Suchbuch.de

Leseproben online - Schmökern in Büchern


Kategorien
> Satire > Johanna Krüger findet ein Korn!
Belletristik
Bücher Erotik
Esoterik Bücher
Fantasy Bücher
Kinderbücher
Krimis & Thriller
Kultur Bücher
Lyrikbücher
Magazine
Politik, Gesellschaftskritik
Ratgeberbücher
regionale Bücher
Reiseberichte
Bücher Satire
Science Fiction
Technikbücher
Tierbücher
Wirtschaftbücher
Bücher Zeitzeugen

Login
Login

Newsletter
Name
eMail

Bücher Satire
Buch Leseprobe Johanna Krüger findet ein Korn!, Claudia Fell
Claudia Fell

Johanna Krüger findet ein Korn!



Bewertung:
(226)Gefällt mir
Kommentare ansehen und verfassen

Aufrufe:
3391
Dieses Buch jetzt kaufen bei:
Drucken Empfehlen

JOHANNA KRÜGER findet ein Korn!


von Claudia Fell


 


Warnhinweis


Ich persönlich rate jedem Strenggläubigen dringend davon ab, dieses Buch zu lesen. Wobei ich ausdrücklich betonen möchte, dass jeder Bezug zu lebenden, verstorbenen, heiliggesprochenen und göttlichen Personen frei erfunden ist. Da keinerlei Sexszenen und nur das Mindestmaß an Gewalt vorkommt, ist dieses Buch ebenso für Jugendliche und junge Erwachsene geeignet. In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß beim Lesen, und wenn ihr ausführlich im Wortmeer geplanscht habt, sich die letzte Seite schließt, die Zeit zum Lebewohlsagen gekommen ist und ihr nicht gehen wollt, dann schreibt mir eure Meinung. Am besten dort, wo ihr den Roman gekauft habt, oder in den üblichen Kanälen.


 


© 2017 Claudia Fell


Illustration: Kira O´Neal, Camhanaich Photography & more


Lektorat, Korrektorat: Regine Weisbrod  


 


 


 


Johanna bewirbt sich beim Nachrichtensender CNN in London


Kapitel 1


Die weitergehende Schule und ein Studium später wartet Johanna darauf, dass man sie aufruft. Ihre beste Freundin und WG-Mitbewohnerin Sarah wartet unten im Café. Beide haben in der Nacht vor Aufregung kein Auge zugetan. Draußen verscheuchen Wolken die Septembersonne, und erste Regentropfen prasseln gegen die Scheiben. Es ist das erste und wichtigste Vorstellungsgespräch ihres Lebens, und sie weiß nicht einmal mehr, wie sie sitzen soll. Schlägt man die Beine übereinander und drückt den Rücken durch? Bleibt man locker, oder stellt man doch lieber die Füße nebeneinander und legt die Hände in den Schoß? Den Blick auf Granitboden gerichtet, rutscht sie nach links und schabt dabei mit der Lehne ihres Plastikstuhls über die weiße Resopalwand. Johanna stützt die Hände auf der Sitzfläche ab, beugt sich ein bisschen vor, gerade so viel, dass sie die anderen Schuhe neben sich mustern kann. Die ganze Stuhlreihe ist besetzt. Neben ihr warten polierte Lackschuhe, blaue Pumps, cremefarbene Stiefeletten, Pumps mit Schleifchen, und ein schwarzer Stöckelschuh. Johanna folgt dem Lauf der schlanken Wade in glänzendem Nylon hinauf zum Knie, von dem man nur die Hälfte sieht, weil es vom anderen Bein verdeckt ist. Schwarzer Stoff faltet sich über den Schenkeln. Er wird zusammengedrückt vom Gewicht der Lederhandtasche, durch Riemen hindurch schillert ein Knopf der Kostümjacke, weiter oben verdeckt das weiße Unterhemd den Brustansatz. Johanna folgt der Haut über den Schlüsselbeinknochen zum Hals hoch, betrachtet das vorstehende Kinn, die Lippen, wandert zur Nasenspitze mit dem rechteckigen, schwarzen Brillengestell, stockt, weil die blauen Augen dahinter zurückstarren. Johanna zuckt ertappt zusammen und zupft an ihrem grauen Kostüm. Es ist von Sarah ausgeliehen und zwei Nummern zu groß. Damit der Rock nicht rutscht, musste Johanna ihn in der Taille zweimal umschlagen, was eine ordentliche Beule hinten verursacht. Die Kostümjacke versteckt die Ausbuchtung zwar, liegt aber auf und wippt bei jedem Schritt mit. Johanna lehnt sich zurück und schlägt die nackten Beine übereinander. Sie betrachtet das Leder ihrer braunen Pumps. Trotz mehrfachem Polieren und dicker Schuhcreme sind die Kratzer nicht so gut versteckt, wie von der Verpackung versprochen. Sie müssten neu besohlt werden, der Absatz ist schräg, und silberne Nagelspitzen blitzen im Gummi hervor. Johanna vergleicht ihre Schuhe mit den der anderen und stellt den Fuß lieber zurück auf den Boden. Die feuchten Hände wischt sie am Rock ab, bückt sich und hebt ihre Mappe vom Boden auf. „Johanna Krüger!“ Johanna zieht den Kopf ein, will am liebsten flüchten, und schnellt trotzdem nach oben. Die Mappe fällt. Beim Bücken schimpft Johanna mit sich. Sie wusste, dass diese Tür sich öffnet und sie aufgerufen wird, warum also bleibt ihr fast das Herz stehen? Seit Wochen denkt und beschäftigt sie sich mit nichts anderem. Sie weiß alles über CNN, den amerikanischen Fernsehsender. Er wurde von Ted Turner als weltweit erster Nachrichtenkanal gegründet und begann seinen Sendebetrieb am 1. Juni 1980. Hier in London befindet sich das größte Büro außerhalb der USA. Mit der Berichterstattung über die Challenger-Katastrophe, dem Fall der Berliner Mauer sowie über den Beginn des Zweiten Golfkriegs wurde CNN international bekannt. Sie hat die Biographie von Ted Turner gelesen, kennt die Geschäftsphilosophie und die meisten Namen der Journalisten, die hier arbeiten. Johanna holt Luft, steht auf und geht auf Alex Klein zu. Er leitet die Londoner Filiale und begutachtet jeden neuen Journalisten persönlich. Seinem Ruf nach soll er ein Freund schneller und riskanter Entscheidungen sein – und skrupellos, was nicht so ganz zu seinem Äußeren passt. Tatsächlich hat er große Ähnlichkeit mit einem Nilpferd, da der obere Teil seines fast kahlen Kopfes schmaler ist als der Rest. Backen, Hals und Kinn wölben sich unter der Stupsnase und den kleinen Augen. Sein Blick schnellt hin und her, und im Mundwinkel hängt eine Zigarre. Sie brennt nicht. Johanna streckt ihm die Hand hin. Er ignoriert sie, stößt seine Bürotür auf und zeigt auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Sie klammert sich an ihre Bewerbungsmappe, während sie sich hinsetzt und den Blick auf seinen Bürostuhl heftet. Er hat eine breit gepolsterte Rückenfront mit herauswachsenden Armlehnen, die in ihre Richtung zeigen. Obwohl sie seit Wochen um diesen Termin kämpfte und an nichts anderes mehr denken konnte, wünscht sie sich nun trotzdem ganz weit weg. Johannas Mund wird staubtrocken, sie räuspert sich leise, hüstelt hinter der vorgehaltenen Mappe. Sarah hat sie gewarnt. Ein Vorstellungsgespräch zu üben ist eine Sache, dem Mann gegenüberzusitzen, der über dein restliches Leben entscheidet, eine ganz andere. Vorsichtig linst sie zu Alex Klein. Er dreht ihr den Rücken zu, schafft mit dem Unterarm Platz auf seinem Schreibtisch, bevor er sich mit verschränkten Armen dagegen lehnt und Johanna begutachtet. „Sie sind also Johanna Krüger.“ Johanna nickt, versucht ein Lächeln, scheitert und zieht es vor, den blauen Kugelschreiber in seiner Hemdtasche zu mustern. Klein greift hinter sich nach einer Mappe, die verdächtig nach ihrer Bewerbung aussieht. Eingehend und ohne ein Wort zu sagen studiert er die Einträge, schiebt seine Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen, liest weiter. Nach jeder Seite schüttelt er den Kopf. Johanna beobachtet ihn mit Argusaugen. Im Büro ist es still, ab und zu leuchtet ein Licht in der Telefonanlage auf, Papier raschelt beim Umblättern, weiter passiert nichts. Zigarrennebel hängt im Raum, er muss ein starker Raucher sein. „Wissen Sie, warum Sie heute einen Termin haben?“ Johanna setzt zum Sprechen an, doch Klein erwartet anscheinend keine Antwort, denn er redet einfach weiter: „Seit Wochen belästigen Sie meine Sekretärin, sogar unser Hausmeister kennt inzwischen Ihren Namen. Der einzige Grund, warum Sie ein Vorstellungsgespräch mit mir haben, ist der, dass wir endlich Ruhe vor ihnen bekommen.“ Johanna lächelt, zittert und beschließt, seine Worte vorerst als Kompliment zu nehmen. Wenn er wüsste, wie sehr sie sich diesen Job herbeisehnt, würde er keine Sekunde länger mit ihr diskutieren, sondern gleich unterschreiben. Klein zeigt auf einen hohen, sehr hohen Stapel ähnlicher Mappen. „Was glauben Sie, was das ist?“ Johanna ermahnt sich. Hundertmal hat sie zu Hause die Situation durchgespielt, alle möglichen Reaktionen von Klein durchdacht. Bis eben hat sie sich gut vorbereitet gefühlt, gewappnet für den Ernstfall, doch ihr Mut bröckelt. „Das sind alles Bewerbungen, und jeder Einzelne hat bessere Noten. Ich will nicht sagen, dass Ihr Zeugnis schlecht ist, ich sage: Ihr Zeugnis ist eine Katastrophe. Es gibt praktisch kein einziges Fach, in dem Sie auf die volle Punktezahl kommen, Ihre Leistungen sind weitestgehend unter dem Durchschnitt. Ich habe also die Wahl zwischen Elitestudenten, die bereits ihren Fleiß bewiesen haben, und Ihnen.“ Klein schweigt – eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. „Verraten Sie mir eines: Warum soll ich ausgerechnet Sie einstellen?“ „Bereits als Kind habe ich davon ...“ „Ersparen Sie mir das Gequatsche von Kindheitsträumen.“ Also gut, Johanna drückt die Schultern durch. Er will wissen, warum sie die Richtige für den Job ist? Verdammt noch mal, das kann er haben. Johanna steht auf und zeigt auf seinen Schreibtisch. „Diese Bewerbungen sind, nehme ich an, für dieses Stellenangebot, und vor Ihrem Büro sitzt höchstwahrscheinlich die Auslese, die Ihre Sekretärin für Sie getroffen hat. Alles liebe, brave und fleißige Menschen, die mit Sicherheit genauso lieb, brav und fleißig ihre Jobs erledigen. Sie haben recht, ich bin nicht so. Ich war noch nie gut in der Schule, nicht einmal im Sport, und könnte Ihnen jetzt erzählen, dass es an meiner Kindheit liegt, daran, dass ich mit neun Jahren von einer Familie adoptiert wurde, die genau dem entspricht, was Sie suchen: Ordentliche Menschen, die immer das machen, was man von ihnen erwartet. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Familie, aber ich war und bin ein Fremdkörper in ihrer Welt und mein Leben lang für Sachen bestraft worden, die ich nie getan habe. Genau deshalb bin ich die Richtige für diesen Job. Ich will gegen Vorurteile ankämpfen, Menschen aufklären, Wahrheiten ans Licht zerren. Wissen Sie, was mein Vater dazu sagt?“ Klein hat sich aufgerichtet, Johanna sieht seinen Augen an, dass sein Interesse geweckt ist. „Nämlich?“ „Er sagt, die wirklich großen Erfindungen und Leistungen in unserer Welt wurden von Menschen wie mir vollbracht. Henry Ford, Paul Getty, Jack London, Mark Zuckerberg, Steve Jobs, Bill Gates, Peter Jackson, Ringo Starr, Ralph Lauren, George Bernard Shaw, Peter Jennings, Christopher Columbus, John D. Rockefeller, George Washington und Abraham Lincoln. Sie alle haben ihre Vorgeschichte, manche keinen Schulabschluss oder ihr Studium abgebrochen, doch das spielt alles keine Rolle, denn das Wichtigste im Leben, sagt er, ist ein Ziel. Und ich habe ein Ziel. Herr Klein – bitte, ich weiß, dass ich gegen Elitestudenten antrete, und meine Noten sind nicht besonders, aber von den ganzen Bewerbern hier bin ich es, die trotzdem vor Ihnen steht. Bitte geben Sie mir eine Chance, ich verspreche, Sie werden es nicht bereuen.“ Klein reibt sich über Kinn. Er schweigt. Johanna knetet die Hände. Am liebsten würde sie aufspringen und im Büro auf- und abtigern, – zweimal um den Block rennen oder zehn Runden Schwimmen. Die Sekunden dehnen sich, er schweigt weiter. Johanna senkt den Kopf und kneift die Augen zu, ihre Hände zittern und werden unter die Schenkel geschoben, sie hält es kaum noch aus. Klein richtet sich auf. Sie kann an seinem Gesicht nicht den geringsten Hinweis ablesen. Er dreht ihr den Rücken zu und fährt mit der Hand über die Bewerbungen. Danach greift er nach ihren Unterlagen, blättert jede Seite noch einmal durch. Wieder schüttelt er den Kopf, diesmal brummt er dazu. Den Knall von der Mappe, die Klein zurück auf den Tisch donnert, lässt sie zusammenzucken. „In Ordnung, Frau Krüger, Sie haben den Job.“ „Was?“ Klein schmunzelt. „Ja, Sie haben richtig gehört. Bewähren Sie sich und machen Sie nichts, was mich meine Entscheidung jemals bereuen lässt, in Ordnung?“ Er streckt ihr die Hand hin. Johanna greift danach und drückt zu. Drei Jahre nach dem Vorstellungsgespräch, am Montag den 24. August, um 8.52 Uhr, hält ein schwarzes Taxi am Ende der Carnaby Street. Johanna öffnet die Tür und streckt einen Fuß hinaus. Sofort kriecht Straßenlärm an ihrem Bein hoch. Schnell zieht sie die Tür wieder zu, lässt sich auf den Sitz fallen und verschränkt die Arme. „Komm schon, Johanna, steig aus. Wir halten den ganzen Verkehr auf.“ Johanna dreht sich zu ihrem Freund und Arbeitskollegen um, zerzaust ihm den dunklen Lockenkopf und knufft ihm in die Rippen. Sie teilen sich das Taxi zum Termin, weil es billiger ist. Normalerweise ist Ted die Ruhe in Person, nur heute hat er keine Geduld mit ihr. Seit drei Jahren erledigen sie kleinere Aufträge zusammen, und auch wenn Johanna nicht den geringsten Ehrgeiz bei ihm spürt, er weder auf sein Äußeres noch auf gute Kontakte achtet, liefert er solide Qualitätsarbeit. Ihrer Meinung nach ist Ted der Beste in seinem Fach. Johanna kontrolliert die Uhrzeit. Sieben Minuten vor neun. „Pünktlichkeit ist eine Tugend, Ted und du wirst den Tag nicht erleben, an dem ich zu spät komme, also beruhig dich.“ Sie steigt aus. Er klettert samt Kamera hinterher. Draußen kramt Johanna in der Handtasche. Sie liebt das Weihnachtsgeschenk ihrer Schwester heiß und innig. Das braune Leder ist praktisch unzerstörbar, es passt unheimlich viel hinein, und die schwarzen Riemen kann man bequem über die Schulter hängen. Leonie hat sie ihr aus Italien mitgebracht. Sie sucht nach Zigaretten und achtet weder auf Fußgänger noch auf die hupenden Autos. Ein Passant rempelt sie an. Johanna knickt um. „Was?!“ Die Tasche rutscht ihr aus der Hand, kippt und ergießt den Inhalt auf den Boden. Johanna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, während Ted sich bückt, geht sie in die Hocke, kramt nach den Zigaretten, zündet sich eine davon an, inhaliert, wartet und bläst erst den Rauch aus, bevor sie Schachtel samt Feuerzeug zurück in die Tasche wirft. Es folgt das Notizbuch, Kosmetiktäschchen, Handy, Nikotinpflaster ... Ted betrachtet das Buch in der Hand: „Fünf Wege zum Erfolg? – Ziehst du deshalb neuerdings diese Fummel an?“ Johanna brummt unwillig, sie will ihn wegschieben, doch Ted greift bereits den nächsten Gegenstand, ein lilafarbenes Fläschchen aus Glas. „Trichlormethan?“ „Ja und? Gib her.“ „Stimmt, man kann ja nie wissen, wann man Chloroform braucht. Was ist das? – Sekundenkleber, Latexhandschuhe?“ Ted zieht die Brauen bis zur ersten Stirnfalte nach oben. Johanna zuckt die Schultern. Was weiß er schon ... Vorbereitet sein ist kriegsentscheidend, vor allem, wenn man noch meilenweit von seinem Ziel entfernt ist. Kaffee kochen, Botengänge, Recherchearbeiten, ordnen, sortieren und saubermachen, das sind ihre Aufgaben, und seit kurzem moderiert sie lückenfüllende Beiträge, für die sich kein Mensch interessiert und die bestenfalls zum Einschlafen taugen. Doch gibt sie deshalb ihren Traum vom großen Durchbruch auf? Nein, sicher nicht. Sie, Johanna Krüger, ist vor drei Jahren hier angetreten, um zu enthüllen, den Schmutz ans Licht zu zerren und aufzuklären. Was ihr fehlt ist eine Chance, eine Story, durch die sie allen zeigen kann, was in ihr steckt, und wenn es so weit ist, wird sie darauf vorbereitet sein. So einfach ist das. „Polizeiausweis? Für so was kannst du verhaftet werden.“ Johanna nimmt ihm die Plastikkarte aus der Hand und schiebt die restlichen Ausweise mit den Visitenkarten zusammen in die Tasche, den Geldbeutel und ein flaches Lederetui hinterher. Genüsslich pustet sie aus und betrachtet durch den Rauch die Londoner Filiale ihres Arbeitgebers CNN. Es ist zwar ein modernes, aber unscheinbares Bürogebäude. Kein Mensch käme auf die Idee, dass hier zweihundert Journalisten Fernsehgeschichte schreiben. Sie steht auf, streicht sich das kurze blonde Haar hinter die Ohren, strafft die Schultern und stöckelt zum Eingang. Ted sieht ihr kopfschüttelnd nach, blickt an sich herunter, riecht unauffällig an seinem Arm und verzieht das Gesicht, schaut hoch und rennt hinterher. „Johanna, warte!“ Sie bleibt stehen und zupft eine imaginäre Fluse vom roten Kostüm. Ted hat recht, der letzte Ratgeber hat ihr geholfen zu erkennen, dass man aus der Masse herausstechen muss, wenn man Erfolg haben will. Niemals mehr wird sie das Haus ohne Kostüm und passende High Heels verlassen, auch wenn sie den Tag verflucht, an dem hochhackige Schuhe erfunden wurden. Ab sofort wird das ihr Markenzeichen sein. Zumindest seit vorvorgestern. Ihre Freundin hat ihr ordentlich den Kopf gewaschen, weil ihr Gejammere kaum mehr zu ertragen sei. Sarah hat gut reden. Sie bekommt tagein, tagaus die Anerkennung, die sie verdient, und managt ihre Versicherungsagentur praktisch mit links. Wie sie das macht, ist ihr ein Rätsel. Johanna muss ständig hart an sich arbeiten, und bei Sarah sieht alles so leicht aus. Wobei sie schon etwas pedantisch und überkorrekt ist, dazu isst sie gerne, ist dunkelhaarig und vollbusig. Also das genaue Gegenteil von ihr. Wenn Sarah einen Raum betritt, hat sie nach kurzer Zeit mit jedem Kontakt. Wenn Johanna auf eine Party geht, wissen am nächsten Tag die meisten nicht einmal, dass sie da war. Manchmal wünscht sie sich wenigstens eine der Eigenschaften von ihrer Freundin, doch was nicht ist, kann man sich erarbeiten. Das zumindest hat Sarah ihr vorgestern dringend geraten, nachdem sie ihr wie ein Häufchen Elend im Café gegenübersaß. Der Abgeordnete, den sie hatte interviewen wollen, hatte sich schlichtweg geweigert und nach einem richtigen Journalisten verlangt. Johanna gruselt die Erinnerung daran immer noch. Wenn ihr Chef davon erfährt, wird sie nie eigene Reportagen bekommen. Sarah meint, der Schlabberlook mit Jeans und Sweater wäre wenig geeignet ernst genommen zu werden. Johanna müsste sich mehr herausstellen und eine Art Markenzeichen kreieren. In der Buchhandlung wurde sie mit mehreren Ratgebern eingedeckt und anschließend in die Damenmodeabteilung von Harrods geschleppt. Johanna wird Monate brauchen, um die Kreditkartenrechnung abzustottern für die acht Kostüme, jedes in einer anderen Farbe und alle mit farblich passenden Pumps. Was soll´s. Johanna zuckt die Schultern. Sarah hat recht. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten gehen. Bei einem Termin beim Chefredakteur ist man besser pünktlich, deshalb steuern sie zügig den Aufzug an und fahren in den ersten Stock, zum Herzstück des Senders. Hier versammeln sich jeden Morgen um neun die Mitarbeiter und besprechen die News und Aufgaben des Tages. Die Technik und Aufnahmestudios befinden sich hier, Alex Klein und das Großraumbüro mit den Schreibtischen für die Journalisten, die es noch nicht zu einem eigenen Büro gebracht haben oder keines brauchen. Johanna schließt die Augen und wappnet sich. Heute könnte der Tag, der Tage sein und Alex Klein ihr endlich einen Auftrag geben, wo sie allen zeigen kann, dass sie Talent hat, den richtigen Riecher fürs Wesentliche, unbeirrt dem roten Faden folgt, sich weder abwimmeln noch ablenken lässt, die Sache auf den Punkt bringt. Enthüllt. Und wenn es so weit ist, werden sich für sie die Aufzugtüren öffnen und alle Geräusche verstummen, sobald sie sehen, wer den Newsroom betreten hat. Doch sie wird sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, freundlich sein, mit jedem, der zu ihr kommt, ein Schwätzchen halten. Tipps geben. Man wird sie natürlich vieles fragen und vieles wissen wollen, vielleicht müsste sie sogar Autogramme geben? Ja, das kommt vor. Johanna spürt förmlich die bewundernden Blicke im Rücken und reagiert mit Gänsehaut. Ted starrt sie an: „Alles klar bei dir? Komm, für deine Tagträume hast du später genug Zeit.“ Die Aufzugtüren öffnen sich. Tief atmet Johanna ein und hüstelt, die Luft ist rauchgeschwängert und stinkt nach Deo und Schweiß. Klappernde Tastaturen, hin und wieder Fernsehsignale aus den hinteren Räumen, begleiten sie auf ihrem Zickzackkurs an den Schreibtischen vorbei. Keiner schaut hoch, alle arbeiten konzentriert, hängen am Telefon, rennen an ihnen vorbei, diskutieren, streiten, flüstern. Es ist, als wären sie Luft. Johanna sucht bewusst Augenkontakt, immerhin arbeitet sie mit den Leuten zusammen. Da vorne steht zum Beispiel die Praktikantin. Letzte Woche hat sie mit ihr den Bericht über die Haushaltsmesse gemacht. Johanna grüßt. Oder den Nachrichtensprecher. Gratuliert hat er ihr und gemeint, dass man selten so einen dicken und großen Hasen sähe und Leo den ersten Preis vom Kaninchenzuchtverein durchaus verdient habe, der alte Rammler. Sie winkt. Zu spät, er ist weg. Vor dem Büro klopfen sie an und treten ein. Alex Klein thront hinter dem Schreibtisch in einem Raum, der genauso aussieht, wie das Zimmer eines Chefredakteurs auszusehen hat: chaotisch. Mit Bergen aus Zeitungen, flimmernden Bildschirmen an der Wand und einer blinkenden Telefonanlage. „Hi Alex, du wolltest uns sprechen?“ Ted drängt sich an ihr vorbei durch die Tür. Johanna trippelt hinterher. Sie sind nicht allein im Raum. Auf einem der zwei Stühle sitzt schon jemand. Johannas wunder Punkt, der Dorn in ihrem Auge, die Frau, die zur gleichen Zeit wie sie hier angefangen hat und längst in einer anderen Liga spielt. Beinahe täglich muss sich Johanna in den Breaking News Silvias übertriebenes Lachen anhören. „Hallo Ted.“ Lächelnd schiebt sich Johanna vorbei und greift nach Kleins Hand. Sie drückt fest zu und ignoriert, dass er sich herauswinden will. Wie war das? So zeigen Sie Ihrem Gegenüber, dass in Ihnen ein fester und verlässlicher Charakter steckt. „Hallo, Herr Klein, wie geht es John?“ Alex Klein reibt sich die Hand, betrachtet Ted, nickt in ihre Richtung und setzt sich. „Er ist überm Berg, muss sich allerdings noch ausruhen. Deshalb habe ich euch zu mir gebeten. Silvia braucht Verstärkung.“ Ted lässt sich auf den Stuhl neben ihr fallen. Johanna bleibt gezwungenermaßen stehen, weil kein Platz mehr frei ist. Alex lehnt sich zurück. „Also gut, ihr wisst ja, dass John mit einem Virus im Krankenhaus liegt, und mir ist bewusst, Silvia, dass das unter deinem Niveau ist, aber seine Arbeit muss aufgeteilt werden. Also?“ Johannas Haut fängt an zu kribbeln, sie verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schiebt die Hüfte vor, die Schultern drückt sie nach hinten durch. „Ich übernehme das.“ Klein ignoriert sie und schaut weiter zu Silvia, die auch sogleich da Wort ergreift. „Alex, ich bin an der Sache mit dem Senator dran und hab was mit Friedemann am Start. Allerdings, für John würde ich mir einen Tag freischaufeln. An was arbeitet er zurzeit?“ „Mir wäre es recht, wenn du das Interview mit Franz von der Gewerkschaft übernimmst. Soweit ich weiß, hat er alles vorbereitet und absegnen lassen. Du kannst es aufzeichnen, wir schieben´s später rein ...“ „Kein Problem, und sonst?“ „Mit dem anderen musst du dich nicht abgeben, das übernehmen Ted und Johanna. Hier sind die Unterlagen fürs Interview.“ Silvia nimmt die Mappe entgegen, lächelt, ihr Telefon klingelt, sie steht auf, wirft Klein eine Kusshand zu, drückt Teds Schulter, nickt in Johannas Richtung und verlässt den Raum. Klein lehnt sich zurück und legt die Fingerspitzen zusammen. „John sollte morgen Abend über die jährliche Pilgerfahrt berichten. Die Genehmigung dafür hat ihn Monate gekostet, denn normalerweise darf kein Ungläubiger heiligen Boden betreten. Das ist jetzt euer Job. Nichts Großes, nur eine kurze Schaltung zu den Nachrichten um neunzehn Uhr. Wir wollen ein bisschen was von den Millionen Pilgern sehen, die um diesen Würfel da ...“, fragend sieht er Ted an. „Kaaba“, hilft dieser aus. „Die um diese Kaaba herumwandern. Echte Atmosphäre und ein kurzes Interview mit einem der Pilger genügt. Warum, wieso, weshalb, wofür. Noch Fragen?“ Beide verneinen. Sie besprechen die Details, danach beugt Klein sich über seine Unterlagen und wedelt mit der Hand. Sie sind entlassen. Johannas Schultern senken sich. Ihr Blick verweilt auf einem Kaugummipapier am Boden. Nach Mekka? Oasen und Sand tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Ihre erste Auslandsreise! Nicht schlecht. Gut, der Auftrag selbst unterscheidet sich nicht wesentlich von den anderen. Alltag im Kindergarten, Momentaufnahmen im neuen Einkaufscenter, Wettbewerbe, Messeausstellungen, Ehrungen, Weltrekorde. Nicht mal ein Streik war bis jetzt dabei. Johanna grübelt weiter: Aus dem Thema müsste sich aber etwas machen lassen. Vielleicht sollte sie die Interviewfragen eher kritisch gestalten? Ja genau! Sie könnte den islamischen Glauben grundsätzlich hinterfragen. Was ist denn mit der Unterdrückung der Frauen? Und steht auf Diebstahl im Islam nicht die Todesstrafe? Darüber muss doch mal gesprochen werden, und wer ist dazu besser geeignet als sie, Johanna Krüger! Ihr Kopf ruckt hoch, die Schultern straffen sich erneut, der Mund öffnet sich. Alex Klein unterbricht ihre Planung: „Und bitte, keine Alleingänge.“ Johanna seufzt lautlos. Dann eben nicht. Was Klein sagt, ist Gesetz. Sie fühlt sich ihm gegenüber nicht nur verpflichtet, nein, jeder weiß, dass Widerspruch bei ihm zur fristlosen Kündigung führt. Ted schiebt sie zur Tür. „Lass uns gehen. Es wartet Arbeit auf uns.“ Sie verabschieden sich, holen die Tickets, sprechen mit dem Aufnahmeleiter und verlassen kurz darauf das Gebäude. Draußen zündet sich Johanna die nächste Zigarette an. Außer bei dem alljährlichen Personalgespräch – vor dem sich Klein meistens drückt - war sie das letzte Mal vor acht Monaten in seinem Büro. Sie hat sich mehr von dem Termin heute versprochen, doch vor allem ist sie froh, dass Klein von dem Desaster mit dem Abgeordneten nichts mitbekommen hat. Insgeheim nimmt sich vor, das Kapitel „Wie Sie Ihre Stärken am besten verkaufen“ noch einmal zu lesen, und zertritt die Glut, während Ted ihr ein Taxi heranpfeift. Sie ist müde und will eigentlich nur noch in ihre gemütliche Wohnung nach Islington. Am liebsten würde sie Schlabberhosen anziehen und vom Bett aus durch die Programme zappen. „Das mach ich auch.“ Ted reagiert verständnislos. „Was?“ Er kriegt einen Schmatzer auf die Backe. „Nichts, ich habe nur laut gedacht. Schlaf gut. Wir sehen uns morgen. Ich hol dich ab.“ Johanna verschwindet im Taxi und fährt davon.


- Ende der Leseprobe -


 


Für den Inhalt dieser Seite ist der jeweilige Inserent verantwortlich! Missbrauch melden



© 2008 - 2025 suchbuch.de - Leseproben online kostenlos!


ExecutionTime: 1 secs