„Mädchen, komm her!“ Heiser tönte Risans Stimme durch die kleine Hütte. Mühsam richtete er sich in seinem Bett auf, keuchte erschöpft und starrte auf den grauen Vorhang, der seinen Raum von der Küche trennte. Plötzlich schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall und warf ihn zurück in die Kissen. Blut floss in einem dünnen Rinnsal aus seinem Mund. Noch vor einigen Monden war er ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, aber nun – nun war er nur noch ein Häufchen Elend. Risan schämte sich für das, was aus ihm geworden war. Tia kümmerte sich rührend um ihn, sie verdiente den Lebensunterhalt, machte den Haushalt und hatte immer ein Ohr für seinen Kummer. Risan konnte sich glücklich schätzen, eine solche Tochter zu haben. Und doch bereitete ihm ihre große Fürsorge Unbehagen, es wäre schließlich seine Aufgabe gewesen, das Geld zu verdienen. Tia hatte in ihrem kurzen Leben schon so viel durchgemacht und nun fiel er ihr auch noch zur Last.
„Vater“, sagte sie und schob den Vorhang zurück. Tia trug ein einfaches Kleid aus grauem Leinen. Sie sagte immer, es sei praktisch im Haus, aber Risan bezweifelte, dass sie sich in dem einfachen Fetzen wohlfühlte. Darunter trug sie eines seiner alten Hemden, für eine bessere Bluse reichte das Geld einfach nicht. Mit sorgenvoller Miene trat sie an sein Bett und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Diese dunkelbraunen Augen, die ihn so sehr an Tairia erinnerten, sahen ihn voller Kummer an. Tia war ihrer Mutter so ähnlich, die zierliche Statur, ihr zauberhaftes Lächeln und vor allem ihr großes Herz, all das erinnerte ihn tagtäglich an seine große Liebe. Nur das goldblonde Haar hatte sie von ihm, und vielleicht das Verkaufsgeschick.
Vorsichtig wischte Tia das Blut fort und tupfte das Gesicht ihres Vaters mit einem feuchten Tuch ab. Sie setzte sich behutsam auf die Bettkante und betrachtete ihn. Wie schlecht es ihm ging. Wie war es bloß so weit gekommen? Noch vor nicht allzu langer Zeit waren sie als fahrende Händler in ganz Volbia unterwegs gewesen und hatten ein gutes Leben geführt. Davon war aber nun kaum noch etwas übrig geblieben. Nachdem ihr Vater krank und immer schwächer geworden war, konnte er nicht mehr reisen. So verkauften sie die Pferde, gaben das Geschäft auf und ließen sich einfach im nächstgelegenen Ort nieder. Seitdem lebte Tia mit ihrem Vater in dieser armseligen Hütte in Dalden und ging mittlerweile bei dem Dorfheiler in die Lehre. Meister Iratus hatte weder Kinder noch andere Lehrlinge, womöglich würde sie eines Tages seine Stelle übernehmen und die Heilerin von Dalden werden. Bei diesem Gedanken erhellte ein leichtes Lächeln ihr bekümmertes Gesicht. Der feste Griff ihres Vaters holte Tia aber schließlich in die Wirklichkeit zurück.
„Soll ich Meister Iratus holen? Er kann dir bestimmt einen frischen Heiltrank brauen.“
„Nein, nein. Es geht mir schon wieder besser“, log er. Sein Atem ging rasselnd und schwerfällig.
„Mädchen, hör zu“, befahl Risan mit strenger Stimme. Die Augen geschlossen atmete er tief durch und sammelte Kraft.
„Ich weiß, du bist erst 16 Jahre alt und fast noch ein Kind, aber ich habe dennoch eine wichtige Aufgabe für dich. Du musst für mich nach Lisim reisen.“ Tia sprang erschrocken auf und schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihr augenblicklich in die Augen und sie begann zu weinen. Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Vater und sah ihn mit flehendem Blick an.
„Lisim? Wir haben diesen Ort immer gemieden und jetzt schickst du mich dorthin? Was soll ich in Lisim, Vater? So weit weg von dir. Vater, das kann ich nicht. Außerdem braucht mich Meister Iratus!“, erklärte Tia mit bebender Stimme. Ihr Vater musste den Verstand verloren haben. Wie konnte er erwarten, dass sie allein nach Lisim reiste. Die Stadt lag mindestens einen halben Mondlauf entfernt!
„Unsinn. Der Heiler ist früher ohne dich ausgekommen und wird dich auch in Zukunft nicht brauchen. Iratus weiß ohnehin schon Bescheid und hat keinerlei Einwände erhoben. Namal wird ihm fortan zur Hand gehen, schließlich brauchen wir ihn nicht mehr als Kutscher. Du wirst tun, was dein Vater dir befiehlt. Hast du mich verstanden, Mädchen?“
„Aber Vater! Kannst du nicht Namal nach Lisim schicken? Ich wäre mindestens einen Mondlauf fort. Wer soll sich dann um dich kümmern?“, schluchzte Tia.
Ein wütender Ausdruck trat in Risans feuerrotes Gesicht. „Ich bin ein erwachsener Mann! Ich brauche weder dich noch sonst jemanden!“, brüllte der Alte wütend, bevor er wieder zu husten begann.
Tia stürzte weinend in den Nebenraum, zog den Vorhang zu und ließ sich auf den Strohsack fallen, der ihr als Schlafstätte diente. Warum tat er ihr das an? Wie konnte er sie einfach fortschicken? Außer ihm hatte sie doch niemanden auf dieser Welt. Und merkte er denn gar nicht, wie krank er war? Ohne Hilfe würde er nicht zurechtkommen. Mit diesen Gedanken glitt Tia allmählich in den Schlaf hinüber.
Die Vögel zwitscherten fröhlich und eine frische Brise wehte über Tia hinweg. Genüsslich streckte sie sich auf ihrem Strohsack und öffnete allmählich die Augen. Der grelle Schein der aufgehenden Sonne blendete sie, so dass sie nur kurz blinzeln konnte. Plötzlich kitzelte sie etwas am Bein. Tia schreckte hoch und fand sich mitten auf einer grünen Wiese wieder. Zitternd sah sie sich um und fragte sich, wie sie an diesen Ort geraten war. Unter ihr lag der Strohsack und neben sich im Gras erblickte Tia den ihr bestens bekannten Reisesack. Ihr Vater hatte ihn früher benutzt und sein wichtigstes Hab und Gut darin verstaut. Was war geschehen? Tia war fassungslos und sah sich mit großen Augen um, doch sie erkannte nichts wieder, alles war vollkommen fremd. Und plötzlich ergab alles einen Sinn, er hatte sie fortschaffen lassen, weil sie freiwillig nie gegangen wäre. Was war bloß so wichtig, dass sie ihn allein zurücklassen und nach Lisim reisen musste? Tia vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Noch nie war sie von ihrem Vater getrennt gewesen und nun sollte sie eine Reise quer durch Volbia unternehmen. Sie wusste weder, wie sie nach Lisim gelangen sollte, noch, was sie dort erwartete. Was hatte sich ihr Vater bloß dabei gedacht? Als die Tränen versiegt waren, zog Tia den Reisesack mutlos zu sich herüber. Vielleicht würde sie darin einen Hinweis finden. Als sie den Sack öffnete, fiel ihr ein kleiner Brief in die Hände.
Liebe Tia,
dich fortzuschicken, bricht mir das Herz, aber ich kann nicht anders. Unentwegt denke ich an deine Mutter, ich sehne mich so sehr nach ihr. Als Tairia starb, glaubte ich sie für immer verloren, doch wir haben noch eine Chance. Tairia starb in Lisim und auch ich will in Lisim sterben. Im Tode könnten deine Mutter und ich wieder vereint sein, wenn du uns die Gelegenheit dazu gibst. Ich bitte dich, reise nach Lisim und treffe alle Vorbereitungen für das magische Todesritual. Erfüllst du mir diesen letzten Wunsch, Mädchen?
Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen. Ich musste Namal bitten, dich zum Ufer des Siad zu bringen. Du hättest mich nicht verlassen wollen.
Um Lisim zu erreichen, musst du dem Fluss in östlicher Richtung folgen. Dort wo der Siad ins Meer mündet, befindet sich Lisim. Tia, halte dich von den Dörfern fern und wandere abseits der Handelswege, du weißt, was für Gesindel in Volbia unterwegs ist. In Lisim kannst du dich an Biana wenden. Sie ist die Wirtin des Gasthauses „Zum brummenden Henker“ und war mir einst eine große Hilfe.
Pass auf dich auf, Mädchen.
Dein Vater Risan
P.S.: Ich habe im Dorf erzählt, ich hätte dich zu deiner Tante Biana an die Ostküste geschickt. Bei dieser Geschichte solltest du auch bleiben, falls du doch einmal auf Fremde triffst.
Tia war zutiefst erschüttert und sackte zusammen. Schluchzend rollte sie sich auf dem Strohsack zusammen, dem einzigen Stück Heimat, das ihr geblieben war. Eiskalt stieg die Angst in ihr auf. Ihr Vater würde sterben, schon bald. Tia würde auch ihn verlieren, den einzigen Menschen auf Erden, der ihr etwas bedeutete. Und sie sollte die Vorbereitungen treffen. Wie sollte sie das anstellen? Tia hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Was würde sie in Lisim erwarten? Ihre Gedanken überschlugen sich. Voller Wehmut dachte sie an ihr Leben in Dalden zurück. Das kleine Dorf war zu ihrem Zuhause geworden, nachdem sie ihr ganzes Leben auf den Straßen von Volbia verbracht hatte. Tia hatte es geliebt, mit ihrem Vater umherzureisen, fremde Orte zu besuchen und immer wieder neue Menschen kennenzulernen. Der Gedanke eines Tages sesshaft zu werden, war ihr stets ein Graus gewesen, doch die Krankheit ihres Vaters hatte sie schließlich doch dazu gezwungen. Tia erinnerte sich noch gut an die ersten Tage in Dalden, nachdem sie die einfache Holzhütte mit ihrem Vater bezogen hatte. Die Enge der Hütte war aber nicht das Schlimmste gewesen, Tia litt vor allem unter der Eintönigkeit des Alltags. Tag für Tag schlenderte sie die staubigen Straßen auf und ab, ging von Tür zu Tür und versuchte Tonkrüge oder Kräuter zu verkaufen. Die Langeweile war unerträglich und lastete mit jedem Tag schwerer auf Tia. Erst als Meister Iratus sie in die Lehre genommen hatte, fühlte sie sich in Dalden allmählich heimisch und erkannte, dass sie sich all die Jahre in ihrem Innersten nach einer solchen Heimat gesehnt hatte.
Tia raffte sich schließlich auf, wischte die Tränen fort und schulterte den Reisesack. Das raue Leder war ihr nur allzu gut von den zahlreichen Reisen vertraut, die sie früher mit ihrem Vater unternommen hatte, und gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Unschlüssig stand sie da und entdeckte den Siad, den Fluss, der sie nach Lisim geleiten würde. Volbia war groß, sehr groß und voller Gefahren, aber ihr Vater verließ sich auf sie.
Dichtes Buschwerk und hohes Schilfgras säumten die Ufer des Siads und boten Tia etwas Schutz. Obwohl am Fluss stets eine leichte Brise wehte, trieb ihr die Mittagshitze den Schweiß auf die Stirn. Als ihr Leinenkleid vollkommen durchnässt war, rastete Tia am seichten Ufer. Die staubigen Füße ins kühle Wasser getaucht, vergaß sie für einen Augenblick ihre Sorgen. Neugierig durchstöberte sie den Reisesack und stieß auf allerlei praktische Dinge: Trockenfisch, Hartkäse, einen leeren Wasserschlauch, eine Decke, ein Messer, Papier und Stift. Ihr Vater hatte an wahrlich alles gedacht. Fast alles. Ein Kleid zum Wechseln hatte er nicht eingepackt.
Tia seufzte. Ihr Kleid war vollkommen durchgeschwitzt, sie würde es im Fluss auswaschen müssen. Und auch ihr würde ein Bad gut tun. Kurzentschlossen stieg sie in den Fluss und genoss das kühle Nass auf der Haut. Tia sah sich noch einmal um, konnte aber niemanden am Ufer erblicken. Schließlich streifte sie ihr Kleid ab, wusch es im Fluss aus und legte es zum Trocknen ans Ufer. Tia selbst zog es wieder ins Wasser. Schwerelos glitt sie dahin und vergaß die Welt um sich herum.
Plötzlich raschelte das Schilf am Ufer heftig, obwohl sich der Wind längst gelegt hatte und nicht einmal eine leichte Brise zu spüren war. Tia schrie erschrocken auf, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Hastig schwamm sie zurück an Land und schlüpfte wieder in ihr mittlerweile trockenes Kleid. Sie sah sich noch einmal unsicher um und beruhigte sich allmählich wieder. Sie war es nicht gewohnt, alleine in der Wildnis unterwegs zu sein, und musste sich erst einmal an die Geräusche des Flusses gewöhnen.
Frisch gebadet fühlte sich Tia ausreichend für die nächste Etappe gestärkt und setzte so ihren Weg am Siad entlang fort. Das hohe Schilf strich ihr sanft um die Waden, während das Rauschen des fließenden Wassers und der Gesang der Vögel zu einer ermutigenden Melodie verschmolzen. Ganz in Gedanken versunken stolperte Tia plötzlich und fiel der Länge nach hin.
„Du musst besser aufpassen, wenn du durchs Schilf trampelst!“, tönte eine quietschige Stimme. Tia riss den Kopf hoch und sah direkt in die grasgrünen Augen eines Fremden. Unsicher richtete sie sich auf und betrachtete ihn näher. Der Fremde konnte kein gewöhnlicher Mensch sein. Er wirkte wie ein Junge ihres Alters, reichte ihr aber nur bis zur Hüfte. Tia runzelte die Stirn und versuchte, sich einen Reim auf die befremdliche Begegnung zu machen.
„Entschuldigung. Ich… Ich habe dich nicht gesehen“, erklärte sie stotternd.
„Ja, ja, ich bin klein. Würde es den Menschen schaden, hin und wieder hinunter zu sehen? Nein, aber die Zwerge interessieren sie nicht. Ihr trampelt durch unsere Gärten und schert euch keinen Deut um uns. Tss!“ Der Zwerg lief feuerrot an, wandte sich von Tia ab und stapfte wütend in Richtung Wasser.
„Es tut mir leid. Ich habe einfach nicht erwartet, auf… Zwerge zu treffen“, erklärte Tia. Insgeheim hoffte sie, dass er zurückkommen und ihr etwas Gesellschaft leisten würde. Bald würde es Abend werden und sie fürchtete sich vor den Schatten der Nacht. Ihr Vater hatte zwar geschrieben, sie solle sich von Fremden fernhalten, aber für Zwerge galt dies sicherlich nicht. Was sollte der kleine Kerl ihr auch schon antun?
Tia wartete ab, doch sie erhielt keine Antwort. Stille umfing sie und machte all ihre Hoffnung auf Gesellschaft zunichte. Niedergeschlagen beschloss sie, nicht weiter zu wandern, und hielt nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau. Schließlich breitete sie ihre Decke unter einem alten Baum in Ufernähe aus und hockte sich auf den Boden. Vom Hunger getrieben durchforstete sie den Reisesack und holte den Hartkäse und einen alten Kanten Brot hervor. Während Tia gegen den Baum lehnte und genüsslich kaute, wanderten ihre Gedanken zurück nach Dalden. Ob ihr Vater bereits zu Abend gegessen hatte? Hoffentlich kümmerte sich Meister Iratus gut um ihn, ihr Vater war einfach zu schwach, um sich selbst zu versorgen.
„Wenn man im Reich der Zwerge unterwegs ist, muss man auch mit Zwergen rechnen!“
Mit einem Mal trat der Zwerg aus der Uferböschung hervor und betrachtete Tia argwöhnisch. Seine Kleider waren triefnass und sein kastanienbraunes Haar klebte strähnig an seiner Stirn. Einzig die grüne Kappe, die augenscheinlich aus Blättern bestand, war trocken geblieben. Stumm sahen sich die Beiden eine Zeit lang an, bevor Tia schließlich das Schweigen brach.
„Ist dies tatsächlich die Heimat der Zwerge? Ich dachte, der Siad durchfließt Volbia“, begann sie schüchtern und nestelte nervös an ihrem Kleid herum. Sie wollte den Zwerg nicht wieder verscheuchen, obgleich er bislang nicht allzu freundlich gewesen war. Doch im Moment war ihr eine unfreundliche Gesellschaft lieber als gar keine.
„Der Siad ist der heilige Fluss der Zwerge, unser Refugium. Seit Jahrhunderten leben wir am Fluss“, erklärte der Zwerg und setzte sich ungefragt auf die Decke. „Was hast du hier eigentlich zu suchen? Menschen kommen für gewöhnlich nicht hierher.“
„Oh. Ich bin Tia aus Dalden. Mein Vater ist krank und schickt mich nach Lisim, zu meiner Tante Biana“, antwortete Tia kleinlaut. Den Zwerg anzulügen, bereitete ihr Unbehagen, aber sie wollte sich dem Willen ihres Vaters nicht widersetzen.
Entgeistert riss der Zwerg die Augen auf und rückte mehr und mehr von Tia ab, während er sie gleichzeitig anstarrte. Dieses so unschuldig erscheinende Mädchen war tatsächlich auf den Weg nach Lisim, ging es ihm durch den Kopf. Saydom presste seine Hände krampfhaft ineinander, um nicht zu erzittern, schließlich sollte sie nichts von seiner Ehrfurcht bemerken. Nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte, legte sich die Anspannung in seinem Inneren ein wenig, so dass er es wagte, zu antworten.
„Ich bin Saydom vom Volk der Favold. Wir leben unweit von hier in den Bergen jenseits des Flusses. Bis nach Lisim ist es ein weiter Weg, zumindest wenn man ihn zu Fuß zurücklegen muss. Dein Vater hätte einen Kutscher bezahlen oder zumindest für eine Begleitung sorgen sollen. Ein junges Mädchen allein in die Wildnis zu schicken, ist unverantwortlich. Aber so sind die Menschen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, rollte sich zusammen und begann augenblicklich zu schnarchen.
Der Geruch von gebratenem Fisch lag in der Luft, als Tia am nächsten Morgen erwachte. Sie streckte sich langsam und spürte nichts als Schmerzen. Die Nacht auf dem harten Boden hatte ihr wahrlich nicht gut getan. Bei dem Gedanken, dass sie noch viele weitere Nächte im Freien würde verbringen müssen, verzog sie das Gesicht. Tia hob vorsichtig den Kopf, stöhnte kurz vor Schmerz auf und entdeckte Saydom. Der Zwerg war noch da. Ihr Herz tat einen zaghaften Hüpfer vor Freude.
Saydom war aber nicht nur geblieben, sondern hatte zudem auch für ein morgendliches Mahl gesorgt. Unweit ihres Schlafplatzes hatte er eine kleine Feuerstelle eingerichtet, die wohlige Wärme ausstrahlte. Auf der gegenüberliegenden Seite saß der Zwerg auf einem alten Baumstamm und blickte ins Feuer. In seinen kleinen, aber dennoch muskulösen Händen hielt er einen langen Ast über die Feuerstelle, an dessen Ende zwei prächtige Fische aufgespießt waren.
Tia trat zögerlich ans Feuer und sog den köstlichen Duft tief ein. Allein bei dem Gedanken daran, einen gebratenen Fisch zu verspeisen, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Der Zwerg schien sie zunächst überhaupt nicht zu bemerken, sah dann aber doch auf und strahlte sie förmlich an. Seine schmalen Lippen formten ein fröhliches Lächeln und um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen.
„Seid gegrüßt, holde Braut“, begrüßte er Tia und schwenkte die Fische im Feuer.
„Hm? Was hast du gesagt?“, fragte Tia verschlafen und gähnte genüsslich. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich neben Saydom auf den Stamm.
„Ach, ich wollte dir bloß einen guten Morgen wünschen“, entgegnete er. Fasziniert betrachtete der Zwerg, wie Tia ohne Kamm oder Bürste ihr langes Haar wieder in Form brachte. Das Sonnenlicht ließ ihre Haare wie pures Gold glänzen. Erst jetzt erkannte Saydom, wie schön dieses Mädchen war. Er konnte sich glücklich schätzen, ihr begegnet zu sein, auch wenn er dies am Tag zuvor noch anders gesehen hatte.
„Heute scheinst du bessere Laune zu haben. Das duftet wirklich köstlich.“
„Ich habe mich gestern schrecklich aufgeführt und möchte mich dafür entschuldigen. Eigentlich bin ich nicht so“, rechtfertigte er sich. Als seine Wangen allmählich rot anliefen, senkte er hastig den Blick und scharrte mit den Füßen im Sand.
Tia lächelte und beschloss, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Saydom schämte sich offensichtlich für sein schroffes Verhalten und sie wollte ihm kein weiteres Unbehagen bereiten. Sie hatte selbst genug Sorgen, aber jetzt wollte sie einfach nur etwas essen und die außergewöhnliche Gesellschaft des Zwerges genießen.
„Ich denke, die Fische sind gut“, meinte Saydom nach einer Weile. Mit geübter Hand zog er die Fische vom Stock und legte sie in ein großes Blatt. Während er die herrlich duftenden Fische zerteilte, holte Tia den Kanten Brot aus dem Reisesack und schnitt mit ihrem Messer zwei großzügige Stücke ab.
„Das war wirklich köstlich, Saydom“, bedankte sich Tia nach dem Mahl. Saydom nahm ihr Lob mit einem schiefen Lächeln entgegen. Er strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus und war überhaupt nicht wiederzuerkennen. Am Tag zuvor war er mürrisch und griesgrämig gewesen, über Nacht hatte er sich in einen angenehmen und überaus freundlichen Kerl verwandelt. Das Zusammensein mit Saydom hatte etwas Tröstliches für Tia und ließ sie den Kummer vergessen, der ihr das Herz schwer machte.
„Ich würde gerne ein Bad im Fluss nehmen, würde es dich stören…“, begann Tia, kam jedoch nicht dazu, den Satz zu vervollständigen.
„Oh ja, natürlich!“ Der Zwerg sprang augenblicklich auf und lief puterrot an. Er rief noch etwas davon, dass er ohnehin Holz sammeln müsse, bevor er schließlich gänzlich im hohen Gras verschwand.
Erfrischt stieg Tia aus dem Siad und schlüpfte hastig in ihr Kleid. Sie wollte Saydom auf keinen Fall nackt gegenüber stehen und hoffte, dass er sie nicht bereits gesehen hatte. Mit ihren zarten Fingern fuhr sie sich durch die nassen Haare und strich sie zurück. Als sie den Zwerg nirgends entdecken konnte, verließ sie plötzlich der Mut. Saydom hatte mit Sicherheit Besseres zu tun, als einem fremden Mädchen Gesellschaft zu leisten. Den weiteren Weg bis nach Lisim würde sie wohl allein zurücklegen müssen. Auf einmal fühlte sie sich wieder so verloren und konnte die Tränen nur schwer zurückhalten. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie den Zwerg in der kurzen Zeit schon ins Herz geschlossen hatte. Niedergeschlagen packte Tia ihre Sachen zusammen und schulterte den Reisesack. Wenn sie Lisim in einem halben Mondlauf erreichen wollte, musste sie nun aufbrechen.
„Hey, wo willst du hin?“, erklang plötzlich Saydoms quietschige Stimme aus dem Gras. Er schnaufte angestrengt und zog ein Floß ans Ufer des Siads. Schluchzend eilte Tia herbei und umarmte Saydom stürmisch. Voller Euphorie gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. Tias Herz pochte heftig, sie war so froh, dass Saydom sie nicht allein gelassen hatte. Als sie ihn wieder losließ, sackte er einfach zusammen und landete im feuchten Morast. Tia beugte sich erschrocken über ihn und rüttelte besorgt an seinen Schultern. Saydom schlug die Augen auf und sah ihr direkt in die Augen. Sein verwunderter Blick wanderte augenblicklich zu ihren Händen, die noch auf seinen Schultern ruhten.
„Entschuldige, ich wollte … dir nicht wehtun. Ich … ich habe mich bloß so sehr gefreut“, erklärte Tia stotternd und trat einige Schritte zurück. Saydom erhob sich schweigend, ohne den Blick von Tia abzuwenden, und zog sein graues Hemd zurecht. Schließlich wandte er sich wieder dem Floß zu und machte sich daran, es ins Wasser zu bringen. Tia ging ihm zur Hand und half ihm, das große Floß ins Wasser zu ziehen.
„Ich dachte, du bist fort“, erklärte sie schniefend und wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. Verlegen trat Saydom auf sie zu und tätschelte ihre Hand. Er trug seine Kappe aus Blättern und reichte Tia ein ähnliches, aber deutlich größeres Exemplar.
„Damit du keinen Sonnenstich bekommst“, sagte er. „Der Siad fließt schnell und mit dem Floß können wir schon morgen Abend in Lisim sein.“
„Wir?“, fragte Tia überrascht.
„Ich kann dich unmöglich allein durch Volbia irren lassen. Ein junges Mädchen sollte nicht alleine reisen müssen. Während du ein Bad genommen hast, habe ich mein Floß vergrößert, damit wir beide darauf Platz finden.“
Saydom griff sich einen langen Ast und nahm am Heck des Floßes Platz. Tia setzte sich mit einem begeisterten Strahlen vor ihn und platzierte ihren Reisesack am vorderen Ende des Floßes. Saydom lächelte zufrieden und stieß das Floß mit dem Ast vom Ufer weg. Sobald sie die Mitte des Flusses erreicht hatten, riss sie die starke Strömung mit sich und ließ die Landschaft nur so an ihnen vorbeifliegen.
Saydom betrachtete Tia, wie sie vor sich hin döste, und konnte es noch immer nicht fassen. Sie hatte ihn geküsst. Das hübscheste Menschenmädchen, das er je zu Gesicht bekommen hatte, hatte ihn tatsächlich geküsst. Tia schien es überhaupt nichts auszumachen, dass er ein Zwerg war. Sie war so vollkommen anders. Ihr goldenes Haar, das kleine Stubsnäschen, ihre sanften Hände, an ihr war einfach alles perfekt. Womöglich war sie… Nein, das konnte nicht sein. Er durfte nicht so dumm sein, sich falsche Hoffnungen zu machen. Andererseits wäre es ein Leichtes, sie mithilfe der Magie zu manipulieren. Sie würde Lisim, ihren Vater, ihr gesamtes bisheriges Leben vergessen und mit ihm gehen, um die Prophezeiung zu erfüllen. Saydom dachte an seine Familie und sah seinen Vater mit stolzgeschwellter Brust vor sich. Seine Mutter weinte vor Rührung und Morldom, sein älterer Bruder, verneigte sich voller Respekt. Er konnte als Held zu den Zwergen zurückkehren, wenn er seine Magie einsetzte. Glühendheiß flammte die magische Kraft in seinem Innern auf und lechzte danach freigesetzt zu werden, so dass Saydom der Versuchung erlag und seine Hände auf Tias Stirn legte. Doch im letzten Moment siegte sein Gewissen und Saydom zog seine Hände bedächtig zurück. Er hätte das Schicksal seines ganzen Volkes besiegeln, seinen Mut beweisen und als Held nach Hause zurückkehren können, aber er hatte es nicht gewagt. Wütend über sich selbst schlug Saydom mit seinem Ast aufs Wasser und schüttelte die Tagträume ab.
„Was ist los?“, fragte Tia verschlafen und drehte sich zu Saydom um. Das Platschen des Astes hatte sie aufgeweckt.
„Nur ein Insekt. Ich wollte es vertreiben“, erwiderte Saydom und verzog seinen schmalen Mund zu einem Lächeln.
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir die Nacht auf dem Fluss verbringen? Dann könnten wir Lisim schon morgen Mittag erreichen.“
Tia sprang begeistert auf, kam ins Strudeln und stürzte beinahe in den Fluss. Im letzten Moment bekam Saydom ihre Hand zu fassen und zog sie zurück aufs Floß. Einen kurzen Augenblick hielten sie sich in den Armen und Saydom bereute, dass er seine magischen Kräfte zuvor nicht eingesetzt hatte, denn nur wenn sie schlief, konnte er ihren Geist beeinflussen und diese Chance hatte er vertan. Saydom hoffte, dass sie sich aus freien Stücken für ihn entscheiden würde, und wusste, dass er auch die nächste Gelegenheit zur Manipulation ihres Geistes ungenutzt verstreichen lassen würde.
Verwirrt zog sich Tia zurück und setzte sich vorsichtig in die Mitte des Floßes. Für ein solch kleines Wesen war Saydom erstaunlich stark. Er hatte sie ohne Probleme gehalten.
„Danke. Du bist ziemlich stark.“ Tia blickte Saydom unverwandt an und entdeckte ein stolzes Funkeln in seinen grasgrünen Augen.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du besser aufpassen musst“, entgegnete er und prustete los. Tia stimmte in sein Lachen ein und fühlte sich plötzlich befreit. Hier auf dem Fluss gab es nur Saydom und sie.
„Wusstest du denn nicht, dass Zwerge magische Wesen sind? Die Magie macht uns Zwerge bärenstark. Das ist der Grund, warum uns die Menschen fürchten. Trotz unserer geringen Größe sind wir so manchmal im Vorteil.“