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Fantasy Bücher
Buch Leseprobe Das blaue Portal, Peter Lancester
Peter Lancester

Das blaue Portal



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22. September 1981


Friedrich haßte die windschiefe, ausgetretene Steintreppe. Er haßte sie mindestens so sehr, wie er sie fürchtete. Doch sie war der einzige Weg nach unten.


Um den Bakelit-Drehschalter für das Licht zu erreichen, mußte er die ersten beiden Stufen im Halbdunkel hinabsteigen. Besser drei, um sich nicht vorbeugen zu müssen; und das wollte Friedrich ganz sicher nicht. Vor zehn Jahren hatte er schon einmal das Gleichgewicht verloren und war erst zwölf Stufen tiefer hängengeblieben. Da, wo die Treppe einen Knick nach rechts machte. Oberarmbruch. Und er hatte noch Glück gehabt: Die Treppe besaß eigentlich zwanzig Stufen.


Das hatte so etwas wie eine Kerbe im Unterbewußtsein hinterlassen: Schon ein flüchtiger Gedanke an den kurzen Moment der Schwerelosigkeit im Dunkeln reichte, um Friedrichs Herz schneller schlagen zu lassen.


Die Treppe endete im Weinkeller, einem kreisrunden Raum mit Kuppelgewölbe. Das ehemalige Burgverlies. Deswegen befand sich in der Deckenmitte, sechs Meter über dem Boden, das sogenannte Angstloch, durch das die Gefangenen im Mittelalter an einem Seil heruntergelassen worden waren. Da hatte es noch keine Treppe gegeben, die war erst im 15. Jahrhundert angelegt worden. Und nun, in der Neuzeit, hing anstelle des Seils ein graues Stromkabel herab, an dessen Ende eine einsame Neonröhre grell vor sich hin flimmerte.


Als Weinkeller diente der Raum seit 1848; aus jener Zeit stammten auch die übermannshohen Regale, welche den Raum spinnennetzförmig in neun Parzellen teilten. Diese wiederum waren durch türgroße Lücken in den Regalen verbunden.


Der Wein stammte aus aller Welt, und nicht wenige Flaschen hätten auf einer Auktion drei- bis vierstellige Preise erzielt. Doch das interessierte Friedrich kaum, er hatte sich einen gesonderten Bereich eingerichtet, in welchem Hochprozentiges wartete. Keine Flasche älter als ein Monat, dazu war der Umsatz zu hoch.


Friedrich kam nicht gerne her. Nicht nur wegen der dämlichen Treppe, oder weil seine Neigung, Dinge zu sehen, die nicht da waren, hier besonders gerne zum Vorschein kam, sondern auch, weil dieser Ort über zwei Gehminuten von seiner Wohnung im Westflügel entfernt war. Bei mehr als einem halben Zentner Über­gewicht kein unwesentliches Detail. - Aber solange er hierherkommen mußte, so sagte er sich, überschritt er nicht die Grenze zum Alkoholismus. Er wurde nicht zu einer jener bedauernswerten Kreaturen, bei denen sich der Whiskey im Wohnzimmer stapelte.


Er brauchte nur Sekunden, sich für zwei Flaschen zu entscheiden, und packte sie so fest am Hals, als wollte er sie erwürgen. Dabei stellte er mit einer gewissen Beunruhigung fest, daß das Zittern seiner Fingerspitzen in der letzten halben Stunde deutlich zugenommen hatte. Der einzige Trost war die Gewißheit, daß es sich nach einigen kräftigen Zügen wieder legen würde.


Plötzlich bemerkte Friedrich, daß die bedrückende Stille, in welcher er nur seinen eigenen, schnaufenden Atem hören konnte, einem leisen, kratzenden Geräusch gewichen war.


Er fühlte, wie sich seine Nackenhaare langsam aufrichteten. Was auch immer es war, es schien sich unmittelbar hinter ihm zu befinden. Es kostete ihn Überwindung, sich umzudrehen, doch da war nichts. Nichts als endlose Reihen grüner Flaschenböden, die ihn anzustarren schienen wie Zuschauer in einem Zirkus.


Das Kratzen setzte sich fort.


Ungläubig starrte Friedrich auf die Regalwand, bis er begriff, daß das Geräusch gar nicht aus der Parzelle kam, in der er stand, sondern aus der benachbarten.


Ratten? Oder ...


Geister


... ein Einbrecher?


Für einen Moment wurde es wieder still. Friedrich überlegte, ob er es bis zur Treppe schaffen konnte, ohne sich umzudrehen.


Eigentlich wäre es meine Pflicht, nachzusehen ...


Ein lautes Poltern ließ ihn zusammenfahren. Irgendetwas geriet auf der anderen Seite in Bewegung, das Brechen von Holz mischte sich mit dem Klirren berstender Flaschen.


So, das reicht jetzt! Weg hier!


Zu seiner eigenen Überraschung gehorchten seine Beine nicht sofort: Er war tatsächlich in Angst erstarrt. Doch mit dieser Erkenntnis kam auch Trotz, und als er sich endlich in Bewegung setzte, hielt er seine beiden Flaschen so fest umklammert, daß die Sehnen am Handrücken hervortraten. Falls er dem Eindringling begegnete, würde er wenigstens nicht völlig unbewaffnet sein.


Als er die Zentralparzelle durchquerte, passierte es: Eine Gestalt kreuzte seinen Weg von links. Es war kein Mensch, es war ein großer schwarzer Hund, der Kopf reichte Friedrich bis zum Oberschenkel.


Er wäre fast in das Tier hineingelaufen; der Schreck und das Ausweichmanöver ließen ihn die Balance verlieren. Mit dem vollen Körpergewicht fiel er in das gegenüberliegende Regal und riß zwei Bretter ab. Da seine Hände nicht frei waren, konnte er sich nirgends festhalten. Eine halbe Sekunde später fand er sich auf dem Boden wieder, in einer roten Pfütze voller Glasscherben. Scharfer Alkoholgeruch füllte die Luft.


Der Hund starrte ihn an. Friedrich stockte der Atem.


Ein normaler Hund hätte bereits ausgereicht, ihm Angst zu machen.


Aber es war kein normaler Hund. Nein, an dieser Gestalt war irgendetwas auf eine schreckliche Art und Weise falsch. Die Schnauze war viel zu breit, die Ohren seltsam trichterförmig. Auch die Augen saßen viel zu weit seitlich - das war kein Hund.


Es war ein Pferd.


Ein schwarzes Pferd von der Größe eines Schäferhundes.


Friedrich war verwirrt. Zitterte. Er fühlte sich wehrlos auf dem Boden, mit den Augen genau auf Höhe des Pferdemauls, und er stellte er sich vor, wie ihm das Tier gleich ins Gesicht beißen würde.


Als hätte das Pferd seine Gedanken gelesen, tat es einen Schritt vor und spitzte die Lippen. Friedrichs Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber nur ein schwaches Krächzen kam heraus.


Das Pferd zuckte zurück und offenbarte nunmehr ein wirklich grauenvolles Detail: Es hob eine Augenbraue und neigte den Kopf zur Seite. Die Mimik wirkte so menschlich, daß Friedrich kaum noch überrascht gewesen wäre, wenn das Wesen gesprochen hätte, wie in einem alten Märchen.


Doch das geschah nicht.


Das Pferd wandte sich ab und ging in Richtung Ausgang. Nicht ohne noch einmal über die Schulter einen Blick auf Friedrich zu werfen - und zu grinsen!


Das war absurd! Schwachsinn! Friedrich war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, und nur beiläufig registrierte er, wie die kalte Flüssigkeit aus der Weinpfütze seine Hose und sein Hemd durchtränkte.


Aus der Parzelle, aus der das Pferd gekommen war, drangen inzwischen neue Geräusche: Schritte und Poltern wie von Personen, die sich auf engem Raum drängten.


Das Pferd hob den linken Vorderlauf und winkte irgendjemandem in diesem Raum zu, herauszukommen. Friedrich konnte deutlich sehen, daß das Tier keine Hufe hatte. Es hatte Hände. Mit Fingern. Beim Laufen ballte es die Hände zu Fäusten und lief auf den Knöcheln wie ein Gorilla. Und die Hinterbeine endeten in Füßen mit Zehen.


Vier weitere Pferde erschienen und scharten sich um ihren schwarzen Anführer, der sie durch eine Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen. Sie waren braun statt schwarz, aber auch sie hatten Hände und Füße.


Friedrich hörte ihre leise trappelnden Schritte auf der Treppe verhallen, dann kehrte wieder die altbekannte Stille ein. Für einen Moment kam Friedrich der entsetzte Gedanke, die Pferde könnten das Licht ausschalten, aber das passierte nicht. Gar nichts passierte mehr, Friedrich war allein.


Er bemerkte, daß er immer noch die beiden Flaschen festgekrallt hielt. Sie waren unversehrt, er selbst nicht. Glasscherben hatten beide Handrücken aufgeschlitzt, und Blut war in die Hemdsärmel geflossen, hatte Flecken auf dem hellblauen Stoff gebildet. Daß auch seine Beine und sein Gesäß verletzt waren, bemerkte Friedrich noch nicht.


Langsam begann sich der Zustand der Versteinerung zu lösen.


Schließlich stand er auf und stellte die Flaschen auf den Boden. Er vermied es, auf dem Weg zur Treppe in den Raum zu sehen, aus dem die Pferde gekommen waren.


Oben angekommen drehte er das Licht hinter sich aus. Er versuchte auch, die Kellertür abzuschließen, aber der Schlüssel ließ sich keinen Millimeter bewegen. Kein Wunder: Diese Tür war noch nie abgeschlossen worden - zumindest nicht in den letzten fünf Jahrzehnten, an die sich Friedrich erinnern konnte.


Die Bibliothek war de facto das Wohnzimmer, doch niemandem wäre es in den Sinn gekommen, sie so zu nennen. Der Raum war größer als manche Mietwohnung, mit fünf Meter hohen Wänden aus verstaubten Buchrücken, spitzbogigen Fenstern und einer Galerie aus Nußbaumholz, deren einstmals weißer Lack deutlich abblätterte.


Eusebia belegte aufgrund ihrer Leibesfülle anderthalb Sitze der barocken Couch und war in ein Kreuzworträtsel vertieft, während Otto hinter seinem massigen napoleonischen Schreibtisch den Bauplan einer halbautomatischen Tapeziermaschine zeichnete. Der Fernseher brabbelte unbeachtet vor sich hin.


Otto Berthold Graf von Grauenfels, wie sein vollständiger Name lautete, wirkte mit seinem graumelierten Haar und der stets korrekt sitzenden Krawatte zum grauen Anzug wie der Vorstandsvorsitzende eines Automobilkonzerns; lediglich die Halbbrille mit eingebautem Juwelier-Okular verriet den Sonderling, der den ganzen Tag damit verbrachte, sinnlose bis abstruse Maschinen zu entwerfen - und gelegentlich auch zu bauen. Diese Brille trug er allerdings nur bei der „Arbeit", wie er selbst seine Tätigkeit bezeichnete.


Seine wirkliche Arbeit, ein Lehrstuhl für Maschinenbau an der Universität Kassel, war nur noch blasse Erinnerung. Er war schon seit neun Jahren nicht mehr dort gewesen - seit das Flugzeug mit seinen Söhnen Robert und Richard über dem bolivianischen Altiplano abgestürzt war.


Ein Jahr hatte Otto in Südamerika verbracht, um sich der Aufklärung des Unglücks zu widmen, doch er hatte nach seiner Rückkehr nicht mehr darüber sprechen wollen, und es hatte ihn auch niemand je wieder lächeln gesehen.


Seine Frau Eusebia hatte sich noch stärker verändert. Die einstmals zierliche holländische Schlagersängerin war ergraut und hatte ihr Körpergewicht verdoppelt. Sie sprach selten mehr als zehn Worte am Tag.


Otto und Eusebia war nur eines ihrer drei Kinder geblieben, und das war ihre Tochter Eva, zum Unglückszeitpunkt sechs Jahre alt, inzwischen fünfzehn.


Die Tür schwang auf, Friedrich kam herein.


Eusebia blickte kurz in seine Richtung, runzelte mißbilligend die Stirn und vertiefte sich wieder in ihr Kreuzworträtsel. Otto hob gar nicht erst den Kopf. Das tat er erst, als Friedrich schon vor dem Schreibtisch stand, und er den scharfen Geruch von verdunstendem Bordeaux wahrnahm.


„Ach Gott, Friedrich, was hast du denn jetzt wieder angestellt?" entfuhr es ihm in einem Tonfall, als sei Friedrich ein Zehnjähriger, der beim Fußballspiel seinen Sonntagsanzug ruiniert hatte.


Ein Außenstehender hätte die beiden kaum als Brüder erkannt. Otto war einen ganzen Kopf größer als Friedrich und von eher hagerer Statur. Außerdem besaß er, obwohl der Ältere, noch sein volles Haupthaar, Friedrich jedoch keineswegs.


„Ich habe nichts angestellt", sagte Friedrich, „aber im Keller sind Pferde, und die haben ..." - er hielt inne, als er merkte, wie schlecht sich das anhörte - „Also, was ich meine: Ich war unten, und dachte zuerst, wir haben Einbrecher, aber ... Also, auf jeden Fall habe ich vier Tiere unten im Weinkeller gesehen, es können auch fünf gewesen sein. Keine Ahnung, wie die da hingekommen sein sollen, aber sie waren da und haben mich angestarrt. Und dann sind sie raufgegangen."


Otto schwieg.


„Du glaubst mir nicht, stimmt's?" fragte Friedrich gereizt.


„Nein", war die knappe Antwort.


„Ich weiß ja selbst, daß es sich verrückt anhört. Ich will auch nicht darauf bestehen, daß es Pferde waren. Aber ich habe etwas gesehen, und das läuft jetzt frei im Haus herum! In deinem eigenen Interesse möchte ich, daß du mir bei der Suche hilfst."


Um Ottos Mundwinkel bildeten sich tiefe Falten. „Kannst du mir eine plausible Erklärung für dein Aussehen geben?"


„Ja, ich bin über das Vieh gestolpert und dabei in ein Regal gefallen! Es ist dabei eine ziemliche Sauerei entstanden, aber ich bring das wieder in Ordnung, keine Sorge."


Das Vieh? Sagtest du nicht gerade, es seien mehrere gewesen?"


„Ja, aber es reicht ja wohl, wenn ich nur über eines von ihnen stolpere, oder?"


„Wie kann man über ein Pferd stolpern?"


„Wenn ich das auch noch sage, glaubst du mir wahrscheinlich erst recht nicht."


„Wie kann man über ein Pferd stolpern?" wiederholte Otto.


„Das wirst du ja sehen, wenn wir es finden."


„Wie kann man über ein Pferd stolpern?"


„Ich sagte doch, vielleicht war es kein Pferd."


„Ach? Auf einmal?"


„Otto, du nervst! Was ist jetzt, hilfst du mir suchen oder nicht?"


Otto überlegte. Friedrichs Hände zitterten wie bei einem Parkinson-Kranken, aber das taten sie schon seit Jahren. Er redete wirres Zeug, aber er wirkte nicht verwirrt. Die Situation war nicht einzuordnen. Seufzend stemmte Otto sich an den Stuhllehnen empor: „Es wird mir eh nicht erspart bleiben, nachzusehen, was du wieder angerichtet hast, dann kann ich auch gleich gehen."


Friedrich fühlte, wie sich sein ganzer Körper anspannte, doch er schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Immerhin hatte er es geschafft, Otto aus seinem Stuhl zu holen, und das schaffte sonst kaum jemand.


In diesem Moment kam Eva herein. Anstatt zu grüßen, rümpfte sie nur die Nase ob des Geruches, der sich inzwischen raumfüllend ausgebreitet hatte.


Der jüngste Sproß der Familie sah nicht aus wie jemand mit einem „von" im Namen. Auf dem Bahnhof hätte man dieser grünhaarigen Gestalt mit der rot-weiß-quergestreiften Strumpfhose und dem „No Future"-T-Shirt wahrscheinlich eine Münze in die Hand gedrückt. Eva war besonders stolz darauf, das erste Mädchen in ihrer Klasse mit doppelt durchstochenen Ohrläppchen zu sein, und daß ihr ausdrucksvoll geschminktes Gesicht sie fünf Jahre älter aussehen ließ, als sie in Wirklichkeit war.


„Was wird'n das, wenn's fertig ist?" fragte sie in Richtung Otto und Friedrich. Die beiden waren Meister darin, sich tagein-tagaus über belanglosen Mist zu streiten. Wie die zwei Opas aus der Muppet-Show, nur weniger lustig. Dieses Mal jedoch schien es für die Auseinandersetzung einen handfesten Grund zu geben, und das weckte Evas Neugier.


Otto ignorierte ihre Frage und hielt mit großen Schritten auf die Tür zu. „Na los, komm jetzt!" fuhr er dabei Friedrich an. Dieser folgte ihm, und es ärgerte ihn, daß es so aussah, als ob er Otto gehorchen würde. Schließlich war er gekommen, um Otto zu holen, nicht umgekehrt.


„Wohin?" wollte Eva wissen, ihr Vater war jedoch schon an ihr vorbeigegangen und wandte sich nicht um.


„In den Weinkeller", erklärte Friedrich und lief Otto hinterher. Er kam sich vor wie ein braves Hündchen, das seinem Herrn nachhechelt.


Zu seinem Leidwesen folgte ihm außerdem Eva. „Hast mal wieder Mist gebaut, was?" fragte sie hämisch.


„Ich verbitte mir diesen Ton!" Eine bessere Antwort fiel Friedrich nicht ein. Die Situation war höchst unbefriedigend: Er wirkte wie ein Trottel, und jede Erklärung machte es nur noch schlimmer.


Auf halbem Wege begann Otto unvermittelt zu reden: „Heute haben die Franzosen ihren neuen Hochgeschwindigkeitszug eingeweiht. Wir hätten so etwas auch hier in Deutschland haben können - aber nein, auf mich wollte ja niemand hören!"


Friedrich und Eva schwiegen. Dennoch blieb ihnen ein spontaner Vortrag über Eisenbahntechnologie und Verkehrspolitik - von dem sie ohnehin kaum jedes zweite Wort verstanden - nicht erspart.


Als sie im Weinkeller ankamen, war alles noch genau so, wie Friedrich es zurücklassen hatte. Lediglich der Alkoholgeruch war noch stärker geworden.


„Boah!" Eva verzog das Gesicht zur Grimasse. „Das ist ja die reinste Gaskammer hier! Ich glaub, ich muß gleich kotzen."


„Es hat dich keiner gebeten, mitzukommen", konterte Friedrich.


„Ihr sagt ja nicht, was los ist!" Eva verschränkte die Arme vor der Brust.


„Also gut", befand Otto in einem Tonfall, der Schweigen einforderte. „Das Malheur sehe ich. Erzähl jetzt, was genau passiert ist."


„Ich war in dem Raum da drüben." Friedrich zeigte auf den Durchgang zu seiner Privatparzelle. „Und als ich rauskam, ist es da herausgekommen" - er deutete auf den Durchgang rechts davon - „und lief mir vor die Füße. Ich bin gestolpert und fiel dann da gegen." - Er wies auf das beschädigte Regal.


„Sag mal, wovon redest du?" mischte sich Eva wieder ein. „Wer ist dir vor die Füße gelaufen?"


Friedrich zögerte mit der Antwort.


„Das Pferd", sagte stattdessen Otto. „Oder was auch immer Friedrich gesehen haben will."


„Ich sag doch, es muß nicht unbedingt ein Pferd gewesen sein! Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich, daß es etwas anderes gewesen sein muß."


„Hu-hu-huuu!" grinste Eva und winkte mit den Händen über dem Kopf, „willkommen zur Derillium-Show."


„Eva, ich muß doch sehr bitten", herrschte Otto sie an. Friedrich war überrascht, daß sein Bruder für ihn Partei ergriff.


„Aber ist doch wahr", brummte Eva trotzig.


„Nur weil etwas wahr ist, muß man es noch lange nicht hinausposaunen. - Außerdem heißt es Delirium und nicht Derillium."


Friedrich preßte die Lippen aufeinander. Wenn Evas Worte Fußtritte waren, die man einem am Wegesrand liegenden Köter versetzte, dann waren Ottos Worte Dolche, die man einem Freund in den Rücken stieß, während man ihn umarmte. Bevor Friedrich jedoch intensiver über dieses Gleichnis nachdenken konnte, schnarrte wieder Ottos Stimme nach ihm:


„Friedrich, bist du auch hier drin gewesen?" Otto war in den Raum gegangen, aus dem die Pferdewesen gekommen waren.


„Nein, da war ich nicht", sagte Friedrich. Da hätten mich keine zehn Pferde reingebracht, fügte er in Gedanken hinzu und amüsierte sich still über diese Redewendung. - Aber das konnte er nun nachholen, da Otto offenbar nichts Schreckliches vorgefunden hatte.


Der Schaden in diesem Raum war weit größer als in dem, wo Friedrich gestürzt war. Ein komplettes Regalelement war umgestürzt, mindestens hundertfünfzig Flaschen zerbrochen. Der ganze Boden war naß und die Alkoholdämpfe so intensiv, daß Friedrich sich fragte, ob man wohl vom Einatmen betrunken werden konnte.


An der Stelle, wo das Regal gestanden hatte, befand sich ein Durchgang in der Wand. Das Neonlicht ließ den Anfang einer breiten Wendeltreppe erkennen, die nach unten führte.


Otto ging in die Hocke und untersuchte den Boden. „Es scheint so, als müßte ich mich bei dir entschuldigen", murmelte er, „hier ist tatsächlich etwas gewesen. Es hat Fußspuren hinterlassen."


Vom Rand der Weinlache aus führten Flecken aus dem Raum heraus - ganz eindeutig die Spuren eines dieser Pferde, das sich die Füße naß gemacht hatte! Friedrich konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.


Eva kam nun auch herein. „Was ist denn das für eine Treppe? Die hab ich ja noch nie gesehen!"


„Das hat wahrscheinlich noch keiner von uns", erwiderte Otto, während er sich wieder aufrichtete, „schließlich stand dieses Regal davor."


„Geil! Ein Geheimgang!"


„Nicht dieses Wort, Eva!"


Eva grinste. „Wieso? Was ist an Geheimgang so schlimm?"


„Du weißt genau, wovon ich rede!" Ottos Blick war finster geworden, und Eva kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, daß sie den Bogen besser nicht überspannte.


„Ich bin klein und dumm, und bleibe ab jetzt stumm", reimte sie. Das war, seit sie zurückdenken konnte, der Code, um ihren Eltern mitzuteilen, daß sie klein beigab.


„Da müssen die Pferde hergekommen sein", schlußfolgerte Friedrich aus der neu entdeckten Treppe. „Wir müssen herausbekommen, wohin diese Stufen führen." Entschlossen trat er durch die Öffnung - blieb allerdings stehen, als er sah, daß er nur die ersten vier Stufen erkennen konnte. Dahinter kam schwarzes Nichts. Instinktiv suchte er den Lichtschalter, aber es gab keinen.


„Wir ... Wir brauchen Licht da", sagte er hastig, um das aufsteigende Unwohlsein zu überspielen.


„Alles zu seiner Zeit", meinte Otto in ruhigem, beinahe gelangweiltem Tonfall. Friedrich haßte ihn dafür. „Wir sollten zuerst diese ... Pferde suchen. Bis dahin werden wir den Weinkeller abschließen."


„Das hab ich schon versucht", meinte Friedrich, „aber das Schloß ist kaputt."


„Dann werden wir es auswechseln."


Geschickt drängte sich nun Eva vor und ging - Ottos wütenden Rückruf ignorierend - einige Stufen hinunter. Doch schon nach wenigen Sekunden kam sie wieder und zog ein langes Gesicht: „Dunkel."


„Ich habe eine Taschenlampe", sagte Friedrich.


„Dann mal her damit!"


„Ich hab sie nicht hier, ich müßte rauf und sie holen. Ist meine alte Taucherlampe, extra hell, akkubetrieben."


„Na dann mach doch! Oder interessiert dich nicht, wo die Treppe hinführt?"


„Bedenkt bei aller Begeisterung", unterbrach Otto, „daß wir nicht identifizierte Tiere im Haus haben. Ich gehe hinauf zu Eusebia, um sie zu warnen. Friedrich, du bleibst bei Eva."


„Ich kann schon auf mich selbst aufpassen", maulte Eva.


„Ja, aber Friedrich nicht."


„Was?" Eva und Friedrich riefen es fast lippensynchron. Doch Otto war bereits losgegangen. Ohne sich umzudrehen rief er noch zurück: „Meinetwegen schaut solange nach, wohin die Treppe führt. Ich komme gleich wieder."


„Bring am besten ein Gewehr mit", rief Friedrich ihm hinterher.


Nachdem Otto außer Sichtweite war, bemerkte Friedrich ein schmerzhaftes Pochen in den Händen. Es waren die inzwischen verkrusteten Schnittwunden. Friedrich sah an sich herab und verspürte den dringenden Wunsch, sich umzuziehen. Zugleich fiel sein Blick auf die beiden auf dem Boden abgestellten Whiskeyflaschen, und er bekam Durst.


„Na dann", sagte Eva, „hol mal deine Lampe. Ich bleibe solange hier."


Dieses unendlich dumme, verzogene Gör ...


„Eine weise Entscheidung", sagte Friedrich. „Sollte etwas kommen, während ich weg bin, schrei einfach."


„Haaa-ha." Eva verzog keine Miene. „Das hast du dir doch alles nur ausgedacht, um von der Sauerei hier abzulenken."


„Genau, und die Fußspuren hier und das Loch in der Wand habe ich mir auch nur ausgedacht."


Eva verzog weiterhin keine Miene. Aber sie folgte Friedrich wortlos, als er ging, um seine Taucherlampe zu holen.


Eusebia saß immer noch in der Bibliothek, die aufgehende Tür gewohnheitsmäßig ignorierend. So entging ihr der Anblick des zusammengedrängten Haufens hundegroßer Pferde, die ins Zimmer sahen, aber nicht hereinkamen. Bis sie merkte, daß etwas nicht stimmte, und zur Tür blickte, war der Korridor schon wieder leer.


Auch wenn es auf Außenstehende so wirkte, als lebe sie in ihrer eigenen Welt, so hatte Eusebia doch sehr genau das Gespräch zwischen Otto und Friedrich verfolgt und zog daraus jetzt die richtigen Schlüsse. Sie legte das Rätselheft beiseite und ging zur Türe, hinaus auf den Korridor.


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