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Fantasy Bücher
Buch Leseprobe Der Fantast und das Apokryptikum, Michaela Göhr
Michaela Göhr

Der Fantast und das Apokryptikum



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′Der Moment, in dem man sich abwendet, um eine neue Richtung einzuschlagen, beinhaltet immer einen Zwiespalt. Selten erkennen wir ihn so deutlich wie im Angesicht des Unabwendbaren.′   


Timo


 


Augenblicke


Durch die Augen meines Freundes habe ich nie auch nur den kleinsten Lichtstrahl gesehen. Und doch nahm ich alles um mich herum stets so deutlich wahr, als hätte ich es getan. Denn seine Erinnerungen an die bekannte Umgebung waren so gegenwärtig, dass sie mich einhüllten wie ein schützender Mantel. Es waren meine eigenen Seheindrücke, die sich darin spiegelten. So viele Jahre ist dies nun schon her. Dennoch kommt es mir so vor, als sei er erst gestern durch die vertraute Tür geschritten, ohne sich noch einmal umzudrehen. Und mein Schmerz darüber ist gerade wieder so intensiv, dass diese alten Wunden aufbrechen, als hätten sie nie aufgehört zu bluten. Aber ich muss ihn zum Glück nicht mehr länger ertragen, wie so viele weitere schwere Dinge, die auf mir lasten. Denn ich habe beschlossen, Timo zu folgen - ihm und all den anderen geliebten Menschen, die ich im Laufe dieser langen Zeit loslassen musste. Nur noch wenige Augenblicke trennen mich von meiner eigentlichen Heimat, die mir vertraut ist, obwohl ich sie bisher kaum betreten durfte. Dies sind meine letzten Momente auf Erden. Sie sind schmerzvoll und wehmütig, denn natürlich lasse ich geliebte Menschen zurück, so wie ich viel zu oft zurückbleiben musste. Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Ich habe mich entschieden zu gehen, und sie respektieren meinen Entschluss. Ich sage euch das an dieser Stelle schon mal, damit ihr wisst, dass es das letzte Buch von mir ist, das ihr in Händen haltet. Mein ganzes Leben. Und Zoeys. UNSER Leben. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich hoffe, es ist genug.


 


Teil 1


Ankunft und Bedrohung


 


1.


Es kommt!!! Dieser mentale Ruf, verbunden mit einem merkwürdigen Ziehen im Unterbauch brachte mich dazu, meine Reisegeschwindigkeit bis zum absoluten Maximum zu beschleunigen. Unter Missachtung auftretender G-Kräfte und mehrerer Luftverkehrsregeln donnerte ich nahezu lautlos quer durch den Feierabendverkehr der Heli-Pendler. Es gelang mir, sämtliche Fluggeräte elegant zu umrunden, die wie geordnete Zugvogelschwärme über dem Ballungsgebiet schwirrten. Höher zu gehen machte wenig Sinn, denn dann wurde ich erst recht verfolgt und riskierte empfindliche Bußgelder. Wie ich die Zeiten zurücksehnte, wo der Himmel noch mir allein gehört hatte! Das Schlimmste, was ehedem passieren konnte, war der Abschuss feindlicher Abwehrraketen auf mein ‚unbekanntes Flugobjekt‘. Heutzutage gestaltete sich die unauffällige Fortbewegung wesentlich schwieriger. Mein gedachtes Mittel dazu glich rein äußerlich den gängigen Modellen, sofern die Konzentration ausreichte. Momentan verschwendete ich allerdings keinen Gedanken daran, den übrigen Verkehrsteilnehmern zu suggerieren, in einem hubschrauberartigen Gefährt zu sitzen. Deshalb erntete ich viel mehr erstaunte Blicke als sonst. Eine Flugverkehrskontrolle hatte ich bereits passiert und war mir sicher, demnächst ein Bild von mir und einen passenden Artikel mit aberwitzigen Geschwindigkeitsangaben im öffentlichen Netz zu entdecken. Vermutlich verbunden mit einem saftigen Knöllchen, das irgendwie den Weg zu meinen Eltern finden würde. Witzigerweise erhielten sie immer wieder Strafzettel für zu schnelles Fliegen, obwohl keiner von beiden einen derartigen Führerschein besaß. Mein Vater rief stoisch jedes Mal bei der zuständigen Behörde an und meldete den Irrtum. Daraufhin entschuldigte sich sein Gesprächspartner jeweils bei ihm und bat ihn, den Bescheid zu ignorieren. Man musste es diesen Leuten nachsehen - die Notwendigkeit zur regelmäßigen Kontrolle von Fluggeschwindigkeit, -höhe und -route bestand noch nicht allzu lange, und mit mir hatten die Planer des Systems von Anfang an ein Problem gehabt. Einerseits brauchten sie mich und wussten, dass die Öffentlichkeit es nicht gut aufnehmen würde, wenn ich wegen solcher Lappalien Schwierigkeiten bekäme. Andererseits sollte alles seine Richtigkeit und Ordnung haben. Irgendwer musste halt für die offensichtlichen Verkehrssünden büßen. Keine Ahnung, wie sie dabei jedes Mal auf meine armen, geplagten Eltern kamen. Aber solange diese die Strafen nicht zahlten, nahmen sie es mit Humor. „Wie weit ist es? Ich bin gleich da, Schatz!“ Ich schickte meiner Frau einen mentalen Kuss, horchte gleichzeitig, ob es ihr und dem Baby gut ging. Anscheinend hatte unser kleiner Fratz sich ausgerechnet diesen Moment dazu ausgesucht, um auf die Welt zu kommen. Und das, obwohl Zoey durchaus ziemlich viel mitbestimmen konnte, was ihren Körper betraf. Aber das winzige Wesen in ihr schien jetzt schon seinen eigenen Willen zu haben und ihn rigoros durchzusetzen. Mit aller Macht drängte es, sein geborgenes Zuhause zu verlassen, um geboren zu werden. Ebenso dickköpfig versuchte mein Liebling, dieses Ereignis noch ein kleines bisschen hinauszuzögern - mir zuliebe. Sie stöhnte. Beeil dich - sie will wirklich raus! Die Presswehen haben schon eingesetzt. Wenn ich jetzt dagegen arbeite, schade ich ihr vielleicht ... „He, bloß nicht!“, rief ich entsetzt, während ich über den Flur stürmte. Vor dem Kreißsaal standen Timo und Susanna Hand in Hand. Anscheinend hatte Zoey ihre Eltern vor die Tür gesetzt, die sich nun vor mir öffnete. Na endlich, empfing ich die erleichterte Botschaft von meinem Freund. Ich dachte schon, ich würd alles verpassen ... Meine Tochter sperrt mich aus! Meinst du, ich lass dich zusehen? Er musste mein Grinsen dabei spüren, das schnell in ein Strahlen überging, als ich das schwarz behaarte Köpfchen erblickte, das die Hebamme bereits behutsam gedreht hatte. Natürlich bekam Timo jede Einzelheit mit. Ich hielt Zoeys Hand, spürte ihre Schmerzen, ihre Anstrengung - und gleichzeitig die unbändige Freude, die sie bei alledem empfand. Sie keuchte und presse noch einmal. „Gleich ist es geschafft!“, rief der Doc, der in einer Ecke des kleinen Raumes stand und das Ganze interessiert beobachtete. Nur Momente später hielt die Geburtshelferin ein schmieriges Bündel in den Händen, das über die blutige Versorgungspipeline mit seiner Mutter verbunden war. Wie hypnotisiert starrte ich es an, konnte den Blick nicht davon lösen. „Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden?“, fragte die Hebamme schüchtern. Ich tat es beinah mechanisch, ohne mich vom Fleck zu rühren oder Zoeys Hand loszulassen. Mit der zweiten strich ich dem winzigen Wesen zärtlich über das nasse Köpfchen. Meine Tochter! Der Gedanke hatte etwas Magisches, Unglaubliches. Sie war gesund und munter, aber gab noch keinen Laut von sich. Erst als die Frau sie energisch an den Beinchen packte und auf den Kopf stellte, atmete sie einmal tief, bevor sie und zu quäken begann. „Annie“, seufzte Zoey glücklich. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen. Dann wurde ihr das inzwischen gebadete und abgetrocknete Kind auf den Bauch gelegt. Es war sofort still. Darf ich jetzt endlich meine Enkelin begrüßen? Timos Stimme in meinem Kopf klang nicht vorwurfsvoll. Er teilte meinen Glückstaumel. Wir wussten beide, dass dies mein einzigartiger Moment war, so wie er seinen bei Zoeys Geburt gehabt hatte. Meine Frau lachte ihr bezauberndes Lachen. Sie sah trotz der gerade überstandenen Anstrengung wunderschön aus. Ihre Augen strahlten wie Sterne, als sie leise murmelte: „Kommt ruhig rein, Papa!“ Annie hatte inzwischen den Weg zu einer der beiden Nahrungsquellen gefunden und begann konzentriert zu saugen. Noch immer starrte ich völlig fasziniert diesen neuen Erdenbürger an, genoss die Idee, dass er ab jetzt zu uns gehörte. Ich half, ihm sein erstes Kleideroutfit anzulegen und umarmte meinen Freund sowie dessen Frau, die mittlerweile hinzugetreten waren. Sie gratulierten uns herzlich. Susanna meinte mit Tränen in den Augen: „Es ist wie ein Kreis, der sich schließt. Oh Simon, ich glaub, deine Eltern werden unheimlich glücklich sein!“ „Ja, das sind sie schon“, erwiderte ich leise. Telefoniert hatte ich nicht, aber die Textnachricht ging raus, bevor das Baby komplett den Mutterschoß durchbrochen hatte. Auch die Antwort hatte ich inzwischen gelesen. Sie lautete: „Glückwunsch! Holst du uns ab?“ Timo fuhr seinem Enkelkind behutsam über das dunkelhaarige Köpfchen, berührte Nase und Mund, streichelte zärtlich seine winzigen Ohren und den Körper bis hin zu den perfekten Händchen und Füßchen. „Sie sieht aus wie eine Mischung zwischen Mama und Papa“, strahlte er selig. „Das kannst du fühlen?“, staunte ich. „Nö. Aber wenn ich deine Erinnerung von Zoey kurz nach ihrer Geburt mit deinem Spiegelbild kombiniere und das Gefühlte sowie das Bild von deiner Tochter damit vergleiche, kriege ich irgendwie Annie raus.“ Ich lachte. Die Fähigkeit meines Freundes, durch meine Augen zu sehen und sein großartiges Denkvermögen ließen beinah vergessen, dass seine eigenen Sehorgane von Geburt an funktionslos waren. Eine nette Gesichtsdekoration, die aber so echt wirkte, dass er die meisten Menschen problemlos damit täuschen konnte. Wir verließen den Geburtsraum, begleiteten Zoey und die kleine Annie zum Zimmer. Ich durfte die Glaswiege unseres Nachwuchses schieben, Timo das Bett seiner Tochter. Er wollte es unbedingt tun, obwohl es auch ein Pfleger gemacht hätte. Im Zimmer küsste ich meine beiden Lieblinge und verabschiedete mich, um der Bitte meiner Eltern nachzukommen. Die Mädels brauchten ohnehin ein wenig Ruhe. Das Anstrengendste an der Sache war, sie zu verschieben, bis du deinen Hintern endlich hierher bewegt hast, teilte mir die blutjunge Mutter mental mit, während ich mich wieder aufs Dach des Klinikums begab. Hier befanden sich der Start- und Landeplatz für die Rettungshelikopter - sowie Zoeys und meiner. Nach einigen Diskussionen mit der Stadt hatten wir die offizielle Genehmigung erhalten, ebenfalls dort zu landen, um Notfälle ins Krankenhaus zu bringen. Nicht, dass wir es vorher nicht getan hatten, aber nun durften wir es sogar. Also brauchte ich mich nicht ganz so sehr mit dem Start zu beeilen. „Kann gar nicht so schlimm gewesen sein - du bist doch noch taufrisch“, neckte ich sie zurück. „Außerdem wolltest du sicherlich nicht den Rekord für die schnellste Geburt der Klinik brechen, oder?“ Meine Verbindung zu ihr war so stark, dass ich sie lachen hörte und spürte, wie sie mir zärtlich den Arm entlangstrich, während ich zweihundert Meter über dem Klinikdach schwebte, dann den schnelleren Gang einlegte, um nach Norden zu düsen. Ihre innere Berührung löste einen Schauer bei mir aus - ein momentan völlig unpassendes körperliches Verlangen. „Wie lange brauchst du, um ...“, begann ich. Natürlich wusste sie schon, was ich wollte. Was glaubst du denn? So eine Geburt bringt einiges durcheinander im Körper der Frau. Da sind jede Menge Baustellen, die erst mal repariert werden müssen. Eigentlich solltest du das wissen! Normalerweise dauert die Blutung noch mindestens zwei Wochen, manchmal auch vier bis sechs. Und dann gibt es innere Verletzungen, die heilen sollten ... Ich stöhnte. Natürlich wusste ich das! Aber ich sprach mit Zoey, nicht mit einer gewöhnlichen Frau. „Und wie lange dauert das bei dir?“, fragte ich amüsiert. Mir war klar, dass sie mich nur vereimern wollte. Du musst schon warten, bis sie mich hier rausschmeißen, Liebling. Keine Ahnung, wann das sein wird. Ich schätze mal, nicht vor morgen früh. „Ok, das halte ich aus. Bin gleich wieder da, Schatz!“ Dieses ‚Gleich-wieder-da‘ dauerte wie üblich doch etwas länger. Kaum gestartet empfing ich den ersten Notruf. Er kam von meinem Arbeitskollegen Sören. „Ich weiß, dass es gerade nicht so gut passt, doch wir brauchen dich hier dringend“, erklärte er. Mehr brauchte er nicht zu sagen - ich wusste sofort, dass es ernst war. Seine Anrufkoordinaten wurden dank moderner Technik direkt auf mein gedachtes Gerät übermittelt, das ich stets auf dem neusten Stand hielt. „Bin so gut wie da“, erwiderte ich, korrigierte den Kurs und beschleunigte. Den enormen G-Kräften widerstand mein Körper zwar problemlos, indem meine Moleküle sich ständig an ihre ursprüngliche Form und Zusammensetzung erinnerten, aber angenehm war die Prozedur deshalb trotzdem nicht. Der Einsatz fand in der Nähe von Zittau statt, bekannt als Umschlagplatz für superschweres Helium und Uran aus dem Ostblock. Mein Team hatte den Auftrag, eine im Länderdreieck operierende kriminelle Bande unschädlich zu machen - möglichst ohne dabei Aufsehen zu erregen. Allerdings schien etwas mächtig schief gegangen zu sein, wenn Sören mich kontaktierte. Er selbst nahm eigentlich auch nicht mehr an solchen Außeneinsätzen teil, sondern koordinierte die Arbeit verschiedener Spezialeinheiten, die teils dem BND angehörten und teils mit ihm zusammenarbeiteten. Aber diese Operation erforderte viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung, die Sören als langjähriges Mitglied des Spezialteams um den Fantasten mitbrachte. Deshalb hatte sich der Vierundfünfzigjährige aus seinem Schreibtischsessel bequemt und war dem Befehl von ganz oben gefolgt, die Sache persönlich vor Ort zu leiten. Mein Eintreffen erfolgte mit einem Donnerschlag. Leider konnte ich diesen nicht mehr komplett verhindern, da die betreffende Rakete mit dem Sprengsatz außerhalb meiner Reichweite gestartet worden war und ich erst kurz vor der Detonation davon erfuhr. Immerhin gelang es mir mit einer gedachten Schutzblase, mein Team und die übrigen Menschen im Explosionsradius vor den schlimmsten Folgen zu bewahren. Dies galt bedauerlicherweise nicht für das Knalltrauma, das einigen Anwesenden vorübergehend das Gehör raubte. Zoey fehlte mir in diesem Moment sehr. Schock und Orientierungslosigkeit der Betroffenen waren so groß, dass viele davon nicht nur handlungsunfähig schienen, sondern zur Gefahr für andere wurden. Zum Glück traf dies nicht auf Sören und Marina sowie die Handvoll Elitesoldaten ihres Teams zu, die Schutzhelme getragen hatten. Für mehr als ein hastiges Hallo blieb allerdings keine Zeit. „Kümmert euch um die Leute und bringt sie hier weg, sobald es geht“, befahl ich. „Überlasst diese Idioten mir. Die können was erleben ...“ Um uns herum brannte die Welt. Die Sprengwirkung hätte ohne meinen Schutz ausgereicht, um das gesamte Gebäude und die umgebenden Wohnhäuser in Schutt und Asche zu legen. So wurde die Wirkung gedämpft, jedoch nicht aufgehoben. Die gedachte Blase war nachgiebig, so dass viel von der Energie verpuffte. Aber es blieb noch genug übrig, um alles außerhalb von ihr in Brand zu setzen: Bäume, Sträucher, geparkte Autos, Müllcontainer und einen Berg alter Autoreifen. So rasch wie möglich löschte ich diese Feuer und kümmerte mich hernach um die Übeltäter, die gerade zu entkommen versuchten. Sie kamen nicht weit. Und wie ich dem Team versprochen hatte, erlebten sie ihr blaues Wunder. Wer mich kennt, wird wissen, dass Blau seit etlichen Jahren und eigentlich nur noch gewohnheitsmäßig meine Lieblings-Kleider-Tarnfarbe war. Spaß beiseite, ich war mächtig sauer auf die Typen. Deshalb ließ ich sie ein wenig von dem spüren, was sie meinem Team und den vielen unschuldigen Zivilisten angedacht hatten. Natürlich entstand dabei kein ernsthafter Schaden. Aber das Gefühl, in einem brennenden Hubschrauber zu sitzen war sicherlich genug, um ihnen die Lust am Fliegen für längere Zeit zu rauben. Meine Fähigkeiten als Illusionist waren zwar begrenzt, doch für eine Handvoll Bösewichte reichten sie allemal. Ich sorgte dafür, dass ihr Pilot nicht vor Schreck das Fluggerät crashte, obwohl die Landung alles andere als sanft erfolgte. Unten empfing ich die völlig geschockten Gangster mit recht unangenehmen Fesseln (auch sie ‚brannten‘ auf der Haut) und der Nachricht, dass sie in ihr Heimatland ausgeliefert werden würden. Tschechien war für seine harten Gefängnisbedingungen bekannt, meiner Meinung nach gerade richtig für diese hirnlosen, skrupellosen Verbrecher. Nur um den jüngsten von ihnen tat es mir leid. Er schien mit höchstens zwanzig Jahren nur halb so alt wie der Rest. Zu jung, um sein Leben so sinnlos zu vergeuden. Bevor ich mich jedoch näher damit befassen konnte oder auch nur mehr als drei Worte mit meinem Team wechseln, traf schon der nächste Hilferuf bei mir ein. „Hallo Simon, hier ist in Kürze die Hölle los!“, brüllte mich eine japanische Frauenstimme an. Es war Mariko, die im Erdbebenforschungszentrum von Fukushima arbeitete. Mein innerliches Stöhnen wurde von ihren Worten ertränkt. Ein Beben sollte diesen so gefährdeten Ort bald erschüttern - mal wieder. In den vergangenen fünf Jahren war ich viermal dort gewesen. Das Kernkraftwerk, ehemals Haupt-Sorgenkind der Region, hatte längst ausgedient, aber das dafür entstandene Fusionskraftwerk, das zig Millionen Haushalte mit Strom versorgte, musste natürlich ziemlich genau an derselben Stelle stehen. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich die japanische Regierung, die einfach stur an dieser dummen Regelung festhielt. Traditionen! Während ich schon mit Höchstgeschwindigkeit gen Osten düste, informierte ich meine Eltern darüber, dass es doch etwas später werden würde als gedacht. Mein Schatz und auch ihr Vater wussten längst Bescheid. Ihnen brauchte ich solche Dinge nicht mitzuteilen, da es ohnehin nicht viel gab, was sie aus meinem Leben nicht erfuhren. Der umgekehrte Fall war konzentrationsintensiver - nämlich, wenn ich den beiden etwas verheimlichen wollte. Können die ihre Kraftwerke nicht endlich woanders hin bauen? Vielleicht solltest du ihnen einmal nicht helfen, damit sie es lernen. Timos Kommentar war nicht ernst gemeint. Genau wie ich konnte er sich viel zu gut an die Folgen des ersten Supergaus vor über dreißig Jahren in der Stadt erinnern. Damals hatte ich noch keine Beziehungen in diesem fernöstlichen Land geknüpft, so dass ich zu spät von dem Reaktorunglück erfuhr, das etliche Menschen ins Unglück gestürzt und so gewaltige Umweltschäden angerichtet hatte. Auch mit etwa neun- bis zehnfacher Schallgeschwindigkeit brauchte ich einige Zeit für den Weg nach Japan. Ich nutzte sie, um Mails zu lesen, zu beantworten, Freunde in aller Welt anzurufen, die Eindrücke von der Geburt schriftlich festzuhalten und Fotos von meinem Baby zu verschicken. Annie ... Sie stellte das größte Wunder dar. Eine absolut beeindruckende Bestätigung der Aussage, dass es das Wort ‚unmöglich‘ nicht geben durfte. Nicht für mich. Aber der Ausdruck ‚unglaublich‘ war schon beinah zu schwach, weil ich nämlich hundertprozentig zeugungs-unfähig war. Normalerweise. Meine besonderer Körper, den ich seit etwa fünfundzwanzig Jahren besaß und dessen Erinnerungsvermögen der Atome dafür sorgte, dass diese stets wieder zueinanderfanden, verbot eigentlich, dass auch nur der kleineste Teil davon abhandenkam. Zumindest nichts, was ursprünglich dazugehörte. So wie die hundertviermillionendreihundertzweiundsiebzigtausendsechshundertundzwölf Spermien, die sich darin befanden. Nun war es genau ein Spermium weniger. Das Wunder bewirkte, dass ich es nicht vermisste und seine Atome nicht danach drängten, wieder ein Teil von mir zu werden. Für diejenigen unter euch, die meine bisherige Lebensgeschichte nicht kennen, hört sich das vielleicht kompliziert an, verrückt oder zu abgefahren, um wahr zu sein. Aber wer das denkt, kann dieses Buch direkt zur Seite legen, denn es wird im Verlauf der Geschichte sicherlich nicht besser, sondern schlimmer. Ich empfehle in diesem Fall dringend, meine vorherigen Bücher zu lesen, um sich einen genaueren Eindruck von mir zu verschaffen, weil ich nämlich nicht bereit bin, alles noch mal durchzukauen. Wo war ich? Ach ja, in Japan. Natürlich kam ich nicht mehr ganz pünktlich, um einen Schutz für das Kraftwerk in Ruhe vor dem Beben zu errichten und mich dann um die panischen Anwohner zu kümmern. Leider war die Vorhersage zu kurzfristig - besser gesagt, ich war noch nicht so weit, dass ich rasch genug diese gigantische Entfernung zurücklegen konnte. Vielleicht, wenn die Technik mir den Weg zu einem schnelleren Antrieb ebnen würde, beziehungsweise meine Vorstellung bereit wäre, sich von den physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu lösen. Aber bisher schien keine der Optionen in Reichweite. Jedes Beben war etwas anders. Zudem hing es davon ab, ob anschließend Tsunami-Wellen folgten und wie hoch sie waren. Deshalb konnte ich nicht einfach einen wirksamen Universalschutz für das Gebäude erdenken und ihn auf unbestimmte Zeit stehen lassen. Außerdem waren gedachte Objekte von mir stets in Gefahr, wieder zu verschwinden, sobald mein Geist sich von meinem Körper löste. Andere Leute nennen das ‚Sterben‘, aber bei mir ist diese Trennung in jedem Fall temporär und keinesfalls ganz so dramatisch. In bestimmten Situationen führe ich den Zustand sogar absichtlich herbei, weil er mir in begrenztem Maße Zeitreisen ermöglicht und die Kontaktaufnahme zur spirituellen Welt erleichtert. Mit diesen reichlich vertrackten Infos kann ein Neuling vermutlich ebenfalls wenig anfangen, aber Zeit ist kostbar und meine musste ich jetzt dringend damit zubringen, den Menschen in Fukushima zu helfen. „Es fängt an“, bemerkte Mariko. „Wo steckst du?“ Sie klang nicht mal besonders aufgeregt. Vielleicht, weil sie mittlerweile ziemlich genau einschätzen konnte, wie lange ich für die Strecke brauchte, und wusste, dass ich nur noch zwei Minuten entfernt war. „Im Landeanflug“, bestätigte ich gleich darauf. „Soll es das Übliche sein?“ „Jaaaa, mach schnell, das wird gerade heftig!“ Indem ich mich auf sie konzentrierte sowie auf das Gebäude in einigen Kilometern Entfernung, spürte ich die Erdbewegung und machte mich schon daran, das Wichtigste mit einer dehnbaren, unzerstörbaren Verpackung zu schützen: die Fusionskammer. Noch lief das Kraftwerk - auch so eine unverantwortliche Risiko-Kalkulation, über die ich mich maßlos ärgerte. Es wurde nicht eher abgeschaltet, bis ernsthafte Schäden an der Hülle auftraten oder die Fusionsreaktion außer Kontrolle geriet. Dies konnte jederzeit geschehen, wenn die Erde derart schwankte! Sie verließen sich also vollständig darauf, dass ich das Gleichgewicht rechtzeitig herstellen würde und so die Stromversorgung des halben Landes sicherte. Nur mit dem lächerlichen Risiko behaftet, dass die Massenträgheit andernfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür sorgen würde, dass das komplette Gebäude samt Umgebung in einem mächtigen Feuerball verschwand. Kein irdisches Material hielt die gigantischen Temperaturen aus, die in einem Fusionsreaktor entstanden. Wenn das umgebende Magnetfeld versagte oder gestört wurde - tja, Shuryo, wie der Japaner sagen würde, zu Deutsch: Ende. Verdammt, dieses Beben war wirklich nicht von schlechten Eltern! Neben dem Kraftwerk, das ja ohnehin schon angeblich ‚erdbebensicher‘ gebaut war (obwohl ich es mindestens dreimal in der vergangenen Zeit vor dem Einsturz bewahrt hatte), gab es einige Hochhäuser, die an ihre Belastungsgrenze stießen. Ich landete gar nicht erst, sondern sauste in geringer Höhe kreuz und quer durch die Stadt und die angrenzenden Gebiete. Für einen Großteil der einfachen Hütten kam ich ohnehin viel zu spät - aber wenigstens war kaum jemand zu Schaden gekommen, weil die Warnung für die meisten Menschen rechtzeitig genug erfolgt war, um die öffentlichen Schutzräume aufzusuchen. Mehreren Wolkenkratzern, die über den üblichen Radius hinaus schwankten, gab ich zusätzlichen Halt, etliche Ein- und Mehrfamilienhäuser stabilisierte ich mit meiner Vorstellung. Beinah mechanisch beteiligte ich mich an der Befreiung von unter Trümmern eingesperrten oder in höher gelegenen Gebäudeteilen gefangenen Menschen. Zwei kleine Jungen holte ich aus einem halb eingestürzten Gebäude, wo sie sich im Dachgeschoss vor ihren verzweifelten Eltern versteckt hatten und bei dem nun die Treppe verschwunden war. Alltägliche Routine, bei der mir Zoey genauso fehlte, wie bei dem Raketenanschlag vorhin. „Schatz, werd schnell wieder fit - ich vermiss dich hier. Die Leute könnten deine Künste wirklich gut gebrauchen“, murmelte ich. Du schaffst das ganz gut alleine, kam ihr munterer Kommentar. Mir geht’s prima - aber Annie braucht mich jetzt mehr als die Welt da draußen. So ist das nun mal, wenn man Kinder hat ... Daran musst du dich gewöhnen. Ja, das stimmte sicherlich. Es würde für uns beide nicht leicht werden. „Acht Komma sieben auf der Richterskala“, lautete Lee Yangs Kommentar. Der Leiter des Kraftwerks war längst vor Ort und verließ mit der übrigen Belegschaft gerade wieder den Schutzbunker, als ich bei ihnen eintraf. Die Menschen waren jederzeit darauf gefasst, dass die Sirenen erneut ertönten, die vor Nachbeben warnten. Die Vorwarnzeit für diese Erschütterungen war wesentlich geringer, meistens keine fünf Minuten, während vor einem ersten Beben bis zu zwei Stunden blieben. Doch die größte Gefahr drohte nun aus Richtung Meer, wohin ich mich als Nächstes wandte. „Darf ich mitkommen?“, bat Mariko. „Ich wollte das schon immer mal machen - mit dir fliegen, meine ich.“ „Wirst du hier nicht mehr gebraucht?“, fragte ich erstaunt. Normalerweise war die routinierte Wissenschaftlerin unentbehrlich in einer solchen Notsituation. „Meine Leute wissen genau Bescheid. Sie werden die Sicherheitskräfte anleiten. Außerdem vertraue ich dir. Dein Schutz wird halten, auch wenn noch weitere Beben kommen. Ist es nicht so?“ Sie sah mich verschmitzt durch ihre von Lachfältchen umgebenen mandelförmigen Augen an. „Na dann steig ein.“ Einladend deutete ich auf mein Fluggerät. „Äh - wo denn?“, fragte sie verwirrt, tastete meterweit davon entfernt im Leeren. Schmunzelnd erzeugte ich in ihrem Kopf das Bild eines ultramodernen Helis. Sie stieß überrascht die Luft aus. „Wow! Wenn ich bloß wüsste, wie du das machst!“ „Die kombinierte Vorstellung und Illusion eines Hubschraubers - kein Ding.“ Rasch half ich ihr ins Cockpit. Die Angestellten, Erdbebenexperten sowie die Leute vom Sicherheitsdienst verfolgten das Schauspiel aus respektvollem Abstand mit typisch asiatischer Gleichmütigkeit. Lächelnd überlegte ich, dass es sicherlich noch genug unter ihnen gab, die bisher nicht in den Genuss eines fantastischen Fluges gekommen waren. Aber nun war Mariko dran, ganz eindeutig. Sie hatte es durch ihre jahrelange Treue mehr als verdient, so etwas Besonderes zu erleben, wie ihr nun bevorstand. Und dabei meinte ich nicht nur den Flug. „Magst du Rundumblick haben?“, fragte ich nach dem Start. Sie nickte nervös, also entfernte ich das Heli-Bild aus ihrer Wahrnehmung. Ein kurzer Aufschrei, das übliche Klammern an die trotzdem vorhandene Konstruktion, doch insgesamt verkraftete sie den Schock sehr schnell. Wir bewegten uns zielstrebig in Richtung Küste, mit deren Wache und Tsunami-Warndienst ich längst Kontakt aufgenommen hatte. Nun galt es, die Folgen der Riesenwellen aufzufangen, bevor sie die bewohnten Küstenabschnitte trafen. Je nach Größe und Gewalt der Wassermassen war dies eine knifflige Angelegenheit. Die Abwendung der Gefahr war stets Stückwerk und auf einen relativ kleinen Radius beschränkt. Das Wissen darum, dass jede Grenze meiner Reichweite und Kraft selbst gesetzt war, half nur unwesentlich dabei, sie zu erweitern. An sich war der Gedanke nicht stark genug, sie aufzuheben, ähnlich dem Versuch, sich selbst zu tragen. Auch dem kräftigsten Menschen gelingt dies nicht ohne Hilfsmittel - obwohl er physisch gesehen eine wesentlich schwerere Masse heben kann. Blöder Vergleich. Doch wie sollte ich es sonst erklären? Jedenfalls blieb nicht mehr viel Zeit, sich ausgefallene Maßnahmen zu überlegen: Die erste Welle rollte an. Sie war - wie nach der Stärke des auslösenden Bebens zu erwarten - gewaltig. Aufhalten konnte ich sie nicht, umlenken nur in geringem Umfang. Aber ich konnte sie auflaufen lassen, ihre Kraft durch eine physikalisch geschickt geformte Wand brechen. Leider nur auf sehr begrenztem Raum. Ich kam mir vor wie David im Kampf gegen Goliath, nur in einem völlig anderen Maßstab. Um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, musste ich so dicht wie möglich ans Geschehen heran. Ich ließ Mariko deshalb allein im Heli zurück und sprang kurzerhand dort ab, wo die Welle den größten Schaden anrichten und die meisten Opfer fordern würde - aufs Ganze gesehen. Einzig Kalkulation und Berechnung zählten jetzt. Für Gefühle und Gedanken an die vielen Menschen, die es außerhalb dieses Radius‘ treffen würde, war kein Platz, weil die Konzentration auf das Werk jede Unze meines Selbst und Willens erforderte. Einsam stand ich am Strand. Ein Zwerg, auf den sich eine gigantische Wasserwand mit unglaublicher Wucht und Geschwindigkeit zubewegte. Sie war bestimmt zehn Meter hoch. Zumindest im unmittelbaren Umfeld hielt sich kein weiteres lebendes Wesen auf - alle hatten Schutz in höher gelegenen Gebieten gesucht oder waren auf die Dächer ihrer Häuser gestiegen. „Was machst du da unten?“, jammerte meine Begleiterin nun über unsere gedachte Funkverbindung und hörte sich ziemlich panisch an. „Bist du wahnsinnig geworden? Glaubst du, du kannst diese Monsterwelle von da aus anhalten? Komm sofort zurück und lass mich hier nicht allein!“ Ich antwortete nicht, da ich die komplexe Berechnung des optimalem Krümmungs- und Steigwinkels für meinen „Wellenbrecher“ durchführte. Eine so hohe Tsunamiwelle hatte ich noch nie live gesehen! Jedes bisschen Energie verwendete ich nun darauf, diese Wand so weit wie möglich zu beiden Seiten auszudehnen und gleichzeitig nachgiebig und bombenfest zu gestalten. Hilf mir bitte! Mein mentaler Hilfeschrei wurde mit einer stützenden Hand beantwortet, die mich aufrecht hielt und mir Kraft gab, als die Wassermassen praktisch über mir zusammen-stürzten, mit voller Wucht an meinen Schutzwall brandeten. Es war sicherlich ein spektakulärer Anblick, der sich Mariko bot. Ich hörte ihren Aufschrei durch das Tosen der Urgewalten, denen ich mit der Unterstützung meines Bruders trotzte. Unendliche Momente dauerte das Anbranden und Aufbegehren dieses Elements, dessen himmelhoch geschleuderte Mengen sowohl mich als auch die gesamte Umgebung mit prasselndem salzigem Niederschlag ertränkten. Dann war es vorbei. Das Wasser zog sich zurück, beinah ebenso schnell, wie es gekommen war. Ich wusste, dass es rechts und links von meiner Barriere gewaltige Schäden gab. Gebäudeteile, Fahrzeuge, Bäume und alles, was nicht felsenfest gegründet war, wurde ins Meer gesogen, nachdem es von dieser furchtbaren Welle zermalmt worden war. Es hinterließ eine tiefe Erschütterung und Narbe in mir - dort, wo es schon zu viele davon gab. Meine Kraft war jedoch dermaßen erschöpft, dass ich Mühe hatte, den Heli mit seinem Passagier einigermaßen sanft zu Boden zu bringen, bevor ich zusammenbrach.


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