturms. Eine Detonation folgte, so urgewaltig, dass er glaubte, ihm würde die Brust auseinandergesprengt, und kurzzeitig wurde der Himmel in die Farbe eines Lapislazuli getaucht. Henry riss instinktiv die Hände vor das Gesicht, dennoch hatte sich das Licht in seine Augen gebrannt und ließ grelle Punkte vor ihm tanzen. Eine Staubwolke umhüllte ihn. Das Gemäuer erzitterte unter der Detonation und der Boden vibrierte, als würde sich ein Erdbeben anbahnen. Allmählich drangen wieder Geräusche an seine Ohren, als würden sie durch zähen Sirup dringen. Sirenen heulten auf. Menschen kreischten. Über ihm das Rattern eines Hubschraubers. Irgendwo brach ein Gebäude zusammen und krachte gegen ein benachbartes. »Ich muss …« Es brannte ganz hinten in seiner Kehle und er versuchte, tief Luft zu holen, aber stattdessen würgte er Dreck aus der Lunge. Vorsichtig fuhr er über seine raue Wange, spürte die schmierige Asche auf der Haut und die dicken Schwellungen. Er griff nach dem Stofftier und steckte es mit zitternden Fingern unter seine zerrissene Anzugjacke. Weitere Schläge hämmerten auf die Stadt ein, ließen den Nachthimmel erzittern und sorgten für neue Schreie. Erst als sich Henry langsam auf die Füße gekämpft hatte und vor Schmerz zusammenzuckte, bemerkte er, dass er sich inmitten eines Weltuntergangs befand. Von seiner Position hatte er einen guten Überblick über das Geschehen. Menschen flohen in blinder Panik auf die Straßen, irrten zwischen Ruinen umher, rannten wild durcheinander, um irgendwo Schutz zu finden. Aber es gab keinen Schutz, keine Sicherheit. Autos lagen unter Fassaden begraben, hupten und blinkten. Der Asphalt war aufgeplatzt, als wölbte er sich über einem brodelnden Vulkan. Aus einer eingestürzten Häuserfront ragte ein einzelnes Gebäude, wie ein Fels in der Brandung, aber es neigte sich allmählich zur Seite und nur ein Blinzeln später begrub es eine Menschenmenge unter sich. Licht tauchte alles in unwirkliche Farben, als hätte der Allmächtige einen Eimer Farbe über der Stadt ausgekippt. Die Farbwallungen wirkten unecht, ratterten das Farbspektrum rauf und runter. Am schlimmsten war der Staub, der über allem lag und seine Kehle zum Kratzen brachte. »Das ist das Ende«, murmelte er und stakste ziellos durch die Ruine, wich umherliegenden, verstümmelten Leichen aus und suchte nach einem Anzeichen für seine Familie. Akila und Gadi. Nichts anderes war für ihn von Bedeutung. Er musste sie finden, auch wenn er insgeheim wusste, dass es eine verzweifelte Hoffnung war. Nicht weit von ihm kämpften sich zwei Männer aus Schutt und Geröll, stießen qualvolle Schreie aus und versuchten, einen dritten zu befreien, der noch halb begraben lag. Henry stolperte auf sie zu, suchte nach einem halbwegs sicheren Stand und packte an. Sie zerrten und zogen gemeinsam, und als sie es schließlich geschafft hatten, kam ein rundliches, blutverschmiertes Gesicht zum Vorschein. »Mister … Wilson«, stotterte Richardson. Seine Brust war blutbefleckt, sein rechtes Bein stand in unmöglichem Winkel ab. Er starrte zum in Flammen stehenden Himmel und öffnete und schloss immer wieder den Mund. »Gibt es weitere?«, redete Henry auf die Männer ein. »Aufwachen! Gibt es weitere Überlebende?« Sie erwachten aus ihrer Trance und schüttelten den Kopf. Die fliegenden, fremdartigen Objekte waren nun nähergekommen, bewegten sich im Zickzack und es schmerzte, ihnen zuzusehen. Sie wirkten unnatürlich, falsch und erinnerten an nichts, was er jemals gesehen hatte. Ihre Oberflächen wirbelten so träge wie geschmolzenes Blei, nur um im nächsten Moment wie flüssiges Quecksilber zu schimmern. Einige änderten ihre Form, die an Pylonen erinnerte, wuchsen in die Länge und bildeten längliche, gezackte Splitter, die immer schneller wurden. Die meisten zerbrachen in der Mitte wie ein Stück morsches Holz, andere verschwanden plötzlich. Es geschah zu viel, um das gesamte Geschehen im Gehirn verarbeiten zu können, und allein der Anblick schmerzte. Ein Objekt stach ihm ins Auge, weil es sich von den anderen abhob. Es war lang und besaß eine breite Basis, von der je ein Dreieck in jede Richtung zeigte wie ein langgezogener Pylon. Es krachte in einem Schauer aus Farben und Blitzen in ein anderes Objekt, zerteilte es in der Mitte und bewegte sich unaufhaltsam mit der gleichen Geschwindigkeit auf ein weiteres schimmerndes Objekt zu, das kurz darauf ebenfalls vernichtet wurde. Als ein gleißender Lichtblitz am Himmel zuckte, wurde die Nacht kurzzeitig zum Tag. Henry riss die Hände vor das Gesicht und keuchte. Die Bilder hatten sich in seine Netzhaut gebrannt. Er versuchte, sie zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. »Was ist das?« Richardsons Stimme drang nur langsam zu ihm und übertönte kaum das Fiepen in seinen Ohren. »Mein Gott, was geschieht hier?« Die Frage blieb unbeantwortet. Ein anderes, ungewöhnlich großes Objekt brach auseinander und sandte Feuerbälle in den Himmel. Trümmer regneten herab, explodierten und schickten Schockwellen, welche weitere Gebäude einstürzen ließen. Henrys Nackenhaare stellten sich auf und seine Haut prickelte, während ein langgezogenes, spitzes Objekt im Stadtzentrum niederging, Schutt und Asche aufwirbelte und einen Vorhang aus Staub quer über die gesamte Stadt legte. Überall zerplatzte Glas, in Fenstern, Laternen und Autos. Der Strom setzte aus und senkte Dunkelheit über das Stadtviertel, als hätte jemand das Netz gekappt. Henry wurde von den Beinen gerissen und krachte mit dem Kopf gegen einen Balken. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen, aber sein Wille überwog die Schmerzen. Er kämpfte sich wieder auf die Füße und zwang sich, anzusehen, was um ihn geschah. Nicht weit von ihnen lag eine junge Frau, an die er sich nur erinnerte, weil sie ein atemberaubendes Abendkleid getragen hatte, das nun in Fetzen hing und den aufgerissenen Bauch entblößte, aus dem Gedärme quollen. Direkt neben ihr kroch ein alter Mann durch den Schutt, dem beide Beine knapp unterhalb des Kniegelenks fehlten. Henry musste würgen und spie bitter aus, aber es war nur Galle, die vor ihm auf den Boden klatschte. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer und Adrenalin pumpte durch seine Adern, die in Flammen standen. Er musste etwas tun … irgendetwas! Ein Hubschrauber ratterte über ihnen. Auf einmal waren seine Gedanken ganz klar. Er winkte erschöpft, trieb sich zu einer letzten, verzweifelten Panik, und zuckte immer wieder zusammen, wenn der Schmerz überhandnahm. Als der Hubschrauber auf sie aufmerksam wurde und zur Landung ansetzte, sackte Henry auf die Knie, nahm das Plüschtier in beide Hände und vergrub sein tränenverschmiertes Gesicht darin. Er hatte alles verloren. Die Vernichtung hatte begonnen.


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