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> Politik, Gesellschaft > Als Blinder Passagier
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Politik, Gesellschaftskritik
Buch Leseprobe Als Blinder Passagier, Quilombo Hoknay / Jörg Podzuweit
Quilombo Hoknay / Jörg Podzuweit

Als Blinder Passagier


Die Gesch. von einem, der durchgekommen ist.

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Wo soll ich denn hingehen? Ich denke gar nicht darüber nach, sondern wandere direkt zum Hafen und klettere zum tausendsten Mal über die Mauer. Ich werde mich nicht noch einmal erwischen lassen. Ich werde mit einem Schiff nach Europa fahren oder draufgehen, das ist mir fast schon egal. Am nächsten Tag bekomme ich einen heißen Tipp von einem jungen Senegalesen. Der Frachter „Princesa“, der Reis gebracht hat, soll morgen in See stechen Richtung Europa. Das Schiff fährt unter der Flagge von Panama mit chinesischer Mannschaft. Das könnte eine Chance sein. Und am Abend geschieht ein Wunder: In einer Mauernische entdecke ich einen schlafenden Docker. Seine Arbeitskleidung hat er ausgezogen und neben sich gelegt. In Sekundenschnelle habe ich sie mir gegriffen und bin verschwunden. Ich kann es kaum fassen: Jetzt ist sie gekommen, die große Chance, auf die ich so lange gewartet habe. Nun darf ich keinen Fehler mehr machen. Ich verziehe mich in mein Versteck, finde aber kaum Schlaf in dieser Nacht. Endlich bricht der neue Tag an, ich schlüpfe in die Arbeiterkleidung und pirsche mich an die Anlegestelle. Ich reibe mir Staub und Dreck ins Gesicht, um die Narben auf meinen Wangen zu überdecken. Dann kommen die Docker, um die verbliebenen Säcke Reis zu entladen. Ich mische mich unter sie und gelange unerkannt an Bord. Jetzt geht es ums Ganze, das ist mir bewusst. Denn hier an Bord des Schiffes werde ich sehr schnell als Fremdkörper erkannt, wenn ich nur den kleinsten Fehler mache. Die Docker werden vom Schiffspersonal genau beobachtet. Da ich kein Wolof spreche, kann ich die Befehle und Rufe nicht verstehen. Und ich kenne die Abläufe nicht, weiß nicht, was als nächstes passiert. Ich muss also so schnell wie möglich „unsichtbar“ werden. Bei der ersten Gelegenheit ducke ich mich weg in einen leeren Gang. Ich haste lautlos durch Gänge und über Treppen und entdecke schließlich in einer Wand in über zwei Meter Höhe eine runde Öffnung, aus der ein Stahlseil hängt. Daran kann ich hochklettern und gelange in einen Schacht aus rostigem Stahlblech, etwa 1,30 Meter hoch und vielleicht 60 cm breit, verbunden mit anderen gleichartigen Schächten. Ich krieche um zwei Ecken und halte ein. Das scheint kein schlechtes Versteck zu sein. Kann mir nicht vorstellen, dass die Matrosen hier rumkrabbeln werden. Langsam werde ich etwas ruhiger; seitdem ich die Klamotten des Dockers angezogen habe, waren alle meine Nerven aufs Äußerste gespannt. Der Atem wird langsamer; ich kann es noch nicht richtig glauben, aber es scheint als hätte ich es erstmal geschafft. Ich schaue auf meine nackten Füße. Ich schaue auf meine nackten Füße – und das Herz bleibt mir stehen. Ich bin barfuß. Wo sind meine Flip-Flops, meine Sandalen? Auf ein Mal weiß ich wo sie sind: Genau unter der Öffnung müssen sie liegen, unter dem Stahlseil, an dem ich mich hoch gezogen habe. Ich krieche zurück zur Öffnung und tatsächlich, dort unten liegen sie, die ausgelatschten Plastikschlappen. Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts, das Herz klopft mir bis zum Hals. Ist das jetzt der Fehler, der mir zum Verhängnis wird? Ich könnte mich erwürgen. Aber da unten bleiben dürfen die Dinger nicht, denn sie werden mich verraten. Also wieder raus aus meinem Versteck, runter auf den Boden, die Latschen geschnappt und zurück in die Röhre geklettert so schnell es nur irgend geht. Es hat geklappt. Niemand ist gekommen, niemand hat mich bemerkt. Ich bin unsichtbar. Und ich bin an Bord eines Schiffes nach Europa. Ein überwältigendes Glücksgefühl überkommt mich wie ich es nie zuvor erlebt habe. Ich zittere vor reiner Freude. Nach Stunden setzt sich das Schiff in Bewegung. Ich bleibe in mein Versteck eingezwängt bis in die Nacht, bis das Leben auf dem Schiff ruhiger geworden und am Ende nichts mehr zu hören ist außer dem regelmäßigen Brummen der Maschine. Dann verlasse ich leise mein Loch und suche den Weg zum Deck. Da laufe ich einen Gang entlang und fange an zu grinsen wie ein dummer Junge, kann mir nicht helfen Faxen zu machen, komme mir vor wie ein großer Seefahrer auf „meinem Schiff“ und genieße das Gefühl. Sobald ich das Oberdeck erreiche, hat mich die Realität wieder. Hier herrscht freie Sicht und damit auch die Gefahr gesehen zu werden. Ich gehe zu Boden und bewege mich robbend weiter. Ich hoffe, etwas Essbares zu finden wie auf dem deutschen Frachter. Auf einmal höre ich Schritte in nächster Nähe und kauere mich schnell hinter den Vorsprung einer Stahlwand. Die Schritte kommen immer näher und bleiben schließlich stehen, keinen Meter von mir entfernt. Wenn der Mann noch einen Schritt weiter geht und sich umsieht, wird er mich entdecken. Ich bemühe mich, völlig lautlos zu atmen. Zwei, drei endlose Minuten lang bleibt der Wachoffizier auf der Stelle stehen, dann geht er weiter. Mir sitzt der Schock in den Gliedern. Der Appetit ist mir vergangen. Beinahe wäre ich aufgeflogen. Es war doch zu dumm von mir, dieses Risiko einzugehen. Denn wenn sie mich zu früh entdecken, bringen sie mich vielleicht an Land zurück. Oder sie lassen mich von der Küstenwache abholen. Oder von Militärhubschraubern. Nein, wir müssen erst weit draußen auf hoher See sein, bevor ich mich zeigen kann. Ich warte noch eine Weile, dann schleiche ich mich ohne Umwege zurück in mein Versteck. Zuerst ärgere ich mich über meinen Leichtsinn, aber dann siegt die Freude darüber, dass der Wachmann mich nicht gesehen hat. Ich habe es bis hierher geschafft. Zum ersten Mal seit langer Zeit empfinde ich eine tiefe Ruhe. Ich weiß zwar nicht, wohin der Frachter fährt, aber ich habe das sichere Gefühl, dass wir Afrika hinter uns lassen. Meine Familie hat keine Ahnung wo ich bin. Das Militär wird mich nicht mehr finden. Ich weiß jetzt genau, was ich zu tun habe. Ich werde es hier in dieser Röhre nicht ewig aushalten, ich habe nichts zu essen und nichts zu trinken. Aber ich werde ausharren solange irgend möglich. Ich werde es schaffen. Man kann es sich wahrscheinlich nur sehr schwer vorstellen, aber nie zuvor in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen wie in dieser Nacht. Doch es ist ein Wechselbad der Gefühle, denn immer wieder überkommt mich auch die Angst: Was soll nun werden? Der nächste Tag ist sehr hart, Durst und Hunger quälen mich, ich habe einen entsetzlich trockenen Mund. Dann wird es merkwürdigerweise erträglicher. Vielleicht bin ich in eine Art Trance geraten. Ich zehre tatsächlich von einem unendlichen Glücksgefühl. Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht. Und mit jeder Minute, in der das Schiff durch die Wellen rollt, kann ich mir sicherer sein, dass die Küste Afrikas weit hinter mir liegt.


 


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