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Krimis & Thriller
Buch Leseprobe Seelen, die in Scherben springen, Dania Dicken
Dania Dicken

Seelen, die in Scherben springen


Libby Whitman 20

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Prolog


 


Das Gefühl von Wärme hatte er vergessen. Wo er war, war es meistens kalt. Und dunkel. Inzwischen wusste er schon gar nicht mehr, dass es mal anders gewesen war. 


Wie sah die Sonne aus? Er hatte sie so lang nicht gesehen. Er stellte sie sich immer nur vor, wenn er mit seinem Teddy oder den paar kleinen Matchbox-Autos spielte, die er hatte. 


Aber so oft tat er das gar nicht. Meist saß er nur da und wartete darauf, dass jemand hereinkam. Dabei wusste er oft gar nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. 


Einerseits war es gut, denn so war er nicht mehr allein.


Andererseits musste er dann Sachen machen. Sachen, die er nicht machen wollte. Sachen, die eklig waren und manchmal auch weh taten. 


Aber er wusste, das musste sein. Sonst gab es vielleicht nichts zu essen. Oder Schläge. Oder er wurde angebrüllt. Oliver wollte nicht angebrüllt werden. 


Eigentlich hätte er sich jemanden gewünscht, der mit ihm spielte. Der ihm etwas vorsang ... oder ihn einfach nur mal in den Arm nahm, damit er nicht mehr so allein war. 


Oft träumte er sich einfach nur weg. Versuchte, sich an Dinge zu erinnern, von denen er gar nicht mehr wusste, woher er sie kannte. Er hatte Bilder im Kopf von einer Frau ... seiner Mutter? Er wusste es nicht. Es war zu lang her. Er war jetzt schon so lang hier, bei diesem Mann. Ganz schlimm wurde es, wenn er eine Kamera mitbrachte. Das war für Oliver ganz furchtbar, aber er musste mitmachen. Sonst bekam er nur wieder Ärger. 


Der Hunger wurde immer größer. Hoffentlich kam bald jemand und brachte etwas zu essen mit. 


Irgendwann begann er wieder zu spielen und verlor sich ganz darin. Er ließ seine Autos Rennen fahren und summte dabei leise. Darüber merkte er gar nicht, wie die Tür wieder geöffnet wurde. Als er plötzlich die Schuhe eines Mannes vor sich sah, schrak er zusammen und blickte ängstlich auf. 


Donnerstag, 28. November 


 


„Und schon wieder hier“, sagte Hayley und grinste. 


„Ich bin gerade ganz froh, dass es nicht Dulles ist“, sagte Libby. Sie hätte keinen Wert darauf gelegt, eine ganze Stunde zum Flughafen zu fahren, um Sadie und Matt abzuholen. Aber zum Glück hatten die beiden eine Verbindung von San Francisco zum Ronald Reagan Airport gefunden, genau wie Hayley einige Tage zuvor. 


Die beiden Schwestern standen in der Ankunftshalle und warteten auf ihre Eltern. Laut Anzeigetafel war die Maschine aus San Francisco vor zwanzig Minuten gelandet, deshalb rechneten sie jederzeit mit der Ankunft von Sadie und Matt. Die vierzehnjährige Hayley tippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, was Libby ihr nicht verdenken konnte. Sie wartete auch nicht gern. 


Zum Glück dauerte es nicht mehr lang. Als Libby Sadies rote Haare ausfindig machte, winkte sie und Sadie bemerkte sie auch sehr schnell. Gemeinsam mit Matt nahm sie Kurs auf die beiden. 


„Wie schön, euch zu sehen“, sagte Libby und umarmte die beiden nacheinander. Sie hatte ihre Eltern nicht gesehen, seit sie knapp drei Monate zuvor mit Julie in der Bay Area ermittelt hatte. 


Matt gab ihr ganz väterlich einen Kuss auf die Stirn. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, meine Große.“ 


Libby lächelte gerührt. In solchen Momenten empfand sie nicht wie eine FBI-Agentin, sondern bloß wie eine Tochter, die sich in der schützenden Umarmung ihres Vaters sicher und geborgen fühlte. 


„Es ist auch schön, wieder hier zu sein“, sagte Sadie. „Ich bin so gespannt darauf, Gracie zu sehen!“ 


Matt nickte zustimmend. Sie verbrachten nicht mehr Zeit als notwendig am Flughafen, sondern begaben sich zum Auto und traten den Weg nach Springfield an. Es war schon später Nachmittag, aber ihr Plan, dass Sadie und Matt bis zum Thanksgiving-Dinner vor Ort waren, war aufgegangen. 


Weil es regnete, war es schon fast vollständig dunkel. Regenschlieren zogen sich in Bändern an den seitlichen Autoscheiben entlang, Lichter brachen sich darin und bildeten ein buntes Mosaik wie in einem Kaleidoskop. Etwas gedankenverloren starrte Libby vor sich hin, bis die Ampel grün wurde und sie auf den Freeway auffahren konnte. 


Hayley erzählte ihren Eltern von ihren Erlebnissen der letzten Tage, vor allem von Gracies Geburtstag drei Tage zuvor. Libby steuerte nicht viel dazu bei, hörte aber gespannt zu. Ihre kleine Schwester hatte ihre Ferien bei ihr verbracht und sie hatte die Gelegenheit genutzt, ein paar Überstunden abzufeiern. Nick kannte das inzwischen schon und hatte keine Probleme damit. 


Nach kurzer Fahrt erreichten sie Libbys Heim. Sie beeilten sich, halbwegs trocken ins Haus zu kommen, das bis in den Flur vom köstlichen Duft des Truthahnbratens erfüllt war. Aus dem Wohnzimmer drang das Weinen eines Babys an ihre Ohren, doch Libby stellte gleich fest, dass es Micah sein musste. Gracies Weinen hätte sie immer erkannt und das war sie nicht. 


Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, wo Byron gerade versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. Owen stand neben ihm und versuchte, sich irgendwie nützlich zu machen. Neben ihm hockte Gracie auf dem Boden und versuchte, sich an ihm hochzuziehen. 


„Kommen wir ungelegen?“, fragte Matt nicht ganz ernst gemeint. 


„Ich habe meinem Sohn nur gerade erklärt, dass er bitte nicht Libbys Porzellandeko auf den Boden schmeißen soll“, erwiderte Byron mit hochgezogener Augenbraue. „Oh, und Hallo.“ 


Owen wandte sich zu seinen Schwiegereltern und kam, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen. 


„Schön, dass ihr da seid“, sagte er. 


„Wir freuen uns auch“, erwiderte Sadie. „Und wen haben wir hier?“ 


Sie hockte sich vor Gracie, die sie gleich neugierig und gleichermaßen verzückt ansah. Sie war jedes Mal äußerst fasziniert von Sadies Haarfarbe. Als sie ihre Arme nach Sadie ausstreckte, nahm Sadie das kleine Mädchen hoch. Libby beobachtete die beiden gerührt und freute sich darüber, dass sie so ein inniges Verhältnis hatten, obwohl sie einander nur so selten sahen. 


Owen und Matt unterhielten sich schon, während Emma aus der Küche hinzukam und in die Begrüßung mit einstimmte. 


„Hier riecht es ja schon absolut köstlich“, sagte Matt und schnupperte demonstrativ mit geschlossenen Augen. 


„Es riecht hier schon seit Stunden so gut“, sagte Emma. Im Vorfeld hatte sie Libby anvertraut, dass sie sehr gespannt darauf war, ein klassisches amerikanisches Thanksgiving zu erleben. Libby hatte es gar nicht als etwas Besonderes betrachtet, konnte aber verstehen, dass Emma das anders sah. 


Als es klingelte, eilte Emma direkt zur Tür. Libby wusste auch, warum, denn Julie und Kyle waren gekommen und natürlich ließ Emma es sich nicht nehmen, ihre Kusine persönlich zu begrüßen. Augenblicke später stießen die drei wieder zu ihnen und wurden sehr herzlich willkommen geheißen. 


Matt nickte anerkennend, als er Julies kaum zu übersehende Bauchrundung betrachtete. „Bald wird es ernst, was?“ 


„Ja, noch etwa zwei Monate“, sagte Julie und blickte stolz an sich herab. „Ich bin gespannt, wie das wird ...“ 


„Aufregend. Anders als alles andere, was man bis dahin kannte. Für mich war es das größte Abenteuer meines Lebens“, sagte Matt. „Und ist es weiterhin.“ 


„Kann man so sagen“, stimmte Sadie mit einem Lächeln zu. 


„Ich kann es kaum erwarten“, gab Kyle zu und wirkte auch sehr aufgeregt dabei. Owen und Matt tauschten einen wissenden Blick, sagten aber nichts. 


„Im Moment fehlen mir irgendwie die großzügigen Unterstützungsangebote, die es in Europa gibt“, sagte Julie. „Hier ist man ja wirklich komplett auf sich gestellt, wenn man Eltern wird.“ 


„Ja, hier in Virginia ist das wirklich nicht schön“, sagte Matt mitfühlend. Nach und nach nahmen sie am Tisch Platz, Libby setzte sich Gracie auf den Schoß. Wenig später tischten Emma und Owen das Essen auf und Julie tat bedauernd kund, dass sie kaum so viel würde essen können, wie sie eigentlich wollte. Libby und Sadie konnten es ihr nachfühlen. 


„Wie lang bleibst du denn noch hier?“, richtete Sadie sich an Emma. 


„Mein Visum endet kurz vor Julies errechnetem Geburtstermin. Ich habe allerdings schon eine Verlängerung beantragt. Das wäre ja sonst völlig bescheuert!“ 


„Willst du dann auch bei Julie und Kyle aushelfen?“ 


Emma nickte und Julie sagte: „Wir überlegen aktuell, ob Emma nicht zu Julie und Kyle wechselt und Gracie und Micah nicht vielleicht doch zu einer Tagesmutter gehen“, sagte Libby. „Mittlerweile sind sie ja alt genug dafür.“ 


„Sicher“, sagte Sadie. „Schade, dass wir zu Gracies Geburtstag noch nicht hier sein konnten.“ 


Das konnte Libby zwar verstehen, aber sie beschwichtigte ihre Mutter. „Sie ist erst ein Jahr alt geworden. Sie hat gar nicht ganz verstanden, warum sie an dem Tag Geschenke bekommen hat.“ 


„Das kommt frühestens nächstes Jahr“, sagte Matt. 


„Und wie lang willst du aussetzen?“, erkundigte Sadie sich bei Julie. „Oder wie habt ihr das überhaupt geplant?“ 


„Wir wollen es uns teilen“, sagte Julie. „Das erste halbe Jahr mache ich, das zweite macht Kyle. Das haben wir uns ganz bewusst so überlegt, weil wir glauben, dass eine Auszeit bei unseren Jobs auch mal angezeigt ist.“ 


„Das versteht niemand so gut wie ich“, sagte Matt. 


„Wie läuft es denn gerade überhaupt so bei euch?“, fragte Sadie gespannt. 


„Bei uns ist es im Moment viel Schreibtischarbeit. Die Anfragen, die wir bekommen, können wir von Quantico aus bearbeiten. Darum bin ich auch nicht traurig, auch wenn ich Schreibtischarbeit ja eigentlich nicht so sehr mag“, erzählte Libby. 


„Ich auch nicht, aber im Moment kann ich gar nichts anderes!“, sagte Julie und lachte. 


„Wenn wir ehrlich sind, kannst du nicht mal Schreibtischarbeit – du kommst ja gar nicht an den Schreibtisch ran“, neckte Kyle seine Frau liebevoll, aber sie zog nur pikiert die Nase hoch und schnaubte. 


„Das nächste Baby bekommst du!“, schoss sie zurück. 


Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Würde ich glatt machen, wenn die Natur es so vorgesehen hätte.“ 


„Ich hätte Sadie damals auch gern was abgenommen, aber die ganze Schwangerschaft über stand ich bloß dekorativ daneben ... genau so bei der Geburt“, sagte Matt wenig erfreut. „Ich habe mich gefreut, als ich endlich beim Füttern helfen konnte!“ 


Libby blickte zu Owen, der schweigsam an seinem Stück Truthahnbraten herum schnitt. Sie konnte sich denken, warum er so still war. Matt bemerkte es ebenfalls, ließ Owen aber nicht so leicht damit davonkommen. 


„Wie läuft es denn aktuell bei dir, Owen? Hast du dich jetzt in der neuen Abteilung eingewöhnt?“ 


Owen blickte so hastig auf, als hätte ihn etwas erschreckt. „Oh ... ja, das schon. Ich bin ja nun auch schon seit drei Monaten dort. Etwa seit Monatsanfang unterstütze ich die Kollegen bei den Ermittlungen in einem größeren Fall.“ 


„Worum geht es?“, erkundigte Matt sich interessiert. 


Verlegen räusperte Owen sich. „Das ist kein Thema fürs Essen, ehrlich gesagt.“ 


„Okay“, erwiderte Matt und ließ es vorerst gut sein. Libby konnte Owens Reaktion nicht nur nachvollziehen, sie fand sie auch richtig. Das war wirklich kein Thema für das festliche Thanksgiving-Essen. Über Kinderpornografie im großen Stil wollte sie gerade nicht nachdenken. 


„Wie läuft es denn bei euch?“, drehte sie den Spieß um und richtete sich mit dieser Frage an ihre Eltern. 


„Eigentlich unverändert“, sagte Sadie. „Das Unterrichten macht viel Spaß und bei Matt ist es längst nicht so stetig wie bei mir, aber das macht nichts.“ 


„Im Gegenteil, inzwischen bin ich froh über die Abwechslung“, sagte Matt. „Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, einen Job zu machen wie ihr und am Schreibtisch zu sitzen und hinterher Berichte zu schreiben. Das würde mich töten!“ 


„Das ist auch das, was ich am wenigsten mag“, gestand Libby und grinste in seine Richtung. Was das anging, waren sie sich verdammt ähnlich. 


„Wobei ich zugeben muss, dass mir manchmal auch die kribblige Anspannung fehlt, die dieser Job mit sich gebracht hat. Langweilig wurde er jedenfalls nicht.“ 


„Woran arbeitest du denn aktuell?“, fragte Owen. 


„Die bezahlten Aufträge sind gerade eigentlich nichts Besonderes ... Ich mache Fotos für Broschüren, immer mal wieder für ein Magazin aus Pleasanton, solche Dinge. Aber ich habe mich jetzt für ein Projekt gemeldet, für das Sadie mich begeistern konnte. Es geht um Fotos für Eltern von tot geborenen Kindern oder Frühchen, die kurz nach der Geburt sterben.“ 


„Wow, das ist stark“, sagte Kyle. „Wie bist du darauf gekommen?“ 


„Sadie hat eine Anzeige der Organisation gesehen und es mir vorgeschlagen. Ich fand es großartig. Nicht nur, weil wir selbst mal eine Fehlgeburt erleben mussten – generell finde ich die Idee toll und das Projekt sehr wichtig.“ 


„Ist es auch“, sagte Libby. „Du hast gar nichts erzählt.“ 


„Nein, ich bin erst seit Monatsanfang dabei. Aber tatsächlich hatte ich meinen ersten Einsatz vor vier Tagen.“ 


„Und, wie war das?“, fragte Julie. 


„Das war schon nicht einfach. Man trägt sich in eine Datenbank ein und kann jederzeit einen Anruf bekommen. Der Anruf kam am späten Nachmittag und ich bin gleich hingefahren. Es war ein junges Paar aus Fremont, das sein Baby in der 22. Woche verloren hat – kurz vor Beginn der Lebensfähigkeit. Das war wirklich hart. Die Frau hatte einen vorzeitigen Blasensprung und die Geburt ließ sich nicht mehr aufhalten. Hätte das Kind noch ein paar Tage auf sich warten lassen, hätte man es vielleicht retten können.“ 


„Oh nein.“ Byron hatte Tränen in den Augen, als er das sagte. 


„Ist vielleicht auch kein gutes Thema fürs Essen“, sagte Matt und lachte verlegen.


„Aber das ist doch eine ganz tolle Sache, die du da machst“, widersprach Julie. 


„Ist es auch. Ich habe mich einfach im Hintergrund gehalten und Fotos gemacht. Als ich eintraf, hat das Kind auch noch gelebt. Die Eltern wollten keine lebenserhaltenden Maßnahmen versuchen, weil das Kind wohl nur mit schwersten Behinderungen überlebt hätte. So habe ich die letzten Augenblicke im Leben des Babys mit seinen Eltern begleitet und auch später noch einige Fotos gemacht. Das macht man alles unentgeltlich, aber ich finde es verdammt sinnvoll.“ 


„Ist es auch“, sagte Kyle. 


„Das Baby war bestimmt winzig, oder?“, fragte Byron. 


„Ja, und wie! Es passte problemlos in die Hand seines Vaters. Zusammengerollt zwar, aber es ging. Ich habe ihnen vorgestern die Fotos geschickt und noch mal kurz mit ihnen telefoniert – die Dankbarkeit dafür, diese Fotos zu haben, war schon überwältigend. Sie haben auch Hand- und Fußabdrücke ihrer Tochter gemacht, denn das ist ja alles, was ihnen bleibt.“ 


Byron schniefte und blinzelte eine Träne weg. „Ich kann mir vorstellen, wie es diesen Eltern gehen muss. Mein Verlust war zwar ein anderer, aber trotzdem ... das ist einfach hart.“ 


Stolz blickte Libby zu ihrem Adoptivvater. Sie fand es toll und bewundernswert, dass Matt so etwas machte. Als sie ihn fragte, ob er Bilder zeigen konnte, versprach er, es nach dem Essen zu tun. 


Schließlich wechselten sie das Thema und erkundigten sich bei Byron danach, wie er mit allem zurechtkam. 


„Es geht schon“, sagte er. „Ich habe zwar so gut wie keine Freizeit, aber das wird ja auch vorbeigehen. Entweder lerne oder arbeite ich ... oder ich passe auf Micah auf. Und wenn ich ehrlich bin, könnte ich das alles nicht ohne Hilfe.“ 


„Die kriegst du immer“, sagte Libby und lächelte. 


„Micah ist sowieso ein ganz süßer Schatz!“, sagte Emma begeistert. 


„Ja, das ist er. Seine Mum wäre so stolz gewesen“, murmelte Byron. 


„Ganz bestimmt.“ Libby lächelte ihm zu, während er darum kämpfte, nicht in Tränen auszubrechen. Matt bemühte sich sogleich, ein anderes Thema anzuschneiden, was schließlich gelang. 


Eine Stunde später räumten sie den Tisch ab und legten die Kinder schlafen. An diesem Tag war Owen an der Reihe, weshalb Libby Gelegenheit hatte, sich auf dem Sofa zu Matt zu setzen und sich von ihm die Fotos zeigen zu lassen, die er von dem Baby gemacht hatte. 


Die Aufnahmen waren wunderschön. Einige hatte er in Schwarzweiß ausgegeben, andere in Farbe. Er hatte sie sehr einfühlsam gestaltet, das Baby mit seinen Eltern ganz liebevoll abgelichtet. Sie hatten die perfekte Balance zwischen Distanz und Nähe. 


„Du bist ein toller Fotograf“, sagte Libby ehrlich. „Ich bin sicher, dass diese Aufnahmen den Eltern die Welt bedeuten.“ 


„Der Vater hat am Telefon fast dieselbe Formulierung benutzt“, sagte Matt. „Es ist wirklich ein tolles Projekt. Ich habe das gern gemacht. Zwar hat es mir auf der Heimfahrt für einen Moment das Herz zerrissen, wenn ich mir vorstelle, es hätte mir mit Hayley so gehen können ...“ Er schüttelte den Kopf. „Sadies Fehlgeburt war damals so früh, dass wir ja noch gar keinen richtigen Bezug aufgebaut hatten. Sie war ja erst in der sechsten oder siebten Woche, glaube ich. Das ist was anderes.“ 


„Und auch wieder nicht“, sagte Libby. „Letztlich ist es der Verlust eines Kindes.“ 


„Das stimmt. Für mich ist das inzwischen okay, weil ich jetzt zwei Töchter habe. Mir fehlt nichts. Aber mich hat das auch nicht so betroffen wie sie.“ 


Das konnte Libby gut verstehen. Während Matt auch den anderen einige Fotos zeigte, kehrte Owen zu ihnen zurück und setzte sich neben Libby. Schließlich setzte Matt sich schräg neben sie auf das benachbarte Sofa und blickte neugierig zu Owen. 


„Erzähl doch mal“, sagte er. „Du machst jetzt einen Job, den ich mir ziemlich hart vorstelle. Ist er das?“ 


Owen nickte. „Ja, das kann man nicht schönreden. Im Nachhinein bin ich dankbar dafür, dass die Kollegen uns da schrittweise rangeführt haben. Ich meine, ich war lang Mordermittler und habe schon viel gesehen, aber Kinderpornos sind eine ganz eigene Kategorie des Übels.“


„Ich hab in Modesto auch mal entsprechende Aufnahmen gesehen – ich kann mich bis heute dran erinnern“, sagte Matt. 


„Ich werde mich auch immer an das erinnern, was ich sehe. Unsere Abteilung ist die, die am häufigsten in die Supervision geht. Unsere Psychologin hat nach Feierabend immer eine Stunde für uns reserviert, so dass man gleich mit jemandem reden kann, wenn man möchte. Ich hab das schon mehrmals genutzt.“ 


„Das ist keine Schande“, sagte Sadie. 


„Woran arbeitet ihr gerade?“, fragte Matt. 


„Wir sind hinter einem kriminellen Netzwerk her, das im Darknet operiert. Die Kollegen arbeiten schon länger an dem Fall. Kenntnis von der ganzen Sache haben sie vor über einem Jahr erlangt – es ist die klassische Geschichte mit Materialtausch und allem, aber die Mitglieder des Netzwerkes sind auch nicht faul, wenn es darum geht, neues Material anzufertigen. Wir haben da jetzt einiges abgegriffen und versuchen, mithilfe technischer Methoden die Täter zu identifizieren und sind auch hinterher, die Opfer zu finden. Im Moment sammeln wir noch Informationen, um dann im Ganzen zuschlagen zu können. Etwa so, wie es vor ein paar Jahren in Deutschland mit dem Boystown-Netzwerk gelaufen ist.“ 


„Was war da los?“, fragte Matt. 


„Da hatten deutsche Hintermänner im Darknet ein Netzwerk geschaffen, in dem sich hunderttausende Mitglieder an kinderpornografischem Material bereichert haben. Betrieben wurde das Ganze aus einer Hütte in Mittelamerika heraus. Die Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden war sehr gut, so dass schließlich das ganze Netzwerk gesprengt und alle Mitglieder festgenommen werden konnten. So haben wir das gerade auch vor. Die Leute, hinter denen wir her sind, bezeichnen sich als die Nachfolger von Boystown.“ 


„Widerlich“, sagte Emma naserümpfend. 


Owen nickte. „Wir gehen auch in diesem Fall davon aus, dass der Hauptserver irgendwo außerhalb der USA steht – noch haben wir keine Ahnung, wo. Wir sind gerade dabei, die Administratoren zu identifizieren, um ihnen das Handwerk zu legen. Schlimm finde ich, dass in diesem Netzwerk nicht nur pornografisches Material getauscht und verkauft wird, sondern tatsächlich auch Kinder.“ 


„Du meine Güte“, murmelte Byron. „Was machst du da nur für einen Job?“


Owen zuckte mit den Schultern. „Dass das kein Spaziergang wird, war mir vorher klar. Aber zu wissen, dass das alles wirklich passiert ...“ Er schüttelte den Kopf. „Da werden Kinder vergewaltigt, die noch nicht mal zur Schule gehen. Das macht mich krank, wenn ich nur daran denke. So gesehen kein Wunder, dass in unserer Abteilung auch die Überstundenquote enorm hoch ist. Wer bei uns arbeitet, macht das aus tiefer Überzeugung heraus. Wir alle wollen helfen. Da schauen wir irgendwann nicht mehr auf die Uhr.“ 


„Kann ich verstehen“, sagte Sadie. „Das war bei mir auch oft so, als ich noch Profilerin war.“ 


„Ist es bei uns auch“, sagte Julie. „Entsprechend hoch ist auch die Burnout-Quote.“ 


Owen lachte. „Ja, das ist bei uns nicht anders. Dadurch, dass die Kollegen schon so lange an dem Fall arbeiten, ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis wir die Hintermänner identifizieren und das ganze Netzwerk sprengen. Das wird mir eine echte Genugtuung sein.“ 


„Kann ich mir vorstellen“, sagte Matt. 


„Ich habe da schon Dinge gesehen, die ich nie sehen wollte“, sagte Owen. Libby tastete nach seiner Hand und drückte sie, denn sie wusste, wie sehr das schon jetzt an ihm nagte. Welche Alpträume er deshalb schon gehabt hatte. Sie hatte sich ihm auch schon als Gesprächspartnerin angeboten, aber bislang hatte er abgelehnt. Er wollte sie nicht mit diesen Scheußlichkeiten konfrontieren, was sie verstehen konnte. Aber sie verstand, was ihm zu schaffen machte und hoffte, dass er auf Dauer damit zurechtkommen würde. 


„Du kannst stolz darauf sein, dass du diesen Job machst“, sagte Matt. „Kannst du wirklich.“


„Bin ich ... aber es ist wirklich nicht einfach. Nicht, dass ich das je geglaubt hätte, aber diese Aufgabe hat es in sich.“ 


Das glaubten die anderen ihm aufs Wort. Libby entging jedoch nicht, dass Owen froh war, als sie das Thema wechselten. Sie konnte es verstehen – wenn man so einen belastenden Job hatte, wollte man an seinen freien Tagen nicht darüber nachdenken. 


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