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Krimis & Thriller
Buch Leseprobe Die guten und die toten Kinder, Thomas P. Cavanaugh
Thomas P. Cavanaugh

Die guten und die toten Kinder



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Um 17 Uhr 25 würde Alois sterben, das wusste Philipp mit der Sicherheit eines routinierten Killers, der solche Jobs schon öfters durchgeführt hatte, mochte es nun für die Russen oder für die Amerikaner gewesen sein. Egal, Geschäft blieb immer Geschäft.


 Philipp blickte auf seine Armbanduhr und entsicherte die Waffe. Gleich würde Alois hinter den Sträuchern dort auftauchen, die den Forstweg säumten. Alois war gut, aber nicht gut genug. Wenn nur nicht diese Stechmücken wären! Philipp schlug eine tot, die sich auf seinem linken Unterarm gesetzt hatte. Wieder blickte er auf seine Uhr, überprüfte die geladene und entsicherte M-16. Gleich. Gleich würde ...


 Ein Zweig knackte hinter ihm und plötzlich wurde er ganz heftig gestoßen, so dass ihm die Luft wegblieb und er auf den Forstweg kullerte. Er stieß einen schrillen Schreckensruf aus und ließ seine Waffe fallen. Das Magazin öffnete sich und das ganze Wasser floss aus. Philipp stand auf und klopfte den Staub und die Fichtennadeln aus seinen Jeans.


 „Das war unfair, verdammt unfair!" stieß er zischend aus. „Und wenn meine Kanone hin ist, kannst du sie bezahlen!" Er hob das Kunststoffspielzeug auf und untersuchte es von allen Seiten. Nichts war abgesprungen oder zerbrochen.


 „Du hast mich überhaupt nicht gehört! Ich hätte dich abmurksen können! Genau wie in ‘Red Heat'!" rief Alois begeistert und schoss mit seinem Spielzeugrevolver in die Luft. Eine Amsel kreischte auf und flog davon.


 „Okay, du hast gewonnen. Aber jetzt bist du dran. Jetzt zählst du bis hundert und ich such dich! Diesmal ..."


 „Nein", unterbrach Alois. „Es ist schon spät und wir essen um sechs. Ich muss noch Schulaufgaben machen."


 Die beiden zwölfjährigen Buben schlenderten den Forstweg hinunter, der nach etwa zwei Kilometern zur Wiegener Straße führte.


 „Ich hab schon alles gemacht", sagte Philipp, als sie bei den Rädern angekommen waren. Er setzte sich ins weiche Moos am Rande des Hohlwegs und lehnte sich gegen eine Fichte. Alois nahm das Fahrradschloss von seinem Rad und stieg auf.


 „Bleibst du noch hier?" fragte er. Er hatte sich den Revolver in den Hosenbund gesteckt, und jetzt sah er in seinen grünen Jeans und dem T-Shirt wie der jüngste Bundeswehrpionier der Welt auf einem BMX-Fahrrad aus.


 „Ja", antwortete Philipp. „Ich glaub schon. Mein Vater kommt um halb sieben, und mein Bruder hat ein Mädchen zu Hause. Meine Mutter hat Abendschicht." Er klopfte missmutig mit dem Gewehr auf den Boden. „Ich muss was kochen, hab aber keine Lust."


 „Und was wird dein Alter dazu sagen?"


 „Nichts, außerdem bringt er sicher eine Pizza mit. Er hält nicht viel von meinen Kochkünsten."


 „Na, dann viel Spaß!" Alois fuhr los, hielt aber nach ein paar Metern wieder an. „Traust du dich hier allein im Wald zu bleiben? Nachdem, was mit dem Mädchen passiert ist?"


 „Klar, ich hab keine Angst. Außerdem ist der Kerl verhaftet worden. Es war ein Lehrer."


 „Nein, ich glaube, in der Zeitung ist gestanden, es war der Direktor."


 „Ist doch wurscht, Böbingen ist am anderen Ende des Waldes. Hier gibt's nur Zecken!" Philipp grinste und warf einen Erdbrocken nach Alois.


 „Und Tollwut! Pass bloß auf!" rief er lachend und fuhr los. Der Forstweg ging bergab und bald hatte Alois ein Höllentempo drauf. Philipp blickte ihm nach, bis er hinter einer Wegbiegung verschwand.


 Philipp stand auf und stellte sich hinter einen Strauch, um zu pinkeln. Er hatte Alois die Wahrheit erzählt, aber nicht die ganze Wahrheit. Tatsache war, dass sein Bruder Thomas, der ja nur drei Jahre älter war als er selbst, ihn geradezu aus dem Haus geworfen hatte. „Wehe, du sagst den Eltern etwas. Dann kannst du was erleben!" hatte Thomas gedroht, was aber gar nicht notwendig gewesen war.


 Philipp schloss den Zipp seiner Hose und schlenderte einen Pfad hinunter, von dem er wusste, dass er nach etwa einen Kilometer zu einem alten Steinbruch führte. Der Pfad wurde von hohen Eschen und Erlen, ein paar Tannen und Fichten und einer Menge Gestrüpp gesäumt, das ihn langsam überwucherte. Hier ging selten jemand, und vielleicht würde der Pfad in ein paar Jahren verschwunden sein.


 Nein, er nahm Thomas' Drohungen nicht ernst. Es machte ihm nichts aus, wenn er ein paar Stunden allein im Wald verbringen musste. Die Polizei hatte das Gebiet abgesperrt gehabt, aber das Mädchen, sie hieß Karin oder Kathrin, war nicht gefunden worden. Vielleicht war es gar nicht tot, dachte Philipp, als er stehen blieb, um ein riesiges Spinnennetz zu bewundern, das zwischen Hollunderzweigen hing. Vielleicht war es einfach abgehauen, vielleicht hatte es Schwierigkeiten in der Schule oder mit den Eltern gehabt.


 Er wusste, dass Thomas mit seiner Freundin, die abgrundtief hässlich war und unzählige Pickel hatte, herumknutschen und Haschisch rauchen würde, und damit wollte er nichts zu tun haben. Er wusste, wie verboten und gefährlich Drogen waren.


 Und die Tollwut, vor der ihn Alois lachend gewarnt hatte? Vor zwei Jahren, als er noch ganz klein gewesen war, hatten Jäger einen tollwütigen Dachs erschossen, aber das war drüben bei Böbingen gewesen, und er wohnte in Zipitau. Seitdem stellten sie jeden Frühling diese Warnschilder auf, die man ganz gut mit der Schleuder beschießen konnte, oder vielleicht wurden sie nie entfernt. Vielleicht waren die Schilder längst vergessen worden.


 Angst hatte Philipp also nicht, und in ein paar Minuten würde er zurückgehen zu seinem Rad und heimfahren. Die Schulaufgaben waren gemacht, und sein Bruder war mit seiner Tussi und dem Hasch sicher fertig und lüftete das Zimmer.


Eine Krähenschar flog plötzlich vor ihm auf und er trat erschrocken einen Schritt zurück. Am Rand einer kleinen Lichtung, die nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Schritt im Durchmesser maß, war ein hoher, alter Baum, dem die Eisstürme vor ein paar Jahren offenbar den Wipfel gebrochen hatten. Die Krähen hatten hier herumgesessen und gefressen, so wie es aussah. Es lagen ein paar blutige Fetzen herum, wahrscheinlich von irgendeinem Kadaver. Philipp trat näher an den Baum heran. Richtig, der Wipfel war abgebrochen und nach hinten gekippt, wo das Gelände sehr abschüssig wurde, hing aber noch am Stamm fest. Splitter, die wie riesige Zahnstocher aussahen, hatten sich ineinander verkeilt, sonst wäre der obere Teil des Baumes längst den Hang hinuntergekracht, wo schon ein ganzer Haufen toter Bäume lag wie die Knochen eines Brontosaurus.


 Es sah so aus, als könnte man ganz gut den Wipfel hinaufklettern, aber dafür war jetzt keine Zeit. Er musste wirklich nach Hause und zumindest einen Tomatensalat machen, wenn er schon nicht das Essen kochte. Also, höchste Zeit, zu verschwinden.


 Stattdessen kroch Philipp vorsichtig ein Stück den Hang hinunter, wobei sich ständig lockeres Erdreich und Steine lösten und hinunterrollten. Er erreichte mit einiger Anstrengung den toten Baumwipfel und hielt sich an ihm fest. Der Hang war in Wirklichkeit viel steiler, als er von oben aussah. Der Baum stand am Rande des Hanges und würde wohl einen zweiten Eissturm nicht überstehen, dachte Philipp, als er den Wipfel wie eine Leiter hinaufzusteigen begann. Man konnte schon die morschen Wurzeln sehen.


 Der Baumwipfel knarrte bedenklich, als Philipp hinaufstieg. Zum Glück waren die Nadeln längst abgefallen, sonst wäre das ganze Unternehmen schwierig und schmerzhaft gewesen.


 Der Wald war dunkel, still und heiß geworden. Warum war er bloß hier hinaufgestiegen? Er könnte sich den Hals brechen. Von halber Höhe sah der Hang wirklich gefährlich aus; würde das Holz brechen, gäbe es eine tolle Schlittenfahrt da hinunter.


 Philipp schwitzte nun stark, und seine Hände waren dreckig und klebrig vom Baumharz. Eine Menge Ameisen kroch den Wipfel hinauf, dorthin, wo die scharfen Splitter in die heiße Waldluft ragten.


 Philipp kletterte weiter, hielt sich an den morschen Ästen wie an einem Turngerät fest.


 Endlich war er oben. Die Aussicht war wirklich großartig: Er konnte den ganzen Pfad bis zum Forstweg überblicken. Er hielt sich an den langen Splittern fest und spürte beunruhigt, wie sich der morsche, abgeknickte Wipfel unter seinen Füßen bewegte. Da sah er, dass der Baum hohl war. Das erklärt, warum die Wipfel der anderen Bäume nicht abgebrochen sind, dachte er. Der Baum steht am Rande des Abhangs, er ist deshalb schlecht gewachsen und hohl.


 Tief unten im Zwielicht der Höhlung lag eine Gestalt. Philipp riss die Augen weit auf, kleine, kurze Schreie entwichen seiner Kehle, was er aber gar nicht bemerkte. Da unten lag ein Mädchen. Sein Kleid war zerrissen. Es schien ein Dirndlkleid zu sein, und es war mit vielen braunen Flecken übersät. Das Kleid war bis zum Bauch des Mädchens hochgeschoben, in dem ein blutiges Loch klaffte. Es trug keine Unterhosen und die Beine waren gespreizt. Die Hände waren hinter dem Rücken gefesselt.


 Wieder knirschte das morsche Holz und Philipp hörte ein brechendes Geräusch, doch er konnte den Blick nicht vom Gesicht des Mädchens wenden.


 Die Augen. Die Augen waren ausgehackt worden. Das also hatten die Krähen hier gemacht. Das Mädchen stierte mit roten, zerfetzten Augenhöhlen zu ihm hinauf.


 Philipp stemmte einen Fuß auf den Rand des Stammes und sprang in dem Moment, als der morsche Wipfel endgültig abbrach. Er segelte über die Baumhöhlung, riss sich das T-Shirt an einem Holzsplitter auf und landete auf der kleinen Lichtung.


Sein Knöchel begann heftig zu schmerzen, schien aber nicht gebrochen zu sein, denn er trug sein Gewicht, als er mit angstverzerrtem Gesicht aufstand. Er hörte ein Dröhnen und Krachen, als der Baumwipfel den Abhang hinunterrollte. Dann Stille.


 Der Wald schien ihn zu verspotten. Plötzlich schienen von überall her Augen auf ihn gerichtet zu sein, und diese Augen waren leer und blutig und tot. Eine Krähe kam herbeigeflogen, setzte sich zwischen zwei Holzsplitter des Baumes und betrachtete ihn mit kalten Knopfaugen. Dann verschwand sie in der Höhle, vielleicht um an dem toten Mädchen weiterzufressen. Noch eine Krähe flog herbei und noch eine. Philipp humpelte rückwärts über die Lichtung und versuchte, den großen Baumstumpf im Auge zu behalten. Er war sich sicher - ganz sicher - dass er beobachtet wurde. Er glaubte Schritte zu hören, und diese Schritte kamen vom Abhang. Jemand kletterte den Abhang hoch. Oder war es nur das Klingeln und Rauschen des Blutes in seinen Ohren?


 Er erreichte den Pfad und lief, so schnell es sein schmerzender Knöchel zuließ, den Weg zurück, den er gekommen war. Es war mittlerweile 18 Uhr geworden, was ihm das doppelte Piepsen seiner Armbanduhr mitteilte, die jede volle Stunde meldete. Sein T-Shirt war zerrissen und klatschnass geschwitzt; er zog es im Laufen aus und warf es ins Gebüsch. Auf seiner Brust war ein langer Riss, vom Nabel bis zur linken Schulter, doch den sollte er erst zu Hause bemerken. Der Riss war nicht tief, aber wenn er ein klein wenig später gesprungen wäre, hätte ihn der Splitter sicher wie ein Schaschlik aufgespießt, würde er denken, nachdem sein Vater die Polizei angerufen hatte, und er sich notdürftig vor dem Spiegel reinigte.


 Doch jetzt hatte er keine Zeit, an sich hinabzusehen. Zweige und Dornen peitschten sein Gesicht, und irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihn der Wald festhalten wollte, aber vielleicht war das nur, weil er wegen seines schmerzenden Knöchels nicht so schnell vorwärtskam, wie er wollte.


 Er erreichte den Forstweg, löste mit fliegenden Händen das Fahrradschloss und ließ es fallen. Er glaubte nicht, dass ihn jemand verfolgte, konnte sich dessen aber nicht sicher sein. Waren das Schritte auf dem weichen Waldboden, die er hörte, vorsichtige, lauernde Schritte? Oder war es in Wirklichkeit nur sein eigener, rasender Puls?


 Er stieg auf sein BMX-Rad und fuhr den steilen, holprigen Forstweg hinunter. Er schaffte die drei Kilometer nach Hause in Rekordzeit.


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Auf dem Bildschirm trieben es mehrere Paare zugleich. Eine der - überaus hässlichen - Frauen rief gerade „gib mir mehr!", als das Klingelsignal meldete, dass ein Kunde vorgefahren war. Fränkl zuckte zusammen, murmelte halblaut „warum hab i di net g'hört?", stand auf und schaltete das Außenlicht an, doch nur eine der Neonleisten leuchtete träge auf.


 Bei der ersten Zapfsäule stand ein Wagen. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergekurbelt und der Fahrer winkte.


 „Komme!" rief Fränkl und stellte den DVD-Player auf „Pause". Er hoffte, dass der Fahrer verkühlt war; der Wagen parkte genau neben der Stelle, wo er gepinkelt hatte.


 Fränkl trat ins Freie und ging um den Wagen herum. Er beugte sich hinunter, schaute in den Wagen und sagte: „‘Abend, selten, dass um diese Zeit ..."  Er brach ab und starrte mit offenem Mund auf die Gestalt, die hinter dem Lenkrad saß. Und wusste alles. Alles.  Es war ein roter Mittelklassewagen, zwar kein japanisches Fabrikat, aber immerhin. Es war das Auto, das in der letzten Reihe, gleich bei der Einfahrt des Friedhofparkplatzes, gestanden hatte.


 „‘Abend ...", begann Fränkl wieder.


 „Guten Abend", sagte der Fahrer und stach ihm etwas Langes, Spitzes ins rechte Auge. Fränkl spürte einen stechenden Schmerz, und irgendetwas schien in seinem Kopf zu detonieren.


 Sein Augenlicht. Etwas stimmte mit seinem Augenlicht nicht. Er griff hinauf, um festzustellen, was es war und registrierte plötzlich, dass er fiel, und es machte ihm überhaupt nichts aus. Er fiel gegen die Zapfsäule, die nach Urin stank, und rutschte langsam an ihr hinunter. Na schön. Er würde sich hier ein wenig ausruhen und später bei der Polizei anrufen. Er wusste nun alles. Er verstand.


 Und er fühlte sich leicht, leicht, leicht ...


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