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Fantasy Bücher
Buch Leseprobe Der Fantast u die letzten Visionen, Michaela Göhr
Michaela Göhr

Der Fantast u die letzten Visionen



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Letzte erste Worte


Mein erster Versuch, diese Welt endgültig zu verlassen, scheiterte kläglich an der Tatsache, dass ich weiterhin gebraucht wurde. Und das, obwohl ich es großspurig öffentlich verkündet hatte! Ihr fragt euch zu Recht, warum ich es an dieser Stelle noch einmal erwähne, wo es doch mein Schicksal zu sein scheint, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Nun, ihr könnt mir glauben, dass ich den gleichen Fehler nicht zweimal begehe und mir diesmal absolut sicher bin. Dies sind tatsächlich meine letzten Worte. Zumindest die letzten, die je ein Mensch von mir lesen wird. Um ehrlich zu sein, war mir mein Irrtum so peinlich, dass ich allein aus diesem Grund am liebsten darauf verzichtet hätte. Doch ich gab meinem Bruder das Versprechen, auch dieses schwere Stück Weg schriftlich festzuhalten – und ich wäre nicht mehr ich selbst, wenn ich nicht alles daran setzen würde, es zu halten. Dennoch habe ich bis zum letzten Augenblick gezögert, gezaudert, mit mir gerungen und gezweifelt, ob es richtig ist, der Welt diese Worte zu zeigen. Selbst jetzt, nachdem ich weiß, dass es notwendig ist, gibt es einen Teil von mir, der sie am liebsten hierlassen möchte - an dem Ort, wo sie als bloße Erinnerungen keinen Schaden anrichten können, wo alles bleibt, was jemals wichtig war, ist oder werden wird. Unvergessen. Lebendig. Gegenwärtig. Im Ursprung allen Seins. Denn dorthin bin ich nun endlich zurückgekehrt. Ich bin froh und unendlich dankbar, dass ich die vergangene Zeit erleben durfte. Jede Sekunde, jeden Augenblick - ob schön oder hässlich, geliebt oder gehasst. Nichts davon werde ich jemals vollkommen vergessen. Denn ein menschliches Leben, JEDES Leben stellt eine wertvolle Bereicherung dar. Wie ein Gefäß mit einer unendlich kostbaren Flüssigkeit, von der man nicht einen Tropfen verschütten oder sinnlos verschwenden möchte. Doch nichts bleibt, wie es ist.


Leben bedeutet Veränderung.


Veränderung bedeutet, dass etwas Neues beginnt.


Und für Neues muss Altes weichen.


So war es und wird es immer sein. Zumindest liegen diese Ereignisse so weit in eurer Zukunft, dass meine Worte lediglich fantastische Möglichkeiten für euch darstellen, nicht mehr und nicht weniger. In diesem Sinne wünsche ich euch spannende Lesemomente und hoffe, dass ihr mich in guter Erinnerung behaltet - ganz gleich, welche Bedeutung ihr dem vorliegenden Werk beimesst. Denn ich weiß, dass es euch nicht völlig unberührt lassen wird. Nicht, wenn ihr mir bis hierher gefolgt seid und an meinen Abenteuern teilgenommen habt. Und auch nicht, wenn euch das Schicksal der Menschheit ebenso sehr am Herzen liegt wie mir.


In Liebe euer Simon alias Mic  


 


Teil 1 Teuflische Pläne


 


1.


″Bringst du mich zur Schule?″


″Warum? Du hast eine Monatskarte für die E-Tram. Ich bin nicht dein Fahrdienst.″


″Ich dachte ja auch, du fliegst mich hin …″


′Nun mach schon, ich muss mit dir reden! Außerdem habe ich den Schulstoff für die nächsten vier Wochen bereits gestern Nachmittag durchgekaut. Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich da weiterhin täglich hingehe?′


Der gedanklich hinzugefügte Kommentar des jüngsten Familienmitgliedes am Frühstückstisch war wesentlich überzeugender und erinnerte mich daran, dass Debbie einen brisanten Auftrag hatte, bei dem ich sie bestmöglich unterstützen sollte. Also seufzte ich ergeben und meinte: ″Ausnahmsweise - aber nur, weil ich eh gleich losmuss.″ Es war nicht gelogen. Ich musste immer irgendwohin. In diesem Moment gab es zwar keinen Notfall, der mich zur Eile zwang, doch ein internationales Medizinertreffen in Quebec stand auf dem Tagesplan. Auf dem Weg konnte ich noch bei einigen alten Bekannten vorbeischauen, die ich länger nicht gesehen hatte. Aber vielleicht änderten sich diese Pläne gerade? Die Andeutungen meines Schützlings ließen den Schluss zu. Sie hätte jederzeit mit mir reden können. Auch wenn wir uns nur selten sahen. Für Kontakt zu mir brauchte sie nicht einmal ein Com, da die gedankliche Verbindung zwischen uns auf dem gesamten Erdball funktionierte - und sogar darüber hinaus, beziehungsweise auch jenseits davon. Dass sie es bisher nicht getan hatte, bewies mir eigentlich schon, dass sie nicht bloß reden wollte, sondern mich gleichzeitig für etwas Wichtiges brauchte. Und dass dies vermutlich mehr oder weniger unangenehm für mich sein würde. Es war nur ein vages Gefühl, doch es trog mich selten. Mein Bruder Gab beherrschte die mentale Beeinflussung seiner Umgebung perfekt. Bei mir funktionierten diese Psychotricks jedoch nicht zuverlässig. Ich wusste, dass er mir quälende Gedanken oder Sorgen möglichst lange ersparen wollte. Deshalb teilte er mir derartige Dinge immer erst im letzten Moment mit und verschloss sich vor mir, so gut er konnte. Allerdings vermochte er es nicht vollständig – so wenig, wie es mir gelang, ihn komplett aus meinem Innern auszusperren. Wir gehörten zusammen, waren Teil voneinander – schon immer. So nah beieinander, mit demselben Schicksal, ja sogar beinah mit dem gleichen menschlichen Erbgut versehen, gab es einfach kein Entrinnen voreinander. Das mit der Verwandtschaft lag daran, dass er seit zehn Jahren im Körper von Debbie steckte, dem einzigen Kind meiner Tochter Anni. Damit war er de facto meine Enkelin, was mich manchmal verwirrte, da er innerlich noch immer derselbe Gabriel war und unser mentaler Kontakt sich kein Stück geändert hatte. Trotzdem schien er sich als Mädchen ziemlich wohl zu fühlen. Ich selbst kam mir mittlerweile unglaublich alt vor. Mein irdisches Leben währte nun schon knapp einhundert Jahre – viel zu lange für meinen Geschmack. Die meiste Zeit davon hatte ich in der schwer zu erschütternden Überzeugung gelebt, ein Mensch zu sein. Rein physikalisch gesehen war das auch so, obwohl mein Körper weder alterte noch sich dauerhaft verändern ließ. Dennoch wurde ich ganz normal geboren, wuchs bei liebevollen Eltern auf, ging zur Schule, hatte Freunde und gründete irgendwann sogar eine Familie. Meine besonderen Fähigkeiten, die mich von klein auf begleiteten, nahm ich als Geschenk, das ich möglichst sinnvoll einsetzen sollte. Erst nach der Geburt meiner Enkelin erfuhr ich ziemlich schmerzhaft von meiner wahren Identität als Himmelsbote Mic, obwohl dies eigentlich nicht vorgesehen war. Seitdem sehnte ich mich zunehmend nach meiner eigentlichen Heimat, dem Zentrum. Ihr würdet diesen Ort vielleicht Himmel, Paradies oder Jenseits nennen. Nüchtern betrachtet stellt er Ursprung, Start und Ziel allen Seins dar, befindet sich praktisch überall und ist dennoch schwer zu erreichen. Obwohl ich meinte, mich vollständig an mich selbst zu erinnern, gab es weiterhin etliche Dinge, die mir verborgen blieben. Vermutlich, weil mein menschliches Gehirn mit der Datenfülle heillos überlastet gewesen wäre. Da meine Überzeugung und Vorstellung bestimmte, wer ich war und ein Teil von mir noch immer in dem Wunschdenken festhing, menschlich zu sein, blockierte ich den Zugang zu meinem Gedächtnis sicherlich selbst. Reiner Selbstschutz, wie ich vermute. Ohne einen Anstoß von außen gelang es mir nur selten, in diese Bereiche vorzustoßen. Vor einigen Wochen wurde Gab praktisch über Nacht mit der kompletten Erinnerung an seine Existenz als Erzengel überfallen. Damit bekam er auch die volle Kontrolle über die zugehörige Kraft zurück. Für mich eine willkommene Gelegenheit, mich vom Dasein als Simon zu verabschieden. Allerdings bat mich unser gemeinsamer Bruder Jesh, den ich als Anführer unseres Trios respektiere, um eine kurzfristige Erdaufenthaltsverlängerung. Etwas, das ich ihm unmöglich abschlagen konnte – auch, da es um die dringend benötigte Unterstützung meines Bruders ging. Seitdem hatte sich unsere Beziehung unglaublich vertieft. Ich wohnte also noch immer im Haus meines Schwiegersohns in Westkalifornien und rettete von hier aus da und dort ein paar Leben, während gleichzeitig anderswo mindestens ebenso viele zerstört wurden. Dies war größtenteils dem Umstand zu verdanken, dass wir uns mitten im Zeitalter der sogenannten ‚apokalyptischen Zeichen‘ befanden – den Vorboten des angeblichen Weltuntergangs. Keiner konnte oder wollte mir bisher sagen, wann, ob und wie dieses Ereignis stattfinden sollte. Meine Vermutung (und Hoffnung!) war und blieb, dass es ein rein metaphorischer Untergang sein würde. Bei Gelegenheit musste ich mich näher mit der Sache beschäftigen, aber bisher hatte ich alle Hände voll damit zu tun gehabt, meinen Job zu erledigen. Zum Glück lebten wir in einer der ruhigsten Ecken der Welt, in der beinah alles seinen normalen Gang lief. Die Menschen gingen zur Arbeit, zur Schule, begannen mit der Ausbildung oder dem Führerschein, pflanzten Gemüse an und verfolgten kopfschüttelnd die Nachrichten, in denen beinah täglich neue Hiobsbotschaften die vorherigen aus den Headlines verdrängten. Kaum jemand nahm die Warnungen von Propheten, Sektenanhängern und gläubigen Christen ernst. Wie auch? Mal ganz ehrlich: Würdet ihr einen Menschen ernstnehmen, der mit einem selbstgebastelten Schild am Straßenrand steht, auf dem in ziemlich krakeliger Schrift ‚Tut Buße – das Ende ist da‘ zu lesen ist? Wenn ich so jemanden traf, drückte ich ihm meistens ein paar Dollar in die Hand und bat ihn, sich noch schnell ein Eis zu kaufen oder was trinken zu gehen, anstatt sinnlos rumzustehen. Und manchmal hatte ich sogar Erfolg mit der Aktion – sofern ich dazu kam, sie dem Betreffenden zu erklären. „Du verwöhnst unsere Tochter zu sehr, Dad“, murrte Annie. „Warum soll sie nicht mit der Bahn zur Schule fahren, wie alle anderen Kinder auch?“


„Normalerweise tut sie das doch“, gab ich zurück. „Ich habe bloß den Verdacht, dass sie vorher noch einen Abstecher woandershin machen möchte. Stimmt´s?“


„Hmm. Du hast mich ertappt“, gab das Mädchen zu und funkelte mich an.


′Du weißt ganz genau, dass wir meinen Eltern nichts erzählen dürfen. Was soll ich jetzt sagen?′


Ich schmunzelte. Sie wäre in der Lage, ihnen ALLES beizubiegen, sie würden ihr glauben. Wie konnte jemand, der solche Kräfte in sich barg, so wenig fantasievoll damit umgehen?


′′Und ich dachte immer, ich könnte schlecht lügen ... Erzähl ihnen was vom Pferd!′ 


Stotternd brachte die Zehnjährige, die einen Erfahrungsschatz jenseits menschlicher Vorstellungskraft in sich trug, eine Geschichte hervor, in der es wirklich um ein Pferd ging, das sie angeblich reiten und pflegen durfte.


′So wörtlich war das zwar eigentlich nicht gemeint, aber ok, es ist deine Story ... Mädchen und Pferde passen auf jeden Fall gut zusammen.′


„... und wenn ich mit der Tram fahre, komme ich nicht mehr rechtzeitig zur Schule“, schloss sie. „Sag das doch gleich!“, strahlte meine Tochter und drückte ihrer eigenen einen Schmatzer auf die Wange. „Wir haben nichts gegen ein Pflegepferd, so lange du deine Schulaufgaben nicht dafür vernachlässigst. Aber bisher brauchen wir uns da sicherlich keine Sorgen zu machen.“ Ich unterdrückte einen Lachanfall. Der Tag, an dem Gabby – wie ich sie insgeheim gern nannte - den Schulstoff der fünften Klasse nicht mehr auf die Reihe bekäme, wäre vermutlich der letzte, den die Lehrer ihrer Schule erleben würden. Doch so weit sollte es nicht kommen. Einerseits hatte bereits ihre menschliche Intelligenz ausgereicht, um den Stoff der Grundschule lässig zu bewältigen, andererseits waren ihre mentalen Fähigkeiten zusammen mit ihrer Erinnerung an ihr wahres Ich exponentiell ins Unendliche geschossen und ermöglichten es ihr theoretisch mit Leichtigkeit, als absolutes ‚Wunderkind‘ aufzutreten. Praktisch hielten wir das für keine gute Idee, da bisher niemand außer uns beiden die leiseste Ahnung von ihren Fähigkeiten sowie ihrer eigentlichen Aufgabe hatte, und dies so lange wie möglich so bleiben sollte.


„Also los, Pferdenärrin – auf zu Gonzo, dem hübschesten Rappen der Welt“, grinste ich. ′Hoffentlich kommen deine Eltern nicht auf die Idee, dein Pferd mal persönlich kennenlernen zu wollen ... Sonst musst du dir wohl oder übel was für sie einfallen lassen!′ 


Sie sparte sich eine überflüssige Antwort. Bei Bedarf zauberte sie jedes beliebige Pferd herbei. Mit etwas Hilfe von mir konnte man sogar prima darauf reiten.


„Also gut, was möchtest du?“


Debbie winkte ihrer Mutter vom Helikopter aus, in Schuluniform und mit Rucksack bewaffnet. Erst als wir uns in sicherer Höhe befanden, antwortete sie auf meine Frage. „Du musst mir helfen, den Schwarzen Mann zu finden.“


Ich keuchte. Mit allem hatte ich gerechnet – nur nicht damit. „Du meinst ... Black?“, vergewisserte ich mich heiser, obwohl es völlig unnötig war.


„Du weißt genau, von wem ich rede“, erwiderte sie erwartungsgemäß. „Ich weiß, dass ihr nicht gerade die besten Freunde seid, aber eventuell ist dir aufgefallen, dass er schon seit geraumer Zeit verschwunden ist.“


Um ehrlich zu sein, hatte ich in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren keinen einzigen Gedanken an diesen Albtraum verschwendet und war froh, es nicht mehr nötig zu haben. „Wie kommst du darauf?“, fragte ich erstaunt. „Er hat dich nicht belästigt, oder?“


„Nein. Aber wenn ich unseren Bruder richtig verstanden habe, ist genau das beunruhigend. Nicht für die Kinder, die auf seine ‚Geschenke‘ durchaus verzichten können, sondern für ihn selbst.“


„Ich finde, der Saukerl kann gut allein auf sich aufpassen“, knurrte ich. „Wenn er beschlossen hat, sein scheußliches Geschäft auf der Erde einzustellen – umso besser! Freu dich und denk nicht mehr an ihn, würde ich sagen.“


„Du weißt genau, dass es nicht so läuft“, gab sie tadelnd zurück. „Glaubst du, dass deine emotionale Einstellung oder persönliche Meinung irgendwie zählt? Auch wenn ihr zwei nicht die dicksten Kumpels seid, hilfst du mir hoffentlich, ihn zu finden. Er wird noch gebraucht, Mic!“


„Wofür denn? Um den Kindern dieser Welt noch mehr Angst und Pein zu bescheren, als sie momentan ohnehin schon erleiden? Ich wusste nicht, dass er verschwunden ist – aber von mir aus kann es so bleiben!“


Mein junger Passagier seufzte. Darin lag so viel Ernsthaftigkeit, dass es auf einen Außenstehenden belustigend gewirkt hätte. Mir machte dieses Geräusch bewusst, dass ich überreagierte. Also nahm ich mich zusammen und meinte beschwichtigend: „Ok, ich lasse die persönliche Schiene jetzt nicht mehr zu. Also erzähl schon! So, wie es sich anhört, steckt Blacky in Schwierigkeiten und wir sollen ihn da rausholen, stimmt’s?“


„Richtig. Jesh geht davon aus, dass Lu ihn nach eurem Gespräch eingesperrt hat. Deine Andeutung, dass der alte Geist sie hintergangen haben könnte, hat sie anscheinend ernstgenommen. Nur leider kam sie wohl nicht mehr dazu, ihn näher zu interviewen oder wieder freizulassen, bevor sie selbst aus ihrem Heim verbannt wurde. Also blieb er, wo er war – ohne Nahrung oder Chance auf die Erlösung, auf die er nun schon seit Ewigkeiten hofft.“


„Du erwartest jetzt nicht, dass ich Mitleid mit ihm habe, oder? Seine ‚Nahrung‘ besteht immerhin aus kindlicher Angst, die er selbst durch Albträume erzeugt! Ich denke, dass unsere Gegenspielerin da ausnahmsweise was Gutes bewirkt hat ...“


Die Bemerkung klang härter, als mein Innerstes sich anfühlte. Langsam dämmerte mir, was Gabs Worte bedeuteten. Auch wenn der Schwarze Mann und ich in der Vergangenheit erbitterte Gefechte ausgefochten hatten und ich ihn als einen meiner ärgsten Widersacher ansah: Ein solches Schicksal wünschte ich niemandem. Der Ort, an dem er sich vermutlich seit über dreißig Jahren befand, war buchstäblich die Hölle – und zwar seine persönliche. Luzifer selbst, von meinen Brüdern und mir mit dem Spitznamen Lu bedacht, würde dafür gesorgt haben, dass er sich an dem Ort so unwohl wie möglich fühlte. Da er dort keinen Nachschub an Angst erhielt – dem menschlichen Gefühl, von dem er sich dank eines uralten Fluchs alleinig ernähren musste – vegetierte er sicherlich äußerst qualvoll vor sich hin.


„Nein. Aber ich erwarte, dass du dich professionell verhältst. Offensichtlich schlägt gerade deine menschliche Seite voll zu – die ist momentan mehr als hinderlich, Mic! Oder sollte ich dich besser Simon nennen?“


„Jetzt hör auf zu klugscheißen – erzähl mir lieber, wie wir es anstellen sollen, Black da rauszuholen! Soweit ich weiß, ist Lus Paradies seit knapp dreißig Jahren dicht.“


„Für sie selbst schon. Für jeden anderen steht der Ort weiterhin offen. Bloß begibt sich kaum jemand freiwillig dorthin.“


„Und was schlägst du vor, sollen wir jetzt tun? Ich glaube kaum, dass wir mit dem Heli weit kommen.“


Wir bewegten uns die ganze Zeit über bereits in gemächlichem, gleichmäßigem Tempo Richtung Norden – dorthin, wo meine Verabredung an diesem Nachmittag anberaumt war.


„Ob du landest oder uns direkt in die Hölle beförderst, ist mir eigentlich ziemlich egal“, gab meine Copilotin trocken zurück. „Mein Problem ist eher, dass ich nicht weiß, ob und wie ich diesen Körper verlassen kann, ohne ihm zu schaden. Und da ich ihn noch ’ne Weile brauchen werde, sollte ich nicht so sorglos damit umgehen wie du.“


„Oh, na klar!“ Mir wurde bewusst, dass ich bisher keinen einzigen Gedanken an diesen Umstand verschwendet hatte. Der Geist meines Bruders war der eines Erzengels, doch die Hülle, in der er momentan steckte, war äußerst zerbrechlich. Dennoch hatte ich Jeshs Worte noch genau im Kopf, der uns beiden die offizielle Erlaubnis gegeben hatte, das Zentrum aufzusuchen, wenn wir Sehnsucht danach verspürten (was eigentlich ständig der Fall war). Bisher waren wir nur noch nicht dazu gekommen. Meinen Körper konnte ich seit beinah einem dreiviertel Jahrhundert problemlos verlassen und wieder aufsuchen, indem ich ihn durch physische Gewalt praktisch dazu zwang, meinen Geist vollständig freizugeben. Etwas rabiater ausgedrückt: Ich tötete mich selbst. Es hatte mich ein hartes Stück Arbeit, Nerven und jede Menge Zeit gekostet, um diesen Weg herauszufinden. Doch er funktionierte für mich tadellos, wobei sich die Nebenwirkungen meistens in Grenzen hielten. Immerhin alterte ich nicht und jegliche Verletzung ließ sich gedankenschnell reparieren. Ich fragte mich, warum dies bei Gab nicht so vorgesehen war, wenn seine Aufgabe darin bestand, solche für Menschen unmöglichen Missionen durchzuführen! Dennoch musste es für ihn einen Weg ‚nach Hause‘ geben – und zwar einen, der nicht Debbies physischen Tod erforderte. Wir befanden uns mittlerweile über einsamem, dicht bewaldetem Gebiet, in dem ich uns sorgsam zu Boden brachte. Wir genossen ein wenig die Ruhe der Naturkulisse, während jeder von uns in seinen eigenen Erinnerungen nach einer Lösung kramte. Schließlich murmelte meine Begleiterin: „Ich finde einfach nichts Passendes. Aber Jesh hat gesagt, du könntest mir helfen. Also bitte ...“


 


„DER ist gut!“, stöhnte ich. Wie oft hatte ich im vergangenen Jahrhundert von einem unlösbar scheinenden Problem gestanden und mir das Hirn zermartert! Letztlich gab es für alles eine Lösung. Manchmal half es, die Dinge einfach auszuprobieren anstatt darüber zu theoretisieren. „Ich nehme an, du hast es selbst schon versucht?“, fuhr ich vorsichtig fort und blickte sie forschend an, tastete nach ihren Gedanken und Gefühlen. Sie hätte es mir nicht verheimlicht, wenn sie dort gewesen wäre. Oder doch? Aber ich kam sofort zu dem Schluss, dass sie es nicht getan hatte. Allein mein Ansinnen in diese Richtung wies sie empört zurück. Tief atmend schüttelte sie den Kopf. „Wo denkst du hin! Das ist alles noch so frisch ... Vor nicht mal einem Monat war ich noch ein ganz normales Mädchen mit einer liebevollen Familie, das zur Schule ging, Freundinnen und Hobbys hatte ... Ok, mein Opa sah aus wie fünfundzwanzig, konnte verrückte Dinge tun, mit mir ohne Worte sprechen und in unsichtbaren Flugobjekten durch die Gegend fliegen. Das war vielleicht nicht normal, obwohl ich dich NIE für das gehalten hätte, was du eigentlich bist ... Plötzlich, quasi über Nacht, wurde ich mit einem riesigen Berg Erinnerungen erschlagen ... Ich hatte genug zu tun, mich neu zu sortieren, mit dem klarzukommen, was da auf mich einstürzte, mich in diese absurde Rolle einzufinden ... und damit zu leben, dass du gleichzeitig mein Opa und mein Bruder bist. Man erfährt nicht alle Tage, dass man als Engel im Körper eines zehnjährigen Mädchens steckt und dazu auserkoren ist, die Welt zu regieren. Weltherrschaft ... Hallo? Von hier aus? Und gleichzeitig ihren Untergang vorbereiten? HA!“


Sie lachte bitter. „Was hab ich mir bloß dabei gedacht, diesem Wahnsinn zuzustimmen?“


Ich nahm sie tröstend in den Arm. Sie ließ es zu – ein Zeichen dafür, wie verzweifelt sie war, wie sehr sie sich nach körperlicher Nähe sehnte.


„Ich bin so froh, dass du noch da bist“, flüsterte sie beinah unhörbar, indem sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. „Ohne dich würde ich es niemals schaffen ...“


Eine Welle ihrer Zuneigung überschwemmte mich, ließ mich mal wieder spüren, wie sehr sie mir andernfalls gefehlt hätte. Ich lächelte, gab ihr das zurück, was sie in diesem Moment am dringendsten brauchte: Zuversicht.


„Wir schaffen es gemeinsam – bis ans Ende der Welt und noch weiter“, meinte ich überzeugt. „Lass es uns zusammen versuchen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, kenne den Weg in- und auswendig. Vielleicht kann ich dich führen, wenn du es zulässt. Gleichzeitig schaue ich, ob es deinem Körper weiterhin gutgeht. Vertraust du mir?“


„Aber sicher ...“


Wir machten es uns nebeneinander auf dem Waldboden bequem. Ich spürte, wie schnell ihr Herz schlug, dass sie alle Anzeichen von Aufregung, ja sogar Angst zeigte.


„Als Erstes musst du die Kontrolle über deine Körperfunktionen erlangen“, verlangte ich. „Atme tief, konzentriere dich auf den Herzschlag, merke, wie er langsamer wird ...“


Sie tat es ohne Widerrede. Schon kurz darauf merkte ich, wie sie ruhiger wurde, beherrscht und diszipliniert. Ihr Geist war perfekt geeignet, diesem Körper seinen Willen aufzuzwingen. Auch wenn sie nicht jedes Molekül kontrollieren konnte – zumindest gelang es ihr bei den hauptsächlichen Funktionen. Noch immer wusste ich nicht genau, worauf das hinauslaufen würde. Mir schwebte vor, meinen eigenen Körper zu verlassen und dann zu schauen, in wieweit ich den Geist meines Bruders dazu überreden konnte, sich von dem seinen zu lösen, ohne dass dieser das Atmen einstellte. Sobald ich merkte, dass Debbie sich vollkommen unter Kontrolle hatte, vollzog ich den nötigen Schritt, indem meine Vorstellung mechanisch die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns unterband. Das wiederum sorgte dafür, dass ich innerhalb von Sekunden die Verbindung zu meinem Körper verlor. Dieses Verfahren funktionierte seit so langer Zeit zuverlässig, dass es regelrechte Routine darstellte. Ich erwartete, Gab eingesperrt in seiner zierlichen Hülle zu entdecken, doch er stand lächelnd direkt neben mir.


„Es war ganz leicht“, bemerkte er, augenscheinlich prächtig über meine Verwirrung amüsiert. Die Brust des Mädchens vor uns hob und senkte sich gleichmäßig – es schlief tief und fest.


„Genau das ist das Geheimnis“, nickte mein Bruder, indem er meine Gedanken dazu auffing. Ich hatte es halt nur noch nie versucht. Eigentlich müsste es bei dir auch funktionieren ... zumindest jetzt, wo du deine Erinnerung komplett wiederhast.“


Ich unterdrückte einen unschönen Laut und knurrte: „Schön, dann können wir ja jetzt starten.“


Ich wandte mich ohne ein weiteres Wort um, machte den Schritt, der uns von der anderen Dimension trennte. Auch ohne hinzusehen wusste ich, dass mein Begleiter mir folgte. Meine negativ geladenen Gedanken daran, wie viel Mühe und Umstand es mich gekostet hatte, einen halbwegs ‚sauberen‘ Weg hierher zu finden und wie leicht es Gab dagegen fiel, wurden direkt von der ernüchternden Erkenntnis neutralisiert, dass ich keinen Plan hatte, wie wir von hier aus zu dem gewünschten Ort gelangen sollten.


„Du weißt nicht zufällig ...“, begann ich, indem ich mich ratlos umsah. Doch das Nichts, das uns umgab, war freundlich, vertraut und hell wie eh und je. Es barg keinerlei Hinweise auf einen Weg zur ‚anderen Seite‘.


„Nein. Aber ich hatte gehofft, dass du einen für uns bahnst.“ Neidlos musste ich anerkennen, dass mein Bruder wesentlich besser und schneller damit zurechtkam, die Beschränkungen des irdischen Daseins abzuschütteln. Mir fiel das ‚Umswitchen‘ auch nach wiederholten Besuchen in dieser Welt immer noch schwer.


„Mach dir nichts draus, nach meinem letzten Erdaufenthalt hab ich fast ein Jahrzehnt gebraucht, um mich komplett wieder daran zu gewöhnen“, war sein tröstlicher Kommentar zu meinen unausgesprochenen Worten. Anstatt darauf einzugehen, justierte ich meine Vorstellung lieber auf das Wesentliche. Wege zu schaffen war eigentlich sehr einfach. Dazu war ich praktisch gemacht. Natürlich gab es auch einen in die Hölle – und er führte durch diese gedachte Tür dort.


„Immerhin hast du es geschafft“, nickte mein Begleiter anerkennend. „Zwar ziemlich mickrig für ein so wichtiges Portal, aber Hauptsache, wir gelangen dadurch zum Ziel.“


Momentan war mir nicht nach Scherzen zumute. Der Gedanke daran, was uns auf der anderen Seite erwartete, krampfte mein Innerstes zusammen.


„Nächstes Mal lasse ich dir den Vortritt“, gab ich deshalb eher mürrisch zurück.


„War doch nur Spaß ... ich hoffe, du hast deinen Humor nicht komplett verloren.“


„Nein“, seufzte ich und öffnete die Tür. Dahinter war es wie erwartet finster. „Aber ich hab Schiss.“


„Ich doch auch“, murmelte er. „Wenigstens sind wir zusammen.“


Nie war ich dankbarer für seine Gesellschaft als in diesem Moment. Tief atmend schloss ich zu ihm auf. Seite an Seite traten wir entschlossen über die Schwelle.


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