1. Erinnerungen an Italien
Ein Hirsch geht auf Reisen.
Hier stellt sich mir zunächst einmal die persönliche Frage, ob ich mich als bunten Schmetterling bezeichnen soll oder eher als einen Vogel, der mal hier und dort vorbeifliegt. Sich umschauend und dann weiterzieht. Wohl eher als Letzteres, denn bekanntlich können Vögel unendlich weite Entfernungen zurücklegen. Sie rasten dort, wo sie Futter und Brutstätten finden. Sie verlassen kalte Gegenden, um in warmen Gefilden zu überwintern. Dieses Verhalten hat mich schlicht und ergreifend zum Nachahmen eingeladen. Aber nicht nur dieses »tierische Verhalten«, sondern auch das ganz menschliche »neugierig sein« und »entdecken wollen«.
Es ist still, nur die Schreie der Möwen lassen mich aufhorchen. Die Stadt schläft jetzt und ich bin glücklich endlich mit Dir, mein Freund, in Rom zu sein. Es ist unsere erste gemeinsame Reise in diese wunderschöne Stadt am Tiber. Wir schreiben das Jahr 2001; wir, ein verliebtes Paar auf Italienreise. Nach einem guten Abendessen bei NINO, einem bekannten Restaurant in der römischen Innenstadt, schlendern wir durch die Straßen vorbei an den Schaufenstern der Via Condotti. Die Auslagen gefallen mir - Mode »Made in Italy«. Es macht Spaß, hier bummeln zu gehen, auch, wenn es anfänglich nur ein »Windowshopping« ist. Die bekannten italienischen Modedesigner geben sich hier ein Stelldichein. Ich kann dann doch nicht widerstehen und kaufe einen schönen, warmen Rock mit einer roten Wickelwolljacke. Zurück im Hotel probiere ich sogleich meine neue Kleidung an. Beim Betrachten der modischen Errungenschaften schießen mir die vielen Eindrücke, die ich während des Tages gesammelt habe, durch den Kopf. Wir brauchen noch einige Zeit, um zu schlafen und die Erinnerungen laufen wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab.
Während ich vor mich hindöse, höre ich das leise Rauschen der Dusche im Bad. Die Bilder an die Woche zuvor kommen zurück. Wir hatten schöne, sonnige Tage in Venedig. Dort leben viele unserer italienischen Freunde, die wir regelmäßig besuchen. Vor zwei Tagen kamen an die achtzehn Freunde zu einem gemeinsamen Abendessen. Unter ihnen waren nicht nur Italiener. Eigentlich war diese Gruppe sehr gemischt europäisch, bis auf drei Amerikanerinnen, die ebenfalls in Venedig leben. Diese einzigartig schöne Stadt an der Lagune scheint besonders junge Amerikanerinnen magisch anzuziehen. Seit vielen Jahren können sich viele alt eingesessene Patrizierfamilien den einstigen Lebensstandard von damals, der Bel Epoque, der Ära vor dem Ersten Weltkrieg, nicht mehr leisten. Ein sozialer Umschwung hat stattgefunden. Diese alten Familien sind gezwungen Teile ihrer großen prächtigen Häuser temporär zu vermieten, um sie halten zu können oder sie leben tatsächlich von diesen Einnahmen.
Das interessanteste Paar dieses Abends war wohl das russisch-amerikanische. Er - sehr aufgeschlossen - Autor und Übersetzer - ehemaliger Cambridgeprofessor- mit einem immer sonnigen Gemüt. Ständig in politische Diskussionen verwickelt. Sie mindestens ebenso charmant wie redselig. Wenn Rosalie italienisch spricht, kommt ihr starker amerikanischer Akzent durch. Sie kann es sich einfach nicht abgewöhnen. Eigentlich sind diese beiden Zugereisten und »Neu-Venezianer« Weltenbummler der exquisiten Art. Auch sie haben sich dazu entschlossen einige Zeit in einem kleinen Palazzo auf 600 Quadratmetern, einem Teil dieses Hauses, vorübergehend als Mieter zu verbringen. Stationen ihrer Domizile waren immerhin Cambridge, London, Palermo, Rom, Venedig und sicherlich noch andere Städte, von denen ich aber nichts weiß. Jetzt sind sie also hier am Canale Grande. Sie gehört, würde ich sagen, zur amerikanischen Bourgeoisie, eine New Yorkerin mit Geld, die gerne reist und Europa bevorzugt und einfach zu gerne auf High Heels herumstolziert. Eine kleine dicke Tochter von ungefähr neun Jahren haben sie. Sie darf »never ever« auf eine öffentliche Schule gehen. Ich denke an dieses arme, reiche Kind, welches ja von seinen Altersgenossen so gut wie isoliert lebt. Es wird täglich von Privatlehrern unterrichtet. Oh, ihr Vater wurde in Moskau ebenfalls privat unterrichtet.
Für ein gemeinsam geplantes privates Abendessen bei unserem langjährigen italienischen Freund namens Hugo zu Hause hatte ich in Deutschland bereits die Vorkehrungen getroffen. »Sie wollen also wirklich 14kg Hirschrücken und Hirschkeule mit nach Italien nehmen?«, fragt der Förster unserer Familie im ehemaligen Osten erstaunt. »Ja«, sage ich ganz lapidar, »wo ist das Problem?«
»Nun ja, eigentlich haben Sie recht. Wenn das Fleisch tief gefroren bleibt, kann überhaupt nichts passieren. Also ich sende es Ihnen in einer Styroporkiste zu. Diese können Sie dann im Zug mit nach Venedig nehmen.«
»Einverstanden und noch einmal danke für Ihre Bemühungen,« gebe ich ihm zu verstehen und kann nachvollziehen, dass er mich für vollkommen übergeschnappt hält. So nehmen wir also tatsächlich das Fleisch ein paar Tage später entgegen und haben neben unserem ganzen anderen Gepäck - immerhin ein großer Koffer, zwei Ledertaschen, eine Handtasche und eine Fototasche - mit in den Zug nach München gehievt. Dort, nach einigen Stunden angekommen, verlassen wir schwer bepackt und nach einem Gepäckwagen suchend den Zug. Endlich Gleiswechsel. München Hauptbahnhof. Das ist das Zeichen für uns auf dieser Durchreise noch schnell eine Semmel mit Leberkäse und Senf zu essen. Es krümelt zwar und obwohl mein Reisebegleiter mir eine Hand voll dünner weißer Papierservietten reicht - ich habe im Zug nach Venedig immer noch fettige Finger. Bis fast an das Ende dieses Zuges müssen wir laufen, und dabei fängt es auch noch stark an zu regnen.
»Kannst Du bitte den Schirm halten«, rufst Du mir zu, »ich werde derweil unser Abteil suchen und das Gepäck einladen.« Endlich Abfahrt. Unser Ziel ist klar. Das andere aber, das Schlafwagenabteil, ist alles andere als klar. Es ist winzig klein und staubig. Ich bin enttäuscht, eigentlich entsetzt von diesem jämmerlichen Zustand des Abteils. Wir können leider nichts daran ändern und wollen doch schließlich noch in dieser Nacht nach Italien.
Die spärliche Beleuchtung hilft auch nicht gerade beim Verstauen unseres Reisegepäcks. »Jetzt die Styroporkiste mit dem Hirschfleisch; kannst Du sie neben die Heizung an das Fenster stellen?«, gibst Du mir zu verstehen. »Wie denn«, frage ich nach, »die Kiste mit dem Fleisch soll die ganze Nacht neben der Heizung liegen?« »Hm«, überlegst Du, »sag Du mir dann bitte, wo Du in diesem engen Loch noch Platz siehst. Nach oben können wir sie nicht legen. Der Abstand zur Decke ist zu klein. Unter das untere Bett passt sie auch nicht, dafür ist die Kiste zu groß und irgendwo muss sie ja heute Nacht stehen.«
Ich sehe ein, dass ich keine Einwände machen kann und wegen einer Styroporkiste will ich mich doch nicht mit Dir, meinem wunderbaren Freund und Reisebegleiter, zanken. Wie leicht ein Paar doch wegen Geringfügigkeiten in Streit geraten kann. Meistens geht es gar nicht um uns. Meistens sind es irgendwelche Dinge von außen mit denen wir konfrontiert werden, über die wir uns dann auseinandersetzen. Ja, und dann kommt mein Abwägen, und ich weiß ganz genau, dass ich keinen Streit haben möchte. Also Schwamm drüber. Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben - außer meinen Kindern, Eltern und Geschwistern natürlich - und dann ist die Sache egal. Natürlich will ich nicht immer nachgeben, aber ein gutes, objektives Abwägen der Dinge bewirkt Wunder. Meine bisherige Lebenserfahrung rät mir: bloß nicht rechthaberisch werden oder vielleicht noch zickig. Auf gar keinen Fall. Welcher Mann mag schon zickige Frauen. So, und dann setze ich das charmanteste Lächeln auf zu welchem ich im imstande bin. Das hat überhaupt nichts mit Falschheit zu tun. Oh, nein. Es hat etwas mit Diplomatie, klarem Verstand und absoluter Vernunft zu tun. Man kann es auch eisern antrainierte Disziplin nennen. Deeskalation bewirkt wahre Wunder.
Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht!
Diese Kiste geht mir trotzdem nicht aus dem Kopf in jener Nacht und ich denke: Vielleicht ist das ganze Fleisch morgen bereits aufgetaut. Ich bekomme albtraumartige Vorstellungen: Dieser tot geglaubte Hirsch würde wieder auferstehen und zu neuem Leben erwachen. Wie undenkbar ›absurd‹, sage ich mir. Woher habe ich nur solche Vorstellungen? Ah, ja natürlich. Mit den Kindern hatte ich im Kino Science-Fiction-Filme gesehen. In diesen Filmen mutierten Außerirdische zu menschlichen Lebewesen mit übermenschlichen Kräften. Sie hatten plötzlich Sehnen aus Eisen und ihre Gelenke werden vom Gehirncomputer ferngesteuert. Der Hirsch mutiert und bringt mich heute Nacht um, wenn ich endlich eingeschlafen bin. Als Rache der Natur sozusagen. Das wäre ja eigentlich nach den Naturgesetzen nur gerecht. Erst erlegen dich die Jäger, du edler Hirsch und dann wird dein Eis gekühlter Leichnam zum großen Fressen in ein anderes Land transportiert, wo die blutrünstigen Menschen dieses Planeten es kaum erwarten können dich - das heißt zwei Teile von dir - in Rotwein und Gemüse vierundzwanzig Stunden einzulegen, um dich dann zu verspeisen. Was für ein Schicksal. Aber soll ich jetzt noch länger darüber nachdenken. Nein, bestimmt nicht.
Schließlich bin ich doch die Tochter eines Jägers und nicht so zimperlich aufgewachsen. Wie oft bin ich mit meinem Vater auf Jagd im Wald und im Feld gewesen, zudem bin ich kein Vegetarier.
»Bon appétit!« Das sagt die feine Gesellschaft aber nicht, würde Rosalie jetzt bemerken. Und im gleichen Atemzug würde sie süffisant hinzufügen: »I am only kidding!« Morgens um sieben Uhr klopft es an der Tür und ich öffne dem italienischen Schlafwagenschaffner: »Buon giorno, signora. Hier sind Ihre Papiere. Das Frühstück bringe ich Ihnen in wenigen Minuten. In circa einer Stunde werden wir in Venedig ankommen.«
»Grazie«, entgegne ich ihm verschlafen, bemerke aber trotzdem zu dieser frühen Stunde, wie er auf den verrutschten Ausschnitt meines Negligés starrt, und schließe schnell die Abteiltür. Während der Nacht war ich mehrmals aufgewacht. Der Zug hatte plötzlich angehalten. Irgendwo in Österreich. Ich bin neugierig und ziehe das Rollo herauf, um zu sehen, was sich draußen um diesen Zug herum abspielt. Kaltes Licht scheint mir entgegen. Sonst ist es rundherum dunkel. Riesige Schnee bedeckte Berge tun sich auf. Ich höre Stimmen. Wahrscheinlich sind es Bahnarbeiter, die Züge hin- und herrangieren, Gleise kontrollieren und verstellen. Meine Augen brennen. Ich bin todmüde. Wieder hält dieser elende Zug an! - Ist es denn jetzt schon irgendwo in Norditalien? Ich meine, Verona erkannt zu haben. Also liegt jetzt nur noch Padua vor uns und dann endlich Venedig. Endstation. Danach kommt nur das Wasser.
Die Ereignisse vom 11. September 01 lassen uns jetzt mit diesem Zug fahren. Fliegen wäre sicherlich bequemer und schneller gewesen. Unter den schrecklichen Eindrücken des Terrors wählen wir die scheinbar sichere Bahn. Als wir ankommen, türmt sich vor uns wieder dieser Berg voller Koffer auf und mein ungewöhnlicher Begleiter, der Hirsch, der zu seiner vorletzten Ruhe in die Stadt an der Lagune reist, und wir sind dabei.
Am Ziel angekommen: »So, und nun ganz schnell das Fleisch in die Tiefkühlung«, bitte ich unsere Gastgeber, die sich über die riesige Styroporkiste samt Inhalt wundern.
»Ah«, staunt Hugo, »das ist also euer Mitbringsel, diese Überraschung in der Kiste«
»Ihr seid wirklich unverbesserlich, dass Ihr diese Strapazen auf Euch genommen habt.«
Nachdem das Wildbret endlich an seinem Platz ist, zeigt Hugo uns unsere Gästezimmer, und wir sind froh, diese lange Fahrt hinter uns gebracht zu haben. Hugo ist ein langjähriger Freund von Mitte dreißig - und noch Junggeselle. Nachdem er einige Jahre in Paris gewohnt hatte, ist er wieder zurück an die Stätte seiner Kindheit nach Venedig gezogen. Er hat ein Apartment im Haus seiner Eltern bezogen und uns hierher eingeladen. Wir machen uns kurz frisch und begrüßen danach seine Eltern, ein liebenswertes Ehepaar in den Sechzigern. Sie, die Mutter und gleichzeitig Großmutter, hatte die kleine Enkelin aus Paris während der Nacht betreut.
»Die Kleine hat Fieber, und meine Tochter liegt oben im Bett und ist ebenfalls krank. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir, da das Kind mehrmals aufgewacht ist«, erzählt sie uns leicht übermüdet, »aber trotzdem ist es schön, Euch zu sehen. Willkommen in Venedig. Vielleicht möchtet Ihr mit Hugo erst einmal ausgiebig frühstücken und danach einen kleinen Spaziergang unternehmen,« schlägt Rose, Hugos Mutter, anschließend vor. Schließlich kommt uns auch ihr Ehemann entgegen und schüttelt uns die Hand zur Begrüßung. Er schaut uns aus seinen verschmitzten blauen Augen freundlich an und streicht sich eine Strähne seiner grauen Haare aus der Stirn. Seine wichtigste Aufgabe im Haus besteht regelmäßig darin jeden Morgen die Fensterklappen zu öffnen und sie abends wieder zu schließen. Es ist eine Art Zeremonie und zeigt potenziellen Einbrechern, wer hier der Herr im Hause ist.
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