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Krimis & Thriller
Buch Leseprobe Symptome, Peter Nimtsch
Peter Nimtsch

Symptome


Psychothriller

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Böses Erwachen

Ihr erstes Erwachen ließ sich nicht von einem Traum unterscheiden. Dem Schauplatz eines bösen Traums in schwarzweiß. Eine Mondlandschaft, auf die sie aus einem Raumschiff heraus starrte: Düster, fremd, kalt, unwirtlich, steinern.
Als sie das zweite Mal die Augen öffnete, kam jenes Bild ganz kurz hoch. Es verschwand und das Sehzentrum ihres Großhirns begann, die neue Kulisse mit Gespeichertem abzugleichen:
Linien. Glatt. Gerade. Kalt – Stäbe ...
Hoch, runter, vor, zurück. Mit Nadelöhren – Schienen ...
Metallschienen.
Dazwischen: Säcke. Dunkel. Glatt – Plastiksäcke ...
Ein Regal. Mit dunklen Plastiksäcken darin.
Daneben ein hellgrauer Plastikvorhang.
Die Regalschienen strebten etwas entgegen, das ihr bekannt vorkam: Die Steinlandschaft aus dem Traum.
Während sie die Dinge als real existierend einzustufen begann, fehlte der Sinn für den Zusammenhang anfangs völlig. Etwa erkannte sie in dem Moment noch nicht, dass es die Betonplatten über ihr waren, auf die sie vorher geblickt hatte. Ebenso wenig den Grund für den Wechsel der Szenerie von Mondlandschaft zu Plastiksäcken: das Kippen ihres Kopfes zur linken Seite.
Nach und nach erreichten einzelne Empfindungen ihr Bewusstsein: Zuerst ein Stechen im rechten Arm, den sie nicht sah. Dann Kälte. Die Unmöglichkeit sich zu bewegen. Ihr trockener Mund.
Aber das störte sie nicht. Ihr war alles egal.
Anfangs.
Doch irgendwann begann sie, die Situation nicht mehr zu mögen. Und aus einem anfänglichen vagen Unbehagen wurde Angst.
Dies, das wahrhaftige Zu-sich-Kommen, das Begreifen, das war das Schlimmste, was sie je erlebt hatte. Dabei waren ihre Gedanken unerträglicher als alles Düstere um sie herum. Schlimmer als der Schmerz im Arm. Die nasse Kälte.
Die scheußlichen Gedanken.
Mit jeder Erinnerung an ihre letzten Stunden in der Wirklichkeit, mit jedem Herzschlag in ihrem Kehlkopf, kam ein neuer böser Gedanke hinzu: Fessel. Entführung. Kerker. Folterkammer. Bevorstehender Tod. Lebendig begraben. Und jeder dieser Gedanken, zusammen mit der Erkenntnis, dass sie sich nicht bewegen konnte, verwandelte ihre Angst zügig in panisches Entsetzen.
Und dieses Entsetzen veränderte wiederum ihr Denken aufs neue. Aus Feststellungen und Folgerungen wurden Bitten und Gelöbnisse.
Vater unser, im Himmel, hilf mir hier raus. Lass mich nicht so enden. Es war ein Fehler. Ich wollte das nicht. Nie mehr gehe ich so ein Risiko ein. Ich schwöre. Schwöre. Schwöre. Schwöre. Schwöre.
Die Verzweiflung schien über ihrem Verstand zusammenzuschlagen wie Wellen über einer Ertrinkenden.
Warum kann ich mich nicht bewegen? Bin ich gefesselt? Überall, an Armen und Beinen, sogar am Kopf?
Vater unser. Vater unser. Vater unser.
Ihr wurde übel.
Nein!
Oder doch. Bitte, lass mich wieder ohnmächtig werden.


 


 


Vier Wochen zuvor

Das schrille Piepsen des Schwesternrufs ließ sie zusammenfahren.
Ihr Liebling.
Sie nahm die Füße vom Stuhl und legte die Zeitschrift mit den ersten Farbfotos aus der menschlichen Blutbahn auf den Schreibtisch, blieb aber noch sitzen. Lauschte in die nächtliche Stille vor der Dienstzentrale. In die trügerische. Denn genaugenommen war das skurrile Treiben gestern erst nach dem Dreiviertelzwölfläuten der unbekannten Turmuhr losgegangen. Es war also noch nicht ausgestanden.
Bim ... Wie auf Kommando schlug leise die Glocke. Drei Mal.
Larissa holte das Kamerabild von Langers Zimmer auf den Monitor. In seinem Bett bewegte sich etwas – er schien die Hand zu heben.
Sie schwang sich aus dem Drehstuhl hoch, griff den Roller, der vor der Tür an der Wand lehnte, und stieß sich ab. Das luftbereifte Gefährt glitt fast lautlos über den schummrigen Gang.
Als sie um die Ecke gebogen war und den Roller vor 334 abstellte, schnellte ihr Kopf unwillkürlich nach hinten. Natürlich war niemand zu sehen, trotzdem erfasste sie erneut das unangenehme Gefühl, hier, auf dem stillen Flur, keineswegs alleine zu sein.

Zügig öffnete sie die Tür, tippte mit dem Zeigefinger auf die Anwesenheitstaste, rechts neben dem Türrahmen, und brachte damit auch die dezente Nachtleuchte unter dem Board an der Wand zum Glimmen. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr, eineinhalb Meter weiter oben, in der sich die Infrarotkamera verbarg.
Ihr Liebling hob zitternd die Hand.
„Was ist, Herr Langer?“, flüsterte sie. Mit etwas Abstand wegen seiner leicht feuchten Aussprache beugte sie sich zu ihm herunter. Der Mann mit dem runden kahlen Kopf versuchte zu lächeln, soweit sie das in der Dunkelheit erkennen konnte.
„Tassen“, stieß er leise hervor. Dabei lächelte er, eindeutig. Tat er das etwa nur in ihrer Gegenwart? Laut Dokumentation war er permanent depressiv.
„Schmerzen? Haben Sie wieder ...?“
„Äh, äh!“ Der am Parkinson-Syndrom Leidende schüttelte energisch den Kopf.
Falsch getippt. Gestern hatte sie ihm mit Tropfen helfen können.
„Tassen nassen.“ Er schlug die Decke zurück und deutete zitternd auf den mittleren Teil seines Betts.
„Wasser lassen?“
Verschämt nickte er.
„Kein Problem.“ Sie half ihm an den Bettrand und zog ihm die Pantoffeln über. „Sehr vernünftig von Ihnen, zu klingeln. Aus Ihrem letzten Sturz haben Sie sicher Ihre Lehren gezogen?“
Eine Geste seiner Hände sagte: Was will man machen?
„Also, gehen wir“, ermunterte sie ihn.
Grelles Licht, das automatisch anging, blendete sie beim Betreten der fensterlosen Nasszelle. Ein bleiches, spitzes Gesicht mit dunklen Augenringen starrte ihr aus dem Spiegelschränkchen über dem Waschbecken entgegen. Das war nicht mehr die, zu der noch vorletzte Woche jemand gesagt hatte: „Wie vierzig siehst du wirklich nicht aus, dreißig höchstens!“ Die wenigen, hinter ihr liegenden Nächte in diesem Pflegeheim hatten anscheinend bereits ihre Spuren hinterlassen. Larissa wandte sich ab.
Endlich auf seinem Reiseziel sitzend lächelte der Kranke wieder mit feuchten Augen. „Danke, Schwester Lara.“
„Ist es recht, wenn ich draußen warte, Herr Langer?“
Stirnrunzelnd nickte er.
„Sie klingeln einfach noch mal. Ich bin in der Nähe.“

Geräuschlos schloss sie die Zimmertür vom Flur aus. Um die genaue Uhrzeit zu erfahren, nahm sie den Pager aus der Kitteltasche und klappte ihn auf. Das Display leuchtete blau in der Dämmerung der wenigen Energiesparlampen. 23.58 Uhr. Wenn der oder die vermeintlich Schlaflose regelmäßig, immer zur gleichen Zeit, aktiv wurde, müsste er oder sie momentan unterwegs sein.
So leise es ging rollte sie durch den Dreierbereich zum Glasturm. Die Lämpchen unter den Schutzleisten, ringsherum auf dem Gang, unterbrachen die Dunkelheit gerade genug, um nicht an einen Pflegewagen zu stoßen. Unter den Glaskuppeln hatten laut Anweisung alle Lampen aus zu sein, sofern sich niemand dort aufhielt. Nur der Mond zeichnete einen matten Lichtfleck und das Muster der Glaseinfassungen auf den Kunststofffußboden.
An der Ostseite des Turmes huschte ein einsames Scheinwerferlicht vorbei. Es glitt als weißer Streifen die Wand entlang und verschwand. Etwas weiter weg, blassblau leuchtend, der Neonquader des Bürohochhauses an der B 27. Davor, weiter unten, markierte die horizontale Linie eines grau schimmernden Geflechts die Grundstücksgrenze. Warum der hässliche, mit Stacheldraht überzogene Sicherheitszaun, der das HCC umgab, bis heute nicht beseitigt worden war, hatte ihr noch keiner verraten.
Sie rollte ins innere Halbrund und blieb einen Meter vor der Scheibe stehen. Von hier aus konnte sie den Innenhof und die anderen drei Innenfassaden des Riesenklotzes komplett überblicken. Die halbrunden Glasanbauten, intern Glastürme genannt, thronten jeweils in der Mitte der vier gleich langen Gebäudeflügel.
Der zunehmende Mond und die meisten Sterne schienen sich gerade in dem Moment hinter einem silbern schillernden Vorhang aus Zirruswolken zu verstecken, als Larissa nach oben sah.
Hinter ihr knackte es, sie fuhr herum.
Im diffusen Licht sah sie nichts als ein bleiernes Stilleben vor sich: schemenhafte Möbel, graue Kratzputzwände, viel Glas und ein Ungeheuer, das tagsüber als Gummibaum bezeichnet wurde.
Das Holz der von der Sonne noch aufgeheizten Möbel kühlte sich anscheinend ab und hatte an einer Reibungsstelle jenen trockenen Ton erzeugt. Hatte sie nicht einmal gelesen, dass eine Seele im Raum sei, wenn das Holz knackte? Ich bin ja hier und es hat nur einmal geknackt, suggerierte sie sich.
Ihre Augen tasteten die dunklen Fensterreihen der gegenüberliegenden Fassade ab. Teilweise reflektierten die Scheiben den Himmel, aber nach genauerem Hinsehen erkannte sie im Südflügel in den unteren Etagen graue Flecken: die entlang der Fensterfront aufgereihten Betten, drei bis fünf pro Zimmer.
Was wohl ihre beiden Kollegen gerade machten? Da alles finster war, auch direkt unter ihr kein Licht auf die Wiese oder die Platten im Hof fiel, mussten sie sich in Zimmern auf der Außenseite aufhalten. Sie holte noch einmal den Pager heraus und wählte die Positionsbestimmung. Richtig vermutet. Beide waren auf verschiedenen Außenseiten zugange.
Sie betrachtete die Glastürme. Auf der anderen Seite, im ersten Stock, in der Dienstzentrale des Einserbereichs, schimmerte die Schreibtischplatte. Auch in der zweiten Etage. Sie hob den Kopf – und schreckte zusammen. Zugleich meldete sich stechend ihr Magen.
Da drüben stand jemand und starrte zu ihr herüber! Völlig unbeweglich. Auf diesem Stockwerk. Wie sie, in der Mitte des Anbaus. Nur etwas weiter hinten im Raum.
Da ist es also, das Phantom. Wenn es nicht erkannt werden wollte, so gelang ihm das hervorragend. Lediglich etwas Helles, vielleicht ein Nachthemd oder Pyjama, zeichnete sich verschwommen vom schwarzen Hintergrund ab.
Sollte sie sofort hinüberrollen und nachsehen, wer da nicht schlafen konnte? Sie zögerte. Wenn sie an die vergangenen zwei Nächte dachte ... – das Misslingen der Aktion war abzusehen. Sie verspürte keine Lust, atemlos drüben anzukommen und zum x-ten Mal in einem gottverlassenen, düsteren Flur vor einem menschenleeren Glasanbau zu stehen.
Das helle Kleidungsstück mit dem bleichen Fleck eines angedeuteten Gesichts darüber verharrte reglos. Ungeachtet ihres pulsierenden Trommelfells, versuchte Larissa positiv zu sehen, dass die Person sich nun wenigstens gezeigt hatte. Das war besser als flüchtende Geräusche, die stets schneller waren als sie. Und sie wusste jetzt, das Phantom trug heute ein helles Nachtgewand. Wenn sie beim nächsten Rundgang unter die eine oder andere Bettdecke schaute, konnte sie vielleicht ein paar von ihnen ausschließen.
Das Stechen im Magen war weg, ihr Puls beruhigte sich. Sie ließ das Nachthemd schweben und wandte sich ab, um nach Herrn Langer zu schauen.

Ihr Liebling stand bereits fertig angezogen im Bad. Er hielt sich zitternd mit beiden Händen am Griff an der Wand fest und traute sich offenbar nicht, alleine zum Bett zu gehen.
„Warten Sie schon lange?“, fragte sie.
Er winkte lächelnd ab.
Sie legte wieder ihren Arm um seinen Rücken und die beiden machten sich auf den beschwerlichen Weg zurück zu seiner Schlafstätte. Während er sich ganz auf seine Schritte konzentrierte, dachte sie über ihn nach.
Wie die meisten anderen Bewohner hatte auch Herr Langer statt Angehörige oder Verwandte, die ihn besuchten, einen Betreuer, der vom Sozialamt bezahlt wurde. Depressionen plagten ihn zweifellos, sie kannte die Symptome zu gut. Aber andererseits war er zumindest während ihrer Anwesenheit alles andere als gleichgültig. Eher humorvoll – gerade deshalb hatte sie ihn schließlich schon ins Herz geschlossen.
Für ein Leben im Pflegeheim war er jedenfalls definitiv zu jung. Dreiundzwanzig Jahre älter als ich, rechnete sie ... Sie kannte einige Paare mit großem Altersunterschied zwischen den Partnern. Sympathisch war er. Wenn er nicht so krank wäre ... Dass sie ihm gefiel, war jedenfalls nicht zu übersehen.
Er lief etwas besser als vorher. Auf dem Bett sitzend strahlte er sie an, als habe er ihr Gedankenspiel mitgehört.
„Werden Sie schlafen können? Oder brauchen Sie Ihre Tropfen?“
Er winkte ab. „Brauche nicht viel Schlaf. Schmerzen sind auch weg, wenn Sie da sind.“ Listig schielte er sie von unten an.
Aha, der erste eindeutige Flirtversuch.
Im Gehen wiederholte sie für sich die Namen der vier Herren in 334, die sich nicht geregt hatten, während sie mit Langer beschäftigt war. Da auf ihrem Stockwerk nur neun Männer wohnten, hatte sie deren Namen zuerst behalten. Zwei von ihnen, Langer und ein Herr im Einserbereich, schienen die einzigen nicht Verwirrten auf der Etage zu sein, die manchmal wach waren, mit denen sie sich also gelegentlich unterhalten konnte.
An der Tür winkte sie ihrem Liebling kurz zu. Fast schon draußen, fragte sie sich, ob Debautzki, Langers Bettnachbar, tatsächlich gerade geblinzelt hatte.

Sie rollte an ihrem Stützpunkt, der Dienstzentrale des Zweierbereichs, vorbei. An der Ecke zum Einserbereich sah sie kurz mit Bedauern zur Kamera ganz oben, im Winkel. Das Phantom wäre eventuell schon enttarnt, wenn sie die Aufnahmen der Flurkameras ansehen könnte. Leider durften das, ebenso wie bei den Kameras in den Dienstzentralen, allein autorisierte Personen unter ganz bestimmten, strengen Voraussetzungen. Was den Flur betraf, hatte es wohl mit der Evakuierung im Brandfall und der Feuerwehr zu tun.
Langsam rollte sie in den Einserbereich. Ihre Sinne waren auf Empfang gestellt. Doch sie hörte nichts außer dem sanften Summen des Windrads auf dem angrenzenden Gelände hinter den Bäumen, dem leisen Quietschen ihres Schuhs, wenn sie sich abstieß, dem Rollgeräusch ihres zweirädrigen Dienstfahrzeugs – und dem Klopfen ihres Pulses.
Vor der Einserdienstzentrale stellte sie ihr Fortbewegungsmittel ab und verharrte einen Moment. Fast alles war spiegelgleich zum Glasturm gegenüber angeordnet. Rechts, hinter der Glasröhre des Aufzugs, lag der große Aufenthaltsbereich, links der schmalere. Hier allerdings machte ein Raumteiler in Form eines Regals, umwuchert von noch größeren und üppigeren Pflanzen als im östlichen Flügel, den Bereich dahinter wesentlich schummriger.
Wachsam einen Fuß vor den anderen setzend, sich mehrmals nach allen Seiten umdrehend, bewegte sie sich zwischen den Tischen und Sesseln hindurch bis zur Glasfassade auf der Hofseite. Doch natürlich war der Anbau, aus dem die weiße Gestalt sie vorhin angestarrt hatte, verlassen und menschenleer.
Sie schaute durchs Fenster zu der Stelle hinüber, an der sie eben gestanden hatte. Wenn mein verirrtes Schäfchen nicht in einem Zimmer verschwunden ist, dachte sie, geistert es nun auf der anderen Seite auf dem Gang umher. Konzentriert versuchte sie drüben hinter der Glasfassade Einzelheiten, etwa die hellen Möbel, zu erkennen. Der augenblickliche Stand des Mondes erwies sich für eine Beobachtung der anderen Seite hier günstiger. Hinter den Sitzgruppen erkannte sie sogar die Umrisse des Gummibaums. Eine Weile betrachtete sie ihn, verzaubert, wie die Nacht Formen veränderte und verwischte, bis die Silhouette tatsächlich zu verschwimmen schien. Fast so, als bewege sie sich.
Sie schloss ganz kurz die Augen, sah erneut hinüber und war sich sicher: Dort, hinter dem Gummibaum, bewegte sich wirklich etwas! Sie trat dichter an die Scheibe heran und meinte nun zu erkennen, wie jemand weiter hinten, in der Tiefe des Raums, von rechts nach links durch den Glasturm ging.
Im nächsten Moment war er verschwunden.
Auf dem Rückweg zum Zweierbereich warf Larissa einen Blick ins Zimmer, in dem unter anderem Frau Abendschein fest schlief. Sie schaltete wie immer zuerst die Glocke aus und trat danach an ihr Bett. Für ihr ständiges Klingeln im Schlaf kursierten diverse Erklärungen; das Entfernen der Glocke war aber unter keinen Umständen erlaubt, weshalb man das Lämpchen am Pager einfach blinken ließ, bis man Zeit hatte oder regulär vorbeikam.
Henrik, der die Etage unter ihr betreute und auch schon auf diesem Stockwerk gearbeitet hatte, hatte ihr vier, fünf Namen von zu seiner Zeit Unruhigen genannt. Frau Abendschein gehörte nicht dazu. Aber Frau Yilmaz, zwei Betten weiter vorn. Und obwohl sie, so wie die anderen Bewohnerinnen von Henriks kurzer Liste, den Unterlagen nach längst ruhiggestellt war und auch augenblicklich mit offenem Mund schnarchend fest schlief, fragte sich Larissa, ob es ihr Nachthemd gewesen war, das sie vor gut zehn Minuten über den Hof hinweg im Glasturm gesehen hatte. Vom Farbton her konnte es passen.

Larissa rollte zurück zur Dienstzentrale, setzte sich an den Computer und begann wieder die Dateien ihrer Bewohner auf Schlaflosigkeit oder Unruhezustände – im Grunde bekannte Demenzsymptome – hin zu durchforsten.
Eine halbe Stunde später wurden ihre Nachforschungen durch ein leises Piepsen aus der Hüfttasche ihrer Bluse unterbrochen. Der stündliche Bereitschaftsbeleg war fällig. Die Funkuhr ihres Pagers zeigte ein Uhr. Folgsam tippte sie ihren persönlichen Code ein und schloss dann die Dateien, um mit dem Rundgang zu beginnen. Einen schlüssigen Hinweis auf die Identität des Nachtgespenstes hatte sie bisher nicht entdeckt.
Gleich im ersten in östlicher Richtung an die Dienstzentrale grenzenden Zimmer lagen fünf schwerstpflegebedürftige Frauen in elektronisch gesteuerten Pflegebetten, wie sie auch in anderen Zimmern standen. Larissa tippte auf den Touchscreen des Lagerungsplanes. Leise summend neigte sich die Auflagefläche mit fünfundneunzig Kilogramm Frau Fischer zur linken Seite und verformte sich so, dass die Schwergewichtige trotz Schräglage sicher ruhte. Währenddessen brauchte Larissa nur ihre Hand zu halten. Dann legte sie ihr noch ein Kissen zwischen die Knie. Immerhin muss man das noch von Hand machen, dachte sie und hörte die Bewohnerin leise im Schlaf vor sich hin pfeifen. Larissa warf noch einen Blick auf das Display der Box auf dem Nachttisch, die Frau Fischers Vitalwerte anzeigte.
Die Zweite, Frau Herb, wurde meistens kurz wach. Als ihre Unterlage sich zu neigen anfing, entwich ihr ein erschrecktes „Oh?“ und sie schielte verunsichert zur Bettkante, die sich hinter ihr nach oben bewegte. Larissa hielt auch ihre Hand und erklärte: „Keine Sorge, alles in Ordnung. Das ist nur, damit Sie nicht wund liegen, Frau Herb.“
Das beruhigte sie offensichtlich sofort. „Ach, mein Herzchen!“ lächelte sie und tätschelte Larissas Hand.
Auch die anderen drei, alle leicht bis schwer adipös und nicht in der Lage, sich selbst im Bett zu drehen, waren innerhalb der nächsten vier Minuten elektronisch, nur mit Hilfe weniger Handgriffe, gelagert. Mehr gab es momentan hier nicht zu tun, seit die neue Generation der All-night-long-Inkontinenzhosen eingesetzt wurden. Zuletzt noch ein Blick auf die Uhr: Acht Minuten für fünf Schwerstpflegebedürftige – ein Traum.
Nicht viel mehr Zeit beanspruchten die restlichen Zimmer. Im Großen und Ganzen hieß es nur hineinschauen, ab und zu auch auf die Werte der Boxen sehen und staunen über die Zukunft der Altenpflege. Lagern war fast nie erforderlich. Bewohner, bei denen die Gefahr des Wundliegens bestand, und die noch nicht in den Genuss eines computergesteuerten Betts kamen, ruhten auf sogenannten Hybridmatratzen. Larissa wusste, diese Neuentwicklungen kosteten pro Stück noch mehr, als sie brutto im Monat verdiente.
In 316 angelangt schaute sie zuerst nach den drei schnarchenden Zimmergenossen von Herrn Clemens. Für den netten Dreiundsiebzigjährigen ließ sie sich dann wiederum ein paar Minuten mehr Zeit. Meistens döste er in seinem Herzbett eher sitzend als liegend vor sich hin, wenn sie hereinkam, manchmal war er kurzzeitig leicht verwirrt. Aber ein paar Mal hatte sie sich schon leise ganz vernünftig mit ihm unterhalten können.
Heute bemerkte er sie scheinbar gar nicht. Sie verweilte kurz vor seinem Bett.  Er atmete für seine Verhältnisse ruhig und schien tatsächlich weggenickt zu sein. Nach einem Blick auf die Werte und einem zweiten auf den halbvollen Auffangbeutel seines Blasendauerkatheters schlich sie lautlos hinaus.

Mit einem Tastendruck auf ihren Pager entriegelte Larissa die Tür zur Dienstzentrale. Geräuschlos ging gleichzeitig die Beleuchtung an. Endlich Licht! Sie setzte sich an den Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und schraubte die Colaflasche auf. Es zischte. Sie trank einen Schluck.
Auf dem Monitor vor ihr öffneten sich die Seiten der automatischen Leistungserfassung. Ihre Ohren blieben bei der eigenartigen Lautlosigkeit jenseits der offenen Glastür, während sie sich auf die schwarze Computerschrift vor mehrfarbigem Hintergrund konzentrierte. In sich hineinlächelnd sah sie auf dem Bildschirm, was sie bisher getan hatte. Der Pager hatte alle Daten zuverlässig an den Rechner übermittelt und der hatte richtig gerechnet. Die vom Tagdienst mussten ihre Leistungen anscheinend oft manuell korrigieren, weil sie im Eifer des Gefechts den Scanner an den falschen Code gehalten hatten oder weil das Programm die falsche Tätigkeit erkannte. Das System funktionierte offensichtlich noch nicht perfekt. Als Nachtwache hatte sie es in der Hinsicht leichter.
Dafür hatte sie andere Sorgen. Aufs Neue kamen plötzlich die leidigen Erinnerungen an ihren Dienst nach der freien Woche, vorgestern, an die Oberfläche: Zum ersten Mal hatte sie allein gearbeitet, ohne Marta, ihre seltsam verschlossene Vorgängerin, von der sie fünf Nächte lang eingewiesen worden war. In die Stille hinein hatte sie durch die offene Tür der Dienstzentrale das leise Quietschen von Schuhen auf dem Kunststofffußboden des Flures gehört. Als sie nach wiederholter erfolgloser Jagd nach dem Verursacher irgendwann entnervt Henrik angerufen, und gefragt hatte, ob er oben gewesen sei und sie vielleicht gesucht habe, hatte er ihr erst einmal erklärt, wie sie am Pager sehen könne, wo sich ihre Kollegen gerade aufhielten. Im dritten Stock sei er nicht gewesen.
Die Kollegin vom Frühdienst hatte sich ihre Wahrnehmungen auch nur mit Schlafstörungen der bereits von Henrik erwähnten Bewohnerinnen erklären können, und mit Mirjam, die nachts für den ersten Stock zuständig war, hatte sie bisher kaum gesprochen.
Es gab noch einige Akten, welche ausführlich zu lesen sich Larissa deshalb schon gestern vorgenommen hatte. Beim Durchstöbern der Dateien stieß sie nun tatsächlich auf eine Bewohnerin des Einserbereichs, die zeitweilig nachts aufgestanden und auf dem Gang herumgelaufen war. Aber nachdem das Diazepam minimal erhöht worden war, hatte keine Nachtwache mehr etwas in der Art eingetragen. Larissa notierte sich Name und Zimmernummer. Sie wollte gerade eine weitere Datei öffnen, als ein Summton von draußen sie aufhorchen ließ.
War das nicht der Aufzug im Einser gewesen?
Ihre Finger verharrten reglos auf der Maus.
Richtig, der Lift war in Bewegung! Jetzt hörte sie, wie sich die Türen auf dieser Etage öffneten. Vielleicht Henrik. Oder das Phantom?
Sie wartete. Aber das typische Geräusch eines sich auf einem Roller nähernden Kollegen blieb aus.
Nichts als diese verlogene Stille.
Das wäre ja auch zu normal gewesen, dachte sie und rief die Positionsbestimmung auf. Sowohl Mirjam als auch Henrik waren unten, auf ihren Stockwerken, unterwegs. Es half nichts, sie musste noch mal zurück in den Einser, das war schließlich ihr Job. Und dass der Schlafwandler den Lift benutzte, war neu.
Sie schwang sich auf den Roller, fuhr bis zur Ecke und verharrte.

Vor ihr der verlassene, endlose Einserbereich. Und inmitten der Finsternis die gelb erleuchtete, gläserne Röhre im Glasturm – jemand musste heraufgekommen sein!
Zögerlich bewegte sie sich auf die Lichtsäule zu. Ihr Magen zwickte wieder. „Ist da jemand?“, fragte sie betont gleichmütig in den leeren Flur, langsam weiterrollend. Allmählich wurde ihr die Situation unheimlich.
Im Glasturm angekommen, rief sie: „Hallo?“
Dann stellte sie den Roller ab.
„Ist hier jemand?“
Plötzlich stand sie im Dunkeln und fuhr instinktiv herum, obwohl ihr schon vorher klar gewesen war, dass irgendwann das Licht im Aufzug automatisch ausgehen würde. Instinktiv suchte sie einen hellen Punkt. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Draußen, auf dem Gelände hinter den Laubbäumen, blinkte die rote Leuchte oben am Windrad. Larissa drehte sich nach links. Der Gebäudeflügel auf der anderen Seite des Hofes erschien ihr jetzt im Mondlicht auffallend hell. Und hinter der Scheibe des Glasturms im Dreierbereich, bewegte sich da nicht schon wieder etwas? Sie verharrte kurz, dann sprang sie förmlich auf die Glaswand zu und starrte, mit der Nase fast an der Scheibe, nach gegenüber, um schließlich festzustellen, dass nichts weiter als das Spiegelbild einer vom Mond angeschienenen Wolke drüben über das Glas wanderte.
Sie drehte sich um – und ein gellender, einem „Nein!“ ähnelnder Laut entwich ihrer Kehle.
In einem Sessel wenige Schritte entfernt saß oder vielmehr lag Frau Yilmaz und glotzte mit toten Augen zur Decke. Über ihren eigenen Schrei, der ihr noch im Ohr klang, genauso schockiert wie über den scheußlichen Anblick, versuchte Larissa zu verstehen, warum die Frau, die noch vor weniger als einer Viertelstunde in ihrem Bett schnarchte, hier lag.
Yilmaz’ Körper war im Sessel so tief nach unten gerutscht, dass sie ihn vorher, bei ihrem Hechtsprung zum Fenster, im Dunkeln und halb von der Lehne verdeckt nicht wahrgenommen hatte.
Voller schlimmer Befürchtungen ging sie auf den Sessel zu, registrierte aber, während ihr Pager zu summen und zu sprechen begann, dass ein nackter Arm der vermeintlichen Leiche im Sessel sich hob. Sie hielt das „Hallo?“ rufende Gerät ans Ohr. Henrik ging meistens zuerst ran, wenn ihr Pager wegen eines lauten Geräusches das Alarmsignal und die Mithörfunktion bei den anderen ausgelöst hatte. Doch diesmal war es Mirjam, die wissen wollte, was los sei. Larissa stand inzwischen vor dem Sessel der Frau, deren Augen nun einen lebendigeren Ausdruck annahmen und sich ihr zuwandten. Sie musste zuerst durchatmen, bevor sie antwortete: „Nichts passiert. Frau Yilmaz liegt hier im Glasturm in einem Sessel ...“
Sie beugte sich zu ihr herunter.
„Hat sie geschrien?“, fragte Mirjam.
„Nein, ich war das. Hab sie zuerst nicht gesehen, bin ziemlich erschrocken.“
„So, so. Sonst ist alles in Ordnung?“
„Alles in Ordnung“, log Larissa.
„Dann, bis später.“ Im Pager klickte es, Mirjam hatte aufgelegt.
Larissa ging vor dem Sessel in die Hocke, um in Augenhöhe mit der Bewohnerin reden zu können. „Einen ganz schönen Schrecken haben Sie mir eingejagt, Frau Yilmaz.“
Die Angesprochene saß nur da, in dieser unmöglichen, mehr liegenden als sitzenden Position, und starrte sie an, allerdings inzwischen mit interessiertem Blick. Etwas Seltsames lag trotzdem in ihrem Gesichtsausdruck.
„Wir haben uns noch gar nicht persönlich kennengelernt. Ich bin die neue Nachtwache. Lara Linde.“ Sie hielt ihr die Hand hin.
Keine Reaktion.
Hat Henrik also Recht gehabt, dachte sie. Einiges spricht dafür, dass Frau Yilmaz die Mondsüchtige ist, die mich seit Anfang der Woche an der Nase herumführt. Aber warum hat sie vorhin auf den Aufzug gedrückt?
Larissa erkannte, dass sie sehr wenig über die Frau wusste. Doch sie versuchte cool zu bleiben. „Ich bin eigentlich schon seit Anfang des Monats hier. Seit erstem August“, plauderte sie, während sie in ihrer Erinnerung nach Informationen über Frau Yilmaz kramte. „Eine Woche hatte ich dazwischen frei. Bisher schliefen Sie immer fest, wenn ich zu Ihnen ins Zimmer kam.“ Wie packte sie die Frau am besten an?
„Haben Sie Schmerzen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Etwas an ihr gefiel ihr immer weniger. War es ihr Blick?
Man sollte Henrik fragen, er kannte sie besser. Körperlich schien sie in Ordnung zu sein. Aber was war nur mit ihrem Gesichtsausdruck los? Er veränderte sich ständig, wirkte jetzt fast verängstigt. Oder entsetzt? Paranoide Schizophrenie, erinnerte sich Larissa. Gehörten zu dieser Form der Krankheit auch Halluzinationen? Falls die Frau von einer solchen gerade heimgesucht wurde, wollte Larissa nicht wissen, was sie gerade sah. Trotzdem musste sie irgendwie Kontakt zu ihr kriegen.
„Der Mond scheint heute so hell, da kann man kaum schlafen, hab ich Recht?“
Yilmaz’ Blick wirkte jetzt vorwurfsvoll.
„So ein kleiner Spaziergang tut gut, wenn einen nachts die Unruhe plagt, stimmt’s?“
Larissa sah hinunter, die Bewohnerin war barfuß. „Ist es nicht ein bisschen kühl, wenn Sie so ruhig hier sitzen, ohne Schuhe und Strümpfe, nur im Nachthemd? Wollen Sie nicht doch wieder ins warme Bett kriechen?“
Frau Yilmaz beugte sich leicht vor, so als wollte sie aufstehen.
Larissa streckte ihr noch einmal die Hand hin. „Darf ich Ihnen helfen? Ich kann Sie in Ihr Zimmer begleiten, wenn Sie möchten.“
Einen letzten optimistischen Moment lang glaubte sie, Frau Yilmaz nehme ihre Hand an, als deren Finger nach vorn schnellten und direkt auf Larissas Augen zielten. Sie konnte ausweichen, verlor aber, immer noch hockend, das Gleichgewicht und kippte nach hinten.
Was dann folgte, erkannte sie zu spät als reales Geschehen – zu spät, um wirksam reagieren zu können: Auf dem Rücken liegend, völlig überrascht, begriff sie, dass die Frau sich auf sie geworfen hatte. Mit einem rasenden, offenbar kopflosen Zweizentnergewicht auf der Brust versuchte sie, zwei würgende Hände von ihrem Hals wegzubekommen. Vergeblich. Je heftiger sie kämpfte, umso kräftiger drückte die Irre zu. Schmerzlich wurde ihr das bekannte Phänomen gegenwärtig, dass Geisteskranke ungeahnte Kräfe entwickeln können. Zuerst wütend, dann mit zunehmender Todesangst, wurde Larissa sich ihrer akuten Wehrlosigkeit bewusst.


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