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Reiseberichte
Buch Leseprobe Die Schreie der Möwen, Friederike von Rheden
Friederike von Rheden

Die Schreie der Möwen


Ein Zeitfenster zwischen 2001 und 2009

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1. Erinnerungen an Italien


Ein Hirsch geht auf Reisen.


Hier stellt sich mir zunächst einmal die per­sönliche Frage, ob ich mich als bunten Schmet­terling bezeichnen soll oder eher als einen Vogel, der mal hier und dort vorbeifliegt. Sich um­schauend und dann weiterzieht. Wohl eher als Letzteres, denn bekanntlich können Vögel un­endlich weite Entfernungen zurücklegen. Sie rasten dort, wo sie Futter und Brutstätten fin­den. Sie verlassen kalte Gegenden, um in war­men Gefilden zu überwintern. Dieses Verhalten hat mich schlicht und ergreifend zum Nachah­men eingeladen. Aber nicht nur dieses »tieri­sche Verhalten«, sondern auch das ganz menschliche »neugierig sein« und »entdecken wollen«.


 


Es ist still, nur die Schreie der Möwen las­sen mich aufhorchen. Die Stadt schläft jetzt und ich bin glücklich endlich mit Dir, mein Freund, in Rom zu sein. Es ist unsere erste ge­meinsame Reise in diese wunderschöne Stadt am Tiber. Wir schreiben das Jahr 2001; wir, ein verliebtes Paar auf Italienreise. Nach einem guten Abendessen bei NINO, einem bekannten Restaurant in der römischen Innenstadt, schlen­dern wir durch die Straßen vorbei an den Schaufenstern der Via Condotti. Die Auslagen gefallen mir - Mode »Made in Italy«. Es macht Spaß, hier bummeln zu gehen, auch, wenn es anfänglich nur ein »Windowshopping« ist. Die bekannten italienischen Modedesigner geben sich hier ein Stelldichein. Ich kann dann doch nicht widerstehen und kaufe einen schönen, warmen Rock mit einer roten Wickelwolljacke. Zurück im Hotel probiere ich sogleich meine neue Kleidung an. Beim Betrachten der modischen Errungenschaften schießen mir die vielen Ein­drücke, die ich während des Tages gesammelt habe, durch den Kopf. Wir brauchen noch eini­ge Zeit, um zu schlafen und die Erinnerungen laufen wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab.


 


Während ich vor mich hindöse, höre ich das leise Rauschen der Dusche im Bad. Die Bilder an die Woche zuvor kommen zurück. Wir hat­ten schöne, sonnige Tage in Venedig. Dort le­ben viele unserer italienischen Freunde, die wir regelmäßig besuchen. Vor zwei Tagen kamen an die achtzehn Freunde zu einem gemeinsa­men Abendessen. Unter ihnen waren nicht nur Italiener. Eigentlich war diese Gruppe sehr ge­mischt europäisch, bis auf drei Amerikanerinnen, die ebenfalls in Venedig leben. Diese ein­zigartig schöne Stadt an der Lagune scheint be­sonders junge Amerikanerinnen magisch anzu­ziehen. Seit vielen Jahren können sich viele alt eingesessene Patrizierfamilien den einstigen Lebensstandard von damals, der Bel Epoque, der Ära vor dem Ersten Weltkrieg, nicht mehr leisten. Ein sozialer Umschwung hat stattgefunden. Diese alten Familien sind gezwungen Teile ihrer großen prächtigen Häuser temporär zu vermieten, um sie halten zu können oder sie leben tatsächlich von diesen Einnahmen.


 


Das interessanteste Paar dieses Abends war wohl das russisch-amerikanische. Er - sehr aufgeschlossen - Autor und Übersetzer - ehe­maliger Cambridgeprofessor- mit einem immer sonnigen Gemüt. Ständig in politische Diskus­sionen verwickelt. Sie mindestens ebenso char­mant wie redselig. Wenn Rosalie italienisch spricht, kommt ihr starker amerikanischer Ak­zent durch. Sie kann es sich einfach nicht abge­wöhnen. Eigentlich sind diese beiden Zugereis­ten und »Neu-Venezianer« Weltenbummler der exquisiten Art. Auch sie haben sich dazu ent­schlossen einige Zeit in einem kleinen Palazzo auf 600 Quadratmetern, einem Teil dieses Hau­ses, vorübergehend als Mieter zu verbringen. Stationen ihrer Domizile waren immerhin Cambridge, London, Palermo, Rom, Venedig und sicherlich noch andere Städte, von denen ich aber nichts weiß. Jetzt sind sie also hier am Canale Grande. Sie gehört, würde ich sagen, zur amerikanischen Bourgeoisie, eine New Yorkerin mit Geld, die gerne reist und Europa bevorzugt und einfach zu gerne auf High Heels herumstolziert. Eine kleine dicke Tochter von ungefähr neun Jahren haben sie. Sie darf »never ever« auf eine öffentliche Schule gehen. Ich denke an dieses arme, reiche Kind, welches ja von seinen Altersgenossen so gut wie isoliert lebt. Es wird täglich von Privatlehrern unterrichtet. Oh, ihr Vater wurde in Moskau ebenfalls privat unterrichtet.


 


Für ein gemeinsam geplantes privates Abendessen bei unserem langjährigen italieni­schen Freund namens Hugo zu Hause hatte ich in Deutschland bereits die Vorkehrungen ge­troffen. »Sie wollen also wirklich 14kg Hirsch­rücken und Hirschkeule mit nach Italien neh­men?«, fragt der Förster unserer Familie im ehemaligen Osten erstaunt. »Ja«, sage ich ganz lapidar, »wo ist das Pro­blem?«


»Nun ja, eigentlich haben Sie recht. Wenn das Fleisch tief gefroren bleibt, kann überhaupt nichts passieren. Also ich sende es Ihnen in ei­ner Styroporkiste zu. Diese können Sie dann im Zug mit nach Venedig nehmen.«


»Einverstanden und noch einmal danke für Ihre Bemühungen,« gebe ich ihm zu verstehen und kann nachvollziehen, dass er mich für voll­kommen übergeschnappt hält. So nehmen wir also tat­sächlich das Fleisch ein paar Tage spä­ter entge­gen und haben neben unserem ganzen anderen Gepäck - immerhin ein großer Koffer, zwei Lederta­schen, eine Handtasche und eine Fototasche - mit in den Zug nach München ge­hievt. Dort, nach einigen Stunden angekom­men, verlassen wir schwer bepackt und nach ei­nem Gepäckwagen suchend den Zug. Endlich Gleiswechsel. München Hauptbahnhof. Das ist das Zeichen für uns auf dieser Durchreise noch schnell eine Semmel mit Leberkäse und Senf zu essen. Es krümelt zwar und obwohl mein Rei­sebegleiter mir eine Hand voll dünner weißer Papierservietten reicht - ich habe im Zug nach Venedig immer noch fettige Finger. Bis fast an das Ende dieses Zuges müssen wir laufen, und dabei fängt es auch noch stark an zu regnen.


»Kannst Du bitte den Schirm halten«, rufst Du mir zu, »ich werde derweil unser Abteil su­chen und das Gepäck einladen.« Endlich Ab­fahrt. Unser Ziel ist klar. Das andere aber, das Schlafwagenabteil, ist alles andere als klar. Es ist winzig klein und staubig. Ich bin enttäuscht, eigentlich entsetzt von diesem jämmerlichen Zustand des Abteils. Wir können leider nichts daran ändern und wollen doch schließlich noch in dieser Nacht nach Italien.


Die spärliche Beleuchtung hilft auch nicht gerade beim Verstauen unseres Reisegepäcks. »Jetzt die Styroporkiste mit dem Hirschfleisch; kannst Du sie neben die Heizung an das Fenster stellen?«, gibst Du mir zu verstehen. »Wie denn«, frage ich nach, »die Kiste mit dem Fleisch soll die ganze Nacht neben der Heizung liegen?« »Hm«, überlegst Du, »sag Du mir dann bitte, wo Du in diesem engen Loch noch Platz siehst. Nach oben können wir sie nicht le­gen. Der Abstand zur Decke ist zu klein. Unter das untere Bett passt sie auch nicht, dafür ist die Kiste zu groß und irgendwo muss sie ja heute Nacht stehen.«


Ich sehe ein, dass ich keine Ein­wände ma­chen kann und wegen einer Styropor­kiste will ich mich doch nicht mit Dir, meinem wunder­baren Freund und Reisebegleiter, zanken. Wie leicht ein Paar doch wegen Geringfü­gigkeiten in Streit geraten kann. Meistens geht es gar nicht um uns. Meistens sind es irgend­welche Dinge von außen mit denen wir kon­frontiert werden, über die wir uns dann auseinanderset­zen. Ja, und dann kommt mein Abwä­gen, und ich weiß ganz genau, dass ich keinen Streit ha­ben möchte. Also Schwamm drüber. Du bist ei­ner der wichtigsten Menschen in mei­nem Leben - außer meinen Kindern, Eltern und Geschwis­tern natürlich - und dann ist die Sache egal. Natürlich will ich nicht immer nachgeben, aber ein gutes, objektives Abwägen der Dinge be­wirkt Wunder. Meine bisherige Lebenserfah­rung rät mir: bloß nicht rechthaberisch werden oder vielleicht noch zickig. Auf gar keinen Fall. Welcher Mann mag schon zickige Frauen. So, und dann setze ich das charmanteste Lä­cheln auf zu welchem ich im imstande bin. Das hat überhaupt nichts mit Falschheit zu tun. Oh, nein. Es hat etwas mit Diplomatie, klarem Ver­stand und absoluter Vernunft zu tun. Man kann es auch eisern antrainierte Disziplin nennen. Deeskalation bewirkt wahre Wunder.


Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht!


Diese Kiste geht mir trotzdem nicht aus dem Kopf in jener Nacht und ich denke: Vielleicht ist das ganze Fleisch morgen bereits aufgetaut. Ich bekomme albtraumartige Vorstellungen: Dieser tot geglaubte Hirsch würde wieder auf­erstehen und zu neuem Leben erwachen. Wie undenkbar ›absurd‹, sage ich mir. Woher habe ich nur solche Vorstellungen? Ah, ja natürlich. Mit den Kindern hatte ich im Kino Science-Fic­tion-Filme gesehen. In diesen Filmen mutierten Außerirdische zu menschlichen Lebewesen mit übermenschlichen Kräften. Sie hatten plötzlich Sehnen aus Eisen und ihre Gelenke werden vom Gehirncomputer ferngesteuert. Der Hirsch mutiert und bringt mich heute Nacht um, wenn ich endlich eingeschlafen bin. Als Rache der Natur sozusagen. Das wäre ja eigentlich nach den Naturgesetzen nur gerecht. Erst erlegen dich die Jäger, du edler Hirsch und dann wird dein Eis gekühlter Leichnam zum großen Fres­sen in ein anderes Land transportiert, wo die blutrünstigen Menschen dieses Planeten es kaum erwarten können dich - das heißt zwei Teile von dir - in Rotwein und Gemüse vier­undzwanzig Stunden einzulegen, um dich dann zu verspeisen. Was für ein Schicksal. Aber soll ich jetzt noch länger darüber nachdenken. Nein, bestimmt nicht.


Schließlich bin ich doch die Tochter eines Jägers und nicht so zimperlich aufgewachsen. Wie oft bin ich mit meinem Vater auf Jagd im Wald und im Feld gewesen, zudem bin ich kein Vegetarier.


»Bon appétit!« Das sagt die feine Gesell­schaft aber nicht, würde Rosalie jetzt bemer­ken. Und im gleichen Atemzug würde sie süffi­sant hinzufügen: »I am only kidding!« Morgens um sieben Uhr klopft es an der Tür und ich öff­ne dem italienischen Schlafwagenschaffner: »Buon giorno, signora. Hier sind Ihre Papiere. Das Frühstück bringe ich Ihnen in wenigen Mi­nuten. In circa einer Stunde werden wir in Venedig ankommen.«


»Grazie«, entgegne ich ihm verschlafen, bemerke aber trotzdem zu die­ser frühen Stunde, wie er auf den verrutschten Ausschnitt meines Negligés starrt, und schließe schnell die Abteiltür. Während der Nacht war ich mehrmals aufgewacht. Der Zug hatte plötz­lich angehalten. Irgendwo in Österreich. Ich bin neugierig und ziehe das Rollo herauf, um zu sehen, was sich draußen um diesen Zug her­um abspielt. Kaltes Licht scheint mir entgegen. Sonst ist es rundherum dunkel. Riesige Schnee bedeckte Berge tun sich auf. Ich höre Stimmen. Wahrscheinlich sind es Bahnarbeiter, die Züge hin- und herrangieren, Gleise kontrollieren und verstellen. Meine Augen brennen. Ich bin tod­müde. Wieder hält dieser elende Zug an! - Ist es denn jetzt schon irgendwo in Norditalien? Ich meine, Verona erkannt zu haben. Also liegt jetzt nur noch Padua vor uns und dann endlich Venedig. Endstation. Danach kommt nur das Wasser.


Die Ereignisse vom 11. September 01 lassen uns jetzt mit diesem Zug fahren. Fliegen wäre sicherlich bequemer und schneller gewesen. Unter den schrecklichen Eindrücken des Ter­rors wählen wir die scheinbar sichere Bahn. Als wir ankommen, türmt sich vor uns wieder die­ser Berg voller Koffer auf und mein ungewöhn­licher Begleiter, der Hirsch, der zu seiner vor­letzten Ruhe in die Stadt an der Lagune reist, und wir sind dabei.


Am Ziel angekommen: »So, und nun ganz schnell das Fleisch in die Tiefkühlung«, bitte ich unsere Gastgeber, die sich über die riesige Styroporkiste samt Inhalt wundern.


»Ah«, staunt Hugo, »das ist also euer Mitbringsel, diese Überraschung in der Kiste«


»Ihr seid wirklich unverbesserlich, dass Ihr diese Strapa­zen auf Euch genommen habt.«


Nachdem das Wildbret endlich an seinem Platz ist, zeigt Hugo uns unsere Gästezimmer, und wir sind froh, diese lange Fahrt hinter uns gebracht zu haben. Hugo ist ein langjähriger Freund von Mitte dreißig - und noch Junggesel­le. Nachdem er einige Jahre in Paris gewohnt hatte, ist er wieder zurück an die Stätte seiner Kindheit nach Venedig gezogen. Er hat ein Apartment im Haus seiner Eltern bezogen und uns hierher eingeladen. Wir machen uns kurz frisch und begrüßen danach seine Eltern, ein liebenswertes Ehepaar in den Sechzigern. Sie, die Mutter und gleichzeitig Großmutter, hatte die kleine Enkelin aus Paris während der Nacht betreut.


»Die Kleine hat Fieber, und meine Tochter liegt oben im Bett und ist ebenfalls krank. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir, da das Kind mehrmals aufgewacht ist«, erzählt sie uns leicht übermüdet, »aber trotzdem ist es schön, Euch zu sehen. Willkommen in Venedig. Vielleicht möchtet Ihr mit Hugo erst einmal ausgiebig frühstücken und danach einen kleinen Spaziergang unternehmen,« schlägt Rose, Hugos Mutter, anschließend vor. Schließlich kommt uns auch ihr Ehemann ent­gegen und schüttelt uns die Hand zur Begrü­ßung. Er schaut uns aus seinen verschmitzten blauen Augen freundlich an und streicht sich eine Strähne seiner grauen Haare aus der Stirn. Seine wichtigste Aufgabe im Haus besteht regelmäßig darin jeden Morgen die Fensterklappen zu öffnen und sie abends wieder zu schließen. Es ist eine Art Zeremonie und zeigt potenziellen Einbrechern, wer hier der Herr im Hause ist.


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