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Krimis & Thriller
Buch Leseprobe Das schwarze Tagebuch, Leonhard Michael Seidl
Leonhard Michael Seidl

Das schwarze Tagebuch



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Ferdinand Schönmann überquerte eilig die Straße. Er hasste diese Gegend. Er war bei einem Treffen gewesen und musste hier vorbei.


Das Gesicht des Mannes lag unter einem breitkrempigen Hut verborgen. Er selber war dunkel gekleidet, altmodisch korrekt. Er hatte das Alter von achtzig Jahre überschritten, doch seine Bewegungen waren noch immer energisch, beinahe aggressiv, ebenso wie seine Gedanken voll steter Unruhe waren.


Er vernahm ein Geräusch hinter sich und beschleunigte seine Schritte. Eine Kirchenuhr schlug zweimal. Das düstere Stadtviertel lag schlafend in der Nacht.


Jetzt hatten ihn die Schritte erreicht. Eine Hand packte seine Schulter. Er wurde herumgerissen, gegen eine Hauswand gedrückt. Zwei, drei schnelle Schläge ins Gesicht.


Schönmann verlor seinen Hut. Blut rann von seinen Lippen. Er schrie nicht um Hilfe, sondern begann sich verbissen zur Wehr zu setzen. Noch immer besaß er erstaunliche Kräfte. Der Angreifer jedoch war ein disziplinierter, durchtrainierter Kämpfer von seltsam zierlicher Statur, der nach einem klaren Plan vorging.


Schönmann wurde in den Eingang eines verlassenen Hauses gezerrt. Inzwischen hatte ihn jede Kraft verlassen. Sein Angreifer zwang ihn unbarmherzig in die Knie, fesselte seine Hände mit Kabelbinder. Verklebte die Augen mit einem breiten Isolierband. Ein Dolch blitzte auf. Eine Stimme zischte:


„Die Namen."


Hastig schüttelte der Alte den Kopf, versuchte sich ein letztes Mal freizumachen. Es misslang. Der Dolch fuhr in seine Seite. Er kannte diese Art von Waffen. Fast vermochte er durch das Isolierband über den Augen seinen Namenszug auf der scharfen Klinge des Messers zu lesen. Sein Mantel wurde mit Blut getränkt. Die Stimme zischte:


„Die Namen."


Wieder schüttelte der Mann den Kopf. Diesmal langsamer, so, als würde er zögern. So, als wüsste er nun, dass sein Weg, sein langer, vergeblicher Weg, hier in diesem schmutzigen Hauseingang unweigerlich zu Ende war.


Der Dolch fuhr in seinen Oberschenkel.


„Die Namen!"


Der alte Mann wirkte plötzlich ganz gelassen, fast heiter. Er hatte immer, all die langen Jahre, gewusst, er würde einmal büssen müssen. Es gab Zeiten, da hatte er die Erinnerung daran verloren geglaubt; in den hellen, den glücklichen Zeiten, mit der Familie, der Frau, dem Kind. Doch immer, wenn er nachts nicht schlafen konnte, und die alten Bilder wie Fabelwesen aus versunkener Zeit vor seinem inneren Auge auftauchten, da wurde ihm bewusst, dass er würde bezahlen müssen.


Der Dolch ritzte seine Genitalien.


„Die Namen."


Er hatte Kontakt zu den anderen gesucht. Doch sie waren abgetaucht in eine kleine, bürgerliche, saubere Welt voller Unauffälligkeiten und stillem, trügerischem Lebensglück.


Der Dolch arbeitete jetzt schneller. Die Schmerzen türmten sich zu einem unüberwindbaren Hindernis. Die Namen... Wie viele waren es gewesen? Fünf? Zehn? Vier?


Der alte Mann spuckte keuchend ein paar Namen aus. Der Angreifer zeigte keine Reaktion. Wusste er, dass der Alte log? Kannte der andere bereits alle Namen, suchte lediglich die Bestätigung?


Der Dolch ritzte die Stirn, zog ein breites Blutband über verborgene, tränende Augen. Neue, andere Namen. Der Dolch wanderte unbeeindruckt weiter zu den Ohren, trennte eines mit raschem Schnitt vom Schädel, wanderte zur anderen Seite.


Da brach des alten Mannes Widerstand mitten entzwei. Bereitwillig, ohne noch zu überlegen, gab er sein dunkles Wissen preis. Er würde sterben. Wie auch die anderen sterben würden. Was machten da die Namen?


Die Nacht senkte sich über den gebrochenen Greis. Er hatte das Ende des Weges erreicht. Die Stimme schwieg.


Der Dolch vollendete seine Arbeit. Ferdinand Schönmann war tot.


 


 


 


 


 


 


 


...EINS


 


Die letzten Tage waren vergangen, wie Tage im Winter eben vergehen; ich hatte sie rumgebracht, wie man Tage eben rumbringt, mit meiner unsortierten Art von holpriger Lebenskunst.


Meine Wohnung bestand damals aus drei Zimmern mit Bad und Klo im ersten Stock eines Altbaus in der Pestalozzistraße in der Münchner Isar-Vorstadt. Das größere der Zimmer diente als Büro, das kleinere als Schlafraum. Im Wohnzimmer lebte ich mit einem alten, aber tüchtigen Wamsler-Gasherd, in dessen Bratröhre die dazugehörige Gasflasche wohnte. Im Grunde ernährte ich mich jedoch von Espresso und Salem ohne.         


Das Saxofon von Stan Getz beendete gerade mit einem warmen Klang das Stück „Forest Eyes", als an jenem trüben Nachmittag ein Mädchen mein Büro betrat. Sie sagte ohne lange Begrüßung:


„Mein Großvater wurde fast getötet. Bitte finden Sie den Angreifer."


Ich stellte den CD-Player ab und wartete. Als sie sich gesetzt und ihre Tasche neben sich auf den Boden gestellt hatte, erwiderte ich:


„Warum kommen Sie damit zu mir? Warum gehen Sie nicht zur Polizei?"


Mit einer energischen Geste fuhr sie sich durchs Haar.


„Die Polizei hat versagt!"


Sie schwieg. Auf ihrer Stirn zeigte sich eine charmante Zornesfalte.


Ich betrachtete sie eine Weile. Sie hatte ein rundes, hübsches Gesicht, war nicht sehr groß; eine mädchenhafte Figur, gute Kleidung, gepflegte Hände. Ihr Alter schätzte ich auf knapp unter dreißig.


Während sie ihre Gedanken sammelte, fragte ich:


„Würden Sie mir bitte Ihren Namen verraten?"


„Gerlinde Metzler."


Ich schob die Vollmacht über den Tisch und nannte meinen Spesensatz. Sie unterschrieb wortlos.


„Und nun erzählen Sie mir die ganze Geschichte."


Sie holte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und steckte sich eine an. Ihre Hände zitterten leicht.


„Mein Großvater, Hermann Metzler, wurde am 3. April mit einem Messer angegriffen und niedergestochen."


„Wer sagt das?"


„Die Polizei."


Ich machte mir eine Notiz. Ich würde Bernstein anrufen. Ich wartete.


„Mein Großvater wohnt in der Agilolfinger Straße. Von dort gelangt man in wenigen Minuten hinüber zur Isar."


„Ich kenne die Gegend..."


„Mein Opa ging, soweit es das Wetter zuließ, vormittags täglich zwei Stunden an der Isar spazieren. Der Angreifer hat das offenbar gewusst und sein Wissen dazu benutzt, ihn niederzustechen."


„Hat sich Ihr Großvater nicht gewehrt?"


„Mein Großvater ist siebenundachtzig."


Sie schwieg. Die Zigarette war aufgeraucht. Bevor sie eine weitere anzünden konnte, sagte ich:


„Einen Espresso?"


„Gerne."


Während ich die Maschine in Gang setzte, murmelte sie:


„Mein Opa ist mir der liebste Mensch auf der Welt..."


„Erzählen Sie mir von ihm."


„Mein Großvater kennt sämtliche Märchen. Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersen, die arabischen Geschichten vom Kalif Storch, chinesische , keltische, russische... einfach alles. Und immer, wenn ich nicht einschlafen konnte, erzählte er mir eines. Er ist ein ganz außergewöhnlicher Mann."


„Haben Sie keine Eltern?"


„Doch. Meine Mutter ist berufstätig. War sie immer. Ich bin quasi bei meinen Großeltern aufgewachsen."


„Gibt es auch einen Vater?"


„Es geht um meinen Großvater!"


„Verstehe..."


Wir nippten am Espresso. Ich sagte:


„Wie wäre es mit einem Motiv?"


„Das hat mich die Polizei auch gefragt."


„Raub? Eifersucht? Neid?"


„Kann ich mir nicht vorstellen. Vermutlich ein Irrer. Opa kann keiner Fliege etwas zuleide tun."


„Was war er von Beruf?"


„Betriebselektriker in einer Fabrik in Allach. Seine Rente ist kärglich. Er lebt mit Oma seit über vierzig Jahren in einer kleinen Sozialwohnung. Zwei Zimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad. Kein Flur. Dort ist auch meine Mutter groß geworden."


Ich dachte nach. Vermutlich hatte Gerlinde Metzler Recht. Ein kleiner Arbeiter war angegriffen worden. Von hinten feige niedergestochen. Die Tat eines kranken Gehirns. Vielleicht ein Alkoholiker, vielleicht ein Drogensüchtiger. Vielleicht kein Motiv. Vielleicht nur ein Ausraster in einer ausgerasteten Zeit. Ich sagte:


„Hat die Polizei die Ermittlungen inzwischen eingestellt? Immerhin liegt der Fall schon ein paar Monate zurück..."


„Keine Ahnung. Finden Sie den Angreifer. Bitte."


„Ich benötige ein Foto von Ihrem Großvater und seine Lebensdaten, so exakt wie möglich."


Frau Metzler stand bereits an der Tür.


„Wird erledigt."


Sie verließ mein Büro ohne ein weiteres Wort. Ein Duft von Lavendel blieb zurück. Trotz der gerauchten Zigarette.


Das Sax von Stan Getz war wieder an der Reihe.


 


 


Einige Zeit später ...


 


...SECHS


 


Der Zenettigarten ist eines jener kernigen, robusten Wirtshäuser in München, die jederzeit auch als Betriebskantine durchgehen würden. Auf keinem Tisch Tischdecken, dafür zwei Aschenbecher, eine Maggiflasche, Salz und Pfeffer sowie Zahnstocher. Dazu in einer Plastikvase grelle Plastikblumen. An den Wänden hängen ein paar nachgebaute und von naiver Hand bemalte Schützenscheiben und die Reste der letzten Faschingsdekoration. Etwas heruntergekommen, aber soweit ganz passabel.


Die Speisekarte gibt sich urban, ebenso die Bedienung, ein Mädchen von vierzig; mit einem zu kurzen Rock, gelben Nikotinfingern und durstigen Augen.


Es war mein dritter Besuch. Ich saß vor einer Portion Kaffee und las den Sportteil der Abendzeitung. Die Weißblauen hatten Prügel bezogen und die Roten waren auf dem Weg zu einem Titel. Es war Montagabend und es war wie immer. Dennoch verspürte ich eine leichte Unruhe. Gitti, die Bedienung, trug Bier in rauen Mengen ins Nebenzimmer. Ich war gegen zweiundzwanzig Uhr im Zenettigarten eingetroffen und die Party war bereits in vollem Gange.  


Gitti ließ nichts raus. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Doch ich hatte Zeit. Viel Zeit.


Meine Geduld wurde bald belohnt. Der Bierkonsum stieg und mit ihm die Stimmung. Knallende Lachsalven. Ein Lied ums andere wurde angestimmt. Raue Kehlen dröhnten Trinksprüche. Die Tür zum Nebenzimmer wurde quasi zur Durchgangstür.


Es war interessant zu sehen, was da alles zum Klo strebte. Sie gingen einzeln und zu zweit. Junge Männer. Blond und akkurat gescheitelt. Krawatte, weißes Hemd, schwarze Hosen. Glänzende schwarze Schuhe. Eine Freude für jede Schwiegermama. Sie lachten und sie schwatzten. Man hätte sie für eine Liedertafel halten können.


Sie mussten direkt an meinem Tisch vorbei. Keiner von ihnen schenkte mir seine Aufmerksamkeit. Ich schnappte Begriffe auf. Kameradschaft. Disziplin. Volkszorn. Eiserner Besen.


Jedes einzelne dieser Worte war, für sich genommen, reichlich harmlos. Doch die Summe ist mehr als die einzelnen Bestandteile. In mir regte sich Ekel. Was blühte da im Nebenzimmer? Keine Liedertafel, sondern eine braune giftige Blume, deren Wurzeln noch immer fruchtbar waren?


Dann kam Hans Stumph daher. Ich erkannte ihn sofort. Er war bester Laune, hatte die Krawatte gelockert, drückte Gitti einen Schmatz auf die getönte Wange. Ihr rundes Gesicht leuchtete auf.


Mich nahm Stumph nicht zur Kenntnis. Er hatte schon kräftig geladen. Das Problem bei dieser Art von Männern ist, dass sie, wenn sie besoffen sind, größer werden, über sich hinauswachsen. Sie machen lange Schritte wie Gary Cooper, straffen energisch die Schultern wie John Wayne; man erkennt, sie fühlen sich cool wie der amerikanische Präsident. Nur die Zunge stolpert. Aber es reicht, um zu grölen.


In diesem Zustand zwischen Rausch und Selbstüberschätzung ist für einen Mann alles möglich. Auch die Weltherrschaft der weißen Rasse.   


Als Stumph vom Klo zurückkam, war sein Hosenstall offen. Gitti sah dezent darüber hinweg, hielt sich aber vorsorglich hinter dem Tresen auf, damit beschäftigt, eine Runde Enzian in Zinnbecher abzufüllen.


Mein Kaffee war schal geworden. Ich beschloss zu zahlen, sobald Gitti die Schnapsration im Nebenzimmer an den Mann gebracht hatte.


In diesem Augenblick kam ein weiterer Mann aus dem Raum. Auch er wollte zu Toilette. Er war schon fast an mir vorbei, machte aber plötzlich kehrt. Mit knarrender Stimme sagte er:


„Was wollen Sie hier?"


Ich legte die Zeitung weg und sah ihm direkt ins Gesicht.


„Das Gleiche könnte ich Sie fragen, Herr Metzler ..."


„Verschwinden Sie!"


„Dies ist ein freies Land."


„Leider Gottes, ja."


„Dann lassen Sie mich bitte in Ruhe."


Er sah mich eine Weile unschlüssig an, versuchte es dann mit einer Drohung.


„Verschwinden Sie und hören endlich auf, hinter mir herzuschnüffeln. Ihr Auftrag ist erledigt!"


„Zahlen!", rief ich unbeirrt. Der alte Knabe konnte mir keine Angst einjagen.


„Hauen Sie ab!", knurrte Metzler.


„Geht aufs Haus - „ stotterte Gitti hinter ihm. Ich wollte mich noch nicht geschlagen geben, doch hinter ihm hatten sich zwei junge Männer aufgebaut, die keinen sehr freundlichen Eindruck vermittelten. Einer sagte:


„Gibt's Ärger, Hermann?" Er sah mich mit einem Haifischlächeln an.


„Lass ihn, Kurt. Er ist es nicht wert."


„Du brauchst es nur zu sagen, Hermann, dann machen wir Hackfleisch aus ihm."


„Lass das, Kurt. Er wollte sowieso gerade gehen, " entgegnete Hermann Metzler, wandte sich um, ohne mich weiter zu beachten und ging endlich zum Klo.


Die beiden Kerle musterten mich eine Weile, verloren dann aber ihr Interesse und folgten ihrem alten Kameraden. Vielleicht mussten sie beim Pinkeln helfen.


Ich legte einen Schein auf den Tisch, räumte meine Zeitung zusammen und erhob mich. Gitti würdigte mich keines Blickes.


Draußen sog ich die kühle Nachtluft ein. Sie war eine Wohltat. Der Mief im Zenettigarten war mir unerträglich geworden.


 


.... 


 


...SIEBEN


 


Für den nächsten Tag hatte ich mir den nochmaligen Besuch im Hause Metzler vorgenommen. Ich wartete, bis Hermann Metzler seinen vormittäglichen Spaziergang antrat und klingelte wenig später an der Wohnungstür.


Adelheid Metzler öffnete. Sie hielt ein Staubtuch in der Hand und sah mich irritiert an. Ich bat um ein kurzes Gespräch. Nach kurzem Zögern führte sie mich in das Wohnzimmer, das ich schon kannte. Ich ließ mich in einen der Sessel sinken, Frau Metzler blieb stehen. Ich sah ihr an, dass sie Angst hatte. Warum und vor wem, genau das war ich hier, herauszufinden. Ich begann behutsam:


„Wie geht es Ihnen?"


„Gut. Es geht mir gut. Warum?"


„Keine Angriffe mehr auf Ihren Mann?"


„Weiß er, dass Sie hier sind?"


„Sollte er das?"


„Er hat es nicht gern, wenn sich hier Fremde einschleichen."


„Ich bin kein Fremder für ihn."


Sie schwieg eine Weile, sagte dann:


„Was wollen Sie wirklich von mir, Herr Gaukler?"


„Ich möchte verstehen, was passiert ist."


„Was gibt es da zu verstehen?"


Ich räusperte mich, sah auf meine Fingernägel. Sie konnten einen Schnitt vertragen.


„Wie haben Sie sich kennen gelernt, Sie und ihr späterer Ehemann?"


„Wir sind zusammen aufgewachsen, wohnten im selben Haus, gingen zur selben Schule, hatten dieselben Freunde. Ich glaube sogar, unsere Eltern hatten bei der ganzen Sache ihre Hände im Spiel." 


Ihre Wangen hatten eine frische Farbe bekommen. Der Blick schweifte zurück in die Vergangenheit. Ihre Augen glänzten, als sie fortfuhr:


„Wir waren ein schönes Paar."


Sie ging die paar Schritte zum Wohnzimmerschrank, der die ganze Wand einnahm. Aus einer der unteren Schubladen zog sie ein blaues Fotoalbum. Es sah alt und abgegriffen aus. An den Rändern gab es Stockflecken. Frau Metzler wusste genau, wo sie es aufschlagen musste.


„Hier, sehen Sie. Unser Hochzeitsfoto."


Ich nahm das Album behutsam, wie einen Schatz, in beide Hände, betrachtete die Schwarzweiß-Aufnahme mit dem gewellten Rand. Adelheid war in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen. Sie trug ein weißes Brautkleid und einen Kranz von Myrthen im hochgesteckten blonden Haar.


Neben ihr Hermann. Blond, groß gewachsen, stramm. Vielleicht hatte er sogar blaue Augen - der Traum eines jeden Mädchens zu jener Zeit. Ich las das Datum unter der Aufnahme: 13. April 1943. Das erklärte auch Metzlers Uniform.


Frau Metzler bemerkte mein Zögern.


„Damals wurde allgemein in Uniform geheiratet."


„Was ist das für eine Uniform?"


„Die Uniform?"


„Ja. Welche Art?"


Adelheid Metzler fuhr sich über die Augen. Ihre Hände rissen mir das Album förmlich aus der Hand, klappten es zu, entzogen es so meinem forschenden Blick. Mit hastigen Schritten eilte sie zurück zum Schrank. Dort verschwand das fleckige Bildergrab.


Als sie wieder vor mir stand, zeigten ihre Wangen hektisches Rot. In ihren Augen saß wieder die Angst, die für kurze Zeit gebannt schien. Mit einem schrillen Unterton in der Stimme befahl sie:


„Gehen Sie."


Sie geleitete mich hinaus. In ihren Augen flackerte Feuer. Ich sah drüber weg. Bevor sie die Tür hinter mir schloss, meinte sie leise:


„Ich sage nicht, dass ich Ihnen Glück wünsche. Aber Sie werden es gebrauchen können."


Ich verließ das Haus, sah nach links und nach rechts. Niemand auf dem Trottoir. Metzler war noch auf seinem Spaziergang unterwegs. Wenn Adelheid klug war, verschwieg sie meinen Besuch.


Den schwarzen Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemerkte ich nicht. Mein Kopf war angefüllt mit Gedanken. Was hatte es mit der Uniform auf sich? Wo konnte ich etwas darüber herausfinden? Machte ich mich verdächtig, falls ich in einer öffentlichen Bibliothek danach fragte? Ich musste grinsen. Was für ein verrückter Fall!


 


Mein rachitischer Golf brachte mich hinaus nach Schwabing. Dort gab es damals in der Türkenstraße eine Buchhandlung mit antiquarischen Büchern. Über dem kleinen Schaufenster hing ein unscheinbares Holzschild, darauf stand „Buchladen". An der Tür, neben den Öffnungszeiten, die die Besitzerin lediglich als Angebot betrachtete, gab es einen Aufkleber: „Königreich Bayern". Weiter nichts. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Copy-Shop.


Die Frau, die den Laden betrieb, war nicht älter als vierzig. Sie hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Wie sie das geschafft hatte, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Ich hatte ihr bei einer Einbruchssache geholfen, und seither waren wir Freunde geworden. 


Elsbett, so lautete ihr Name, war ziemlich rund und steckte voller Überraschungen. Ihren runden Schädel mit den klugen Augen zierte dichtes, rotes, schulterlanges Haar, das sie im Genick zu einem Zopf band. Dazu trug sie sommers wie winters eine lange, grüne, dicke, zopfige Strickjacke, die bis zum Boden reichte. Darunter eine grüne Kordhose und meist eine grüne Hemdbluse mit gelben Streifen sowie grüne oder gelbe Filzpantoffeln.


Die Pantoffeln färbte Elsbett selber, die Hemdblusen wechselten zwischen grün mit gelben Streifen und gelb mit grünen Streifen. Sie hatte mir erzählt, dass sie vor Jahren vierhundert Stück Hemden und sechzig Stück Hosen von einem Russen gegen eine Dostojeswi-Ausgabe in Schweinsleder eingetauscht hatte. Die trug sie nun auf.


Elsbett sprach leise, hob selten die Stimme, aber sie lachte gern. Sie hatte einen kohlenschwarzen Humor, um den ich sie schwer beneidete und ihre Witze waren selten jugendfrei. Elsbett wusste alles über Gott und die Welt. Lobte ich sie, zitierte sie mit getragener Stimme den ersten Korintherbrief: „Unser Wissen ist Stückwerk!"


Außerdem besaß sie, neben Sachbüchern jeder Art und Provenienz, die Erstausgaben der meisten Romane, die es im Laufe der Jahrhunderte auf den Thron der hohen Literatur geschafft hatten. Von ihrem Verkauf konnte Elsbett gut leben, denn sie hatte eine kleine, aber betuchte Stammkundschaft.


Elsbett wollte mich inzwischen ungefähr siebenmal heiraten. Bisher war ich immer davon gekommen, doch langsam gingen mir die Argumente aus. Dieser Umstand führte dazu, dass ich Elsbetts Laden nur noch in Ausnahmefällen aufsuchte. Andererseits besorgte sie mir jede CD, die ich wollte, was bei meinem Geschmack nicht ganz einfach war.   


Als ich nun ihre Bücherhöhle betrat, studierte sie gerade den dritten Band der Niederschrift Von der Smaragdenen Felswand des chinesischen Dichters Bi Yän Lu.


Nach knapper Begrüßung kam ich sogleich zur Sache.


„Elsbett, ich brauche ein Buch über Uniformen."


Statt einer Antwort stand sie ächzend von ihrer durchgelegenen Ottomane auf, verbeugte sich würdevoll mit gekreuzten Händen vor der Brust und entgegnete mit heller, freundlicher Stimme:


„Die Trommel, hat sie statt des Felles ein Tuch, gibt sie keinen Klang."


„Sehr schön. Aber bitte, hör mir zu. Es ist wichtig."


„Was ist schon wichtig?"


Langsam brachte ich sie auf den Boden der Gegenwart zurück. Ihr rotes Haar bedeckte fast die Augen.


„Elsbett, ich suche Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg."


Sie war schon unterwegs.


„Waffengattung?"


„Keine Ahnung. Deswegen bin ich ja hier."


„Du machst mir Spaß, Gaga."


Sie schleppte sieben Bücher an, dicke Wälzer, angefüllt mit Fotos und Beschreibungen von Hoheitsabzeichen, Dienstgraden, Kleidervorschriften, Seitenwaffen, allen möglichen Ausrüstungsgegenständen und diversen anderen Einzelheiten, in denen ich zu versinken drohte. Damit ließ sie mich allein. Ich hörte, wie sie die Ladentür abschloss und die Kaffeemaschine in Gang setzte. Zum Kaffee sagte Elsbett gern Brühe. Dennoch schmeckte er hervorragend. Bald strömte ein mir vertrauter Duft durch die hohen Holzregale.


Inzwischen setzte ich mich an den großen, alten Holztisch und begann zu blättern. Heer. Luftwaffe. Marine. Mannschaften. Offiziere. Generäle.


Im letzten Buch entdeckte ich schließlich, wonach ich gesucht hatte. „Uniformen der Waffen-SS" stand in schwarzen Lettern über dem Abschnitt. Ich wendete Seite um Seite. SS-Männer. SS-Führer mit und ohne Portepee. Höhere SS-Führer. Mir wurde schier übel von dem Zeug.         Und dann, endlich, fand ich eine Aufnahme der Uniform, die ich auf dem Hochzeitsfoto von Adelheid und Hermann Metzler gesehen hatte. Es handelte sich, den Abzeichen nach, um die Uniform eines SS-Rottenführers. Hermann Metzler hatte also damals den Rang eines SS-Rottenführers bekleidet. Ich hatte keine Ahnung, was das für meinen Fall bedeutete, aber vielleicht war es ein Anhaltspunkt.  


    Elsbett sagte, während wir vom Kaffee schlürften:


„Bist du jetzt unter die Militaristen gegangen?"


„Nein, aber ich arbeite an einem Fall..."


„...über den du leider nicht sprechen kannst."


„Ganz so ist es nicht. Was weißt du, zum Beispiel, über Hitlers SS?"


Elsbett ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie versank in der durchgelegenen Ottomane, packte zwei olivfarbene Kissen hinter den Rücken und schlürfte genüsslich von der Brühe. Dann begann sie mit knappen, präzisen Worten zu dozieren:


„Die SS, die Abkürzung steht für Schutzstaffel, ist die 1925 entstandene Sonderorganisation zum Schutze Adolf Hitlers und anderer NS-Größen. Reichsführer SS Heinrich Himmler, der die SS ab 1929 führte, wollte mit ihrer Hilfe einen nationalsozialistischen Führungsorden auf der Grundlage biologischer Auslese bilden. Während des Zweiten Weltkrieges wurden besondere Einsatzgruppen, bestehend aus SS-Männern, aufgestellt, die im In- und Ausland Hunderttausende von Juden, Partisanen und politische Gegner ermordeten."


„Wie viele Männer waren das?"


„Ingesamt?"


„Ja. Ingesamt."


„Die allgemeine SS hatte meines Wissens um 1939 etwa 240.000 berufsmäßige Mitglieder. Die SS-Verfügungstruppe, ein streng kasernierter Verband, hatte rund 18.000 Mann. Die Totenkopfverbände, zuständig für die Bewachung der Konzentrationslager, umfassten etwa 8.500 Mann. Nach Kriegsbeginn, im September 1939, entstand dann sehr rasch die Waffen-SS, ein ganz besonderer Haufen. Aber wenn du es ganz genau wissen willst, Gaga, müsste ich nachschaun."


„Nicht notwendig, Elsbett. Was passierte mit ihnen nach dem Ende des Krieges?"


„1946, in den Nürnberger Prozessen, wurde die Schutzstaffel zur verbrecherischen Organisation erklärt und sofort verboten."


Elsbett schwieg. Ich hatte noch eine letzte Frage:


„Und all die SS-Männer? Was wurde aus ihnen?"


Sie schaute in die Ferne. Ihr Blick war grimmig geworden. Mit heiserer Stimme entgegnete sie:


„Vorbildliche Demokraten, die als braves Stimmvieh alle paar Jahre zur Wahl gehen. Mündige Bürger, die niemals bei Rot über eine Verkehrsampel fahren würden. Fußballfans, Briefmarkensammler, Heimwerker und Hobbybastler. Doktoren der Philosophie, Ärzte und Juristen. Pfarrer, Beamte des einfachen, des gehobenen, des mittleren und des höheren Dienstes. Grundsolide Handwerksmeister. In aller Welt anerkannte Facharbeiter. Allem sozialen gegenüber aufgeschlossene Stadträte und Bürgermeister. Pfarrgemeinderatsvorsitzende. Redegewandte Politiker. Schriftsteller, Maler, Musiker von Rang. Aufopferungsvolle Väter. Stützen der Gesellschaft. Nehmt alles nur in allem: Wölfe im Schafspelz! Das ist aus den SS-Männern geworden."       


„Du meinst..."


„Der Schoß ist fruchtbar noch, wie Berthold Brecht zu sagen pflegte..."


„Es hat aber doch auch andere gegeben."


„Das bestreitet niemand, Gaga. Leider gab es niemand, der von sich sagen konnte, man sei unschuldig, man wusste ja von nichts. Das ist unser ganzes Dilemma: Niemand, keiner, nicht ein einziger ist schuldig. - Noch Brühe?"


„Nein, ich muss los. Trotzdem vielen Dank für deine Hilfe und die Brühe, ich meine, für den Kaffee."


„Gern geschehen. Wann darf ich das Aufgebot bestellen, Hirte meiner Lenden?"


„Ich versteh die Frage nicht, Elsbett..."


Ihre Antwort wartete ich nicht mehr ab. Elsbett war lieb und nett, aber ich wollte meine Freiheit nicht verlieren, dafür war ich einfach noch nicht reif genug.


 


 


Mehr sollte hier nicht gezeigt werden ... Viel Vergnügen beim Lesen des Romans!


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