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Fantasy Bücher
Buch Leseprobe DARK KING OF MY BLOOD, Josie Charles
Josie Charles

DARK KING OF MY BLOOD



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Unsere Liebe fühlt sich richtig an.
So richtig, dass ich beinahe vergesse, was wir sind.
Dass ich eigentlich ihr Tod bin und sie mein Opfer ist.


 


TEIL 1


Alltagsfluchten



Kapitel 1


Moonberry Cove, Connecticut
Jetzt


Lilly



Die blutrote Unterwäsche hebt sich von dem milchig weißen Körper ab wie ein Rosenblatt von einer frischen Schneedecke. Die Spitze ist ein Hauch von Nichts und lässt erahnen, was sich darunter befindet.
Weiche, glatte Haut ...
Pulsierendes, warmes Blut ...
Zwei Hände fahren über die schmale Taille, langsam, genüsslich. Sie streifen die Außenseiten ihrer Brüste, gleiten über ihren Ansatz hinauf zu dem schlanken Hals, der vollkommen bloß daliegt.
Kein Stoff, kein Schmuck, kein Schutz ...
Die Frau lässt ein leises Stöhnen hören, sie räkelt sich in den zerwühlten Laken. Eine der Hände streift ihre Wange, ihr Mund schnappt spielerisch nach einem Finger, saugt daran und entlässt ihn dann mit einem verschmitzten Lächeln wieder aus ihren vollen Lippen.
Der Finger, noch ganz feucht von ihrem Mund, wandert fast liebevoll über ihre Kehle, als wolle er ihren Herzschlag spüren. Die Frau neigt den Kopf zur Seite, wahrscheinlich erwartet sie einen innigen Kuss, und tatsächlich.
Der Mann beugt sich nun über sie, wobei er eine Hand in ihrem blonden Haar vergräbt. Seine tätowierten Arme sind zu sehen. Verschlungene Muster in dunklen Farben zieren seine Haut, winden sich um seine Muskelstränge.
Die Augen der Frau schließen sich, während sie einen tiefen Atemzug ausstößt. Ihr Herz schlägt schneller, ein leiser, aber deutlich hörbarer Rhythmus.
Dann ist es so weit.
Die Lippen des Mannes senken sich auf ihre Schlagader. Er öffnet den Mund und ...
Mit einem spitzen Schrei fahre ich hoch und schlage um mich, obwohl dort niemand ist, den ich erwischen könnte. Es ist ein Reflex, mehr nicht. Im Grunde weiß ich es besser. Da ist niemand, gegen den ich mich zur Wehr setzen müsste.
»Lilly! Lilly, um Gottes willen, beruhig dich!« Dana springt von ihrem Platz auf dem Sofa auf und ist blitzschnell bei mir. »Ich bin es! Beruhig dich!«
Das besorgte Gesicht meiner Schwester taucht vor mir auf. Ihre Augen sind aufgerissen und sie hält die Hände schützend vor sich. Vielleicht zögert sie aber auch nur, mich anzufassen, um mich zu besänftigen.
»Es ist alles okay ...«, sage ich und fahre mir mit beiden Händen durchs Gesicht. Es fühlt sich kühl und gleichzeitig schweißfeucht an. Mein Herz rast noch immer und pumpt mit fauchenden Schlägen das Blut durch meinen Körper.
»Du hast nur geträumt.« Dana legt eine ihrer Hände auf meinen Unterarm und streicht sanft darüber.
»Nein, habe ich nicht.« Ich räuspere mich und sehe mich einer dunklen Ahnung folgend um. Ich befinde mich im gemütlichen Wohnzimmer unserer WG. Draußen ist es bereits dunkel und ein Sturm tobt um unser Haus. Wir haben es uns gemütlich gemacht, mit Erdnussbutter-Eiscreme, einem heißen Tee und Kerzen, um einen Weihnachtsfilm anzuschauen. Es wäre denkbar, in so einer Atmosphäre einzuschlafen, doch es ist nicht passiert. Nicht nur, dass ich weiß, dass ich nicht geträumt habe, es gibt auch Beweise dafür. Das Eis ist nicht geschmolzen, der Tee dampft noch und die Dochte der Kerzen sind kaum runtergebrannt. Im Fernseher endet gerade einmal der Vorspann unseres Filmes ... Unmöglich, dass ich auf die Schnelle eingeschlafen und in einen derart plastischen Traum gefallen bin.
»Ich habe nicht geschlafen«, sage ich und schlucke hart.
»Dann war es wieder so ein ... eine ...« Dana tut sich sichtlich schwer, die Dinge beim Namen zu nennen.
Das habe ich anfangs auch, aber mittlerweile fällt es mir leichter. »Eine Halluzination, ja.«
Schon als Kind hatte ich Aussetzer dieser Art. Momente, in denen ich mich einfach für ein paar Sekunden nicht mehr im Hier und Jetzt befunden habe, sondern in einer Art Tagtraum. Es waren kurze Sequenzen, meist nur ein aufblitzendes Augenpaar oder eine flüchtige Bewegung. Dann wurde ich älter und die Blackouts veränderten sich. Sie wurden dunkler, realistischer und vor allen Dingen länger.
Mal stand ich statt an der Kasse eines Supermarktes in einem dichten Wald, mal lag ich nicht in meinem Bett, sondern jagte durch dunkle Gassen einer Frau hinterher. Meine Oma nannte das »Alltagsfluchten« und meinte, so etwas wäre völlig normal. Ich habe ihr geglaubt, wollte ihr glauben.
Ich lernte, mit den Halluzinationen zu leben und fand Wege, damit klarzukommen. Manchmal zeichne ich beispielsweise das, was ich sehe. Aber längst nicht alles, denn es wird immer mehr.
Mittlerweile habe ich fast täglich Visionen von dem Mann mit den tätowierten Armen. Es beginnt von einem Augenblick auf den anderen und katapultiert mich immerzu an Orte, an denen ich mich noch nie zuvor befunden habe. Mir kommt es vor, als würde ich die Momente aus den Augen des Fremden sehen, als wäre ich ein Teil von ihm. Eine kleine Flamme in einer Eiswüste ...
»Ich sage es nicht gerne, aber vielleicht solltest du wirklich mal zu einem Arzt gehen, Lil«, entgegnet Dana vorsichtig.
Ich nicke. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
Eigentlich kann es nichts Schlimmes sein, weil ich diese Aussetzer schon immer hatte und sie mich bislang auch nicht umgebracht haben. Aber langsam fangen sie wirklich an, mich in brenzlige Situationen zu bringen. Letztens hatte ich einen dieser Blackouts beim Überqueren einer Straße. Davor stand ich auf einer Leiter, um eine Lichterkette aufzuhängen.
Beide Male hatte ich Glück, doch dabei wird es vermutlich nicht für immer bleiben.
»Ich mache mir gleich morgen einen Termin«, verspreche ich meiner Schwester.
Sie wirkt noch immer etwas besorgt, weshalb ich ein Lächeln hinterher schiebe. »Schauen wir weiter? Spulst du den Film zurück?«
»Natürlich.« Dana steht auf und gibt mir einen Kuss auf den Kopf, ehe sie sich der Playstation zuwendet, um den Film neu zu starten.
Ich sehe ihr hinterher, dann fällt mein Blick auf meinen rechten Arm und das Tattoo, das sich darauf befindet. Es ist ein Unendlichkeitszeichen, welches aus einer Dornenranke besteht.
Es ist das gleiche Motiv, das sich auch auf dem rechten Unterarm des Mannes aus meinen Visionen befindet. Ein Symbol, das uns beide vereint, auch wenn wir uns noch nie begegnet sind ...



Kapitel 2


Lilly


Ich sitze in der Geschichtsvorlesung und starre auf die Folien, die der Professor an die Wand projiziert. Für mich sind die Bilder nur bunte Farbkleckse und die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Ich kann mich kaum konzentrieren, bin müde und gleichzeitig erfasst von einer inneren Unruhe. Meine Finger liegen auf der Tastatur meines Laptops, aber ich habe noch keinen einzigen Satz getippt. Eigentlich finde ich Geschichte spannend, aber meine Gedanken wandern immer wieder zu gestern Abend zurück. Der Aussetzer war diesmal besonders real. Ich konnte die Angst der Frau förmlich spüren, genau wie ihre Lust; habe ihr Blut auf meiner Zunge geschmeckt ...
Ich habe meiner Schwester Dana zwar versprochen, dass ich mir Hilfe suche, aber ein bisschen fürchte ich mich auch davor. Einerseits habe ich Sorge, vom Arzt als irre abgestempelt zu werden und andererseits ist das genaue Gegenteil der Fall. Was ist, wenn der Doc etwas findet? Etwas Schlimmes?
Ich schüttle den Gedanken ab und versuche mich abzulenken, indem ich mich auf die Vorlesung konzentriere.
Der Professor spricht über die Französische Revolution und ich tippe wahllos ein paar Schlagworte mit.
Drei Phasen.
Robespierre.
Sturm auf die Bastille.
Napoleon.
Terreur.
Guillotine ...
Auf einmal wird mir ganz warm und schwindelig. Nicht noch ein Blackout, bitte. Nicht schon wieder.
Ich habe Glück.
Die Vorlesung endet, ohne dass mein Hirn sich kurzzeitig in einer »Alltagsflucht« verliert. Ich packe meine Sachen zusammen und kann es kaum erwarten, aus dem stickigen Hörsaal heraus zu kommen.
Ich verstaue meinen schwarzen Laptop mit den vielen Aufklebern in meiner ebenfalls schwarzen Umhängetasche und verlasse das Gebäude, um über den winterlichen Campus zur Cafeteria zu schlendern, wo ich gleich meine Schicht antreten muss. Die Uni von Yale gleicht einem Märchenschloss mit ihren Säulen, den gotischen Fenstern und den verwinkelten Ecken. Gut, vielleicht keinem Disneymärchen, sondern eher einem der dunklen Sorte. Ich habe mich sofort in diese Universität verliebt, sodass ich es unbedingt hierher schaffen wollte. Auch der Außenbereich ist wunderschön. Es gibt verschlungene Wege von Gebäude zu Gebäude, hohe Trauerweiden und sogar einen Zierbrunnen. Immer, wenn ich zwischen zwei Vorlesungen frei habe, bin ich hier draußen. Egal ob bei Sonnenschein oder klirrender Kälte wie heute.
Der Wind ist beißend und es ist sogar etwas Schnee gefallen. Leise knirscht er unter meinen Stiefeln.
»Lil!«
Ich bin so in Gedanken, dass ich die Rufe erst nicht registriere.
»Lilly Vanilly!«
Mit einem Stöhnen drehe ich mich um und sehe Harper und Ethan auf mich zukommen.
Genauso wie ich sind sie ein bisschen anders als die anderen Studenten auf dem Campus – düster, mit einem Hauch von Gothic-Stil. Na ja, bei den beiden ist es mehr als nur ein Hauch.
Ethans Lippen sind schwarz geschminkt und Harper hat einen filigranen Spitzenschirm gegen den Schnee aufgespannt.
»Du sollst mich nicht so nennen«, schimpfe ich in Ethans Richtung.
»Sorry, aber so will es das Gesetz!« Er hebt die Hände, als wäre er sich keiner Schuld bewusst.
Harper drückt mich, wobei mich ihr Patchouliduft einhüllt. »Wie war die Vorlesung?«
Ich zucke mit den Schultern. »Das Übliche«, lüge ich, denn dass ich bis auf ein paar aufgeschnappte Worte rein gar nichts aus den letzten zwei Stunden weiß, will ich nur ungern zugeben. »Und bei euch?«
»Langweilig.« Harper rollt mit den Augen. »Aber wenigstens habe ich jetzt frei. Was hast du vor?«
»Ich muss in den Schandfleck. Arbeiten«, antworte ich und deute mit dem Kinn in Richtung der Cafeteria, die das einzige neuartige Gebäude auf dem Campus ist. Sie ist ein kastiger Bau mit riesigen Fenstern, durch die man die roten Plastikstühle leuchten sehen kann. »Aber vielleicht sehen wir uns später?«
»Wenn ich die Philo-Lesung überstehe, ohne ins Wachkoma zu fallen. Im Gegensatz zu ihr«, mit dem Po stößt Ethan Harper an, »habe ich nämlich nicht frei.«
»Du Ärmster!«, sagt Harper schadenfroh.
»Ich falle mit ins Wachkoma«, sage ich. »Ich habe die Nacht kaum geschlafen und wenn gleich genauso wenig los ist wie gestern, dann gute Nacht!«
Harper wirft mir einen besorgten Blick zu und drückt mich dann erneut.
»Pass auf dich auf, Lilly«, flüstert sie und ich spüre, dass sie mehr meint als nur die Arbeit.
Am liebsten würde ich nachfragen, doch ich bin zu feige. Harper ist spirituell veranlagt und glaubt an alles mögliche komische Zeug. Nicht nur einmal hat sie Ethan oder mir die Karten gelegt und ins Schwarze getroffen. Wer weiß, was sie in meiner Zukunft gesehen hat ...
Mit einem Kloß im Hals sehe ich den beiden nach, dann gehe ich weiter. Die Cafeteria ist nicht mehr weit und ich hoffe, dass ich gleich in die Arbeit eintauchen und für einige Zeit abschalten kann. Vielleicht schaffe ich es so, Harpers kryptische Worte und die dunklen Aussetzer zu vergessen. Vielleicht.
Ich erreiche die Cafeteria und schiebe die schwere Glastür auf. Der vertraute Duft von frisch gebrühtem Kaffee und aufgeschäumter Milch schlägt mir entgegen. Aus der Küche höre ich das Klappern von Geschirr und das Brummen der Mikrowelle, mit der wir die Schokobrownies erwärmen. Es ist voll, so wie ich es mir erhofft habe. Dann werde ich mich mal in die Arbeit stürzen.
Meine Kollegin Anna winkt mir von der Theke zu. »Hey, Lilly. Bereit für den Nachmittagsansturm?«
»Klar, sowas von«, antworte ich und trete hinter die Theke. Ich stelle meine Tasche in eine Ecke, lege meine Jacke dazu und wasche meine Hände. Dann ziehe ich mir die dunkelrote Schürze mit dem Logo unserer Uni drauf an.
»Kannst du kurz?«, bitte ich Anna und drehe ihr den Rücken zu, damit sie meine Schleife binden kann. Dabei lächle ich verlegen in die Runde. Vor dem Tresen hat sich eine kleine Schlange aus Dozenten und Studenten gebildet, von denen der Großteil keine Notiz von der kleinen Unterbrechung nimmt. Bis auf einen.
»Steve«, stöhne ich und wende demonstrativ den Blick von seinen braunen Augen ab.
»Schon wieder?«, fragt Anna.
»Schon wieder«, bestätige ich.
Mein Ex Steve kommt regelmäßig in die Cafeteria, wenn ich Schicht habe. Angeblich ist es nur Zufall, dass er immer dann herkommt, wenn ich auch hier bin, aber natürlich glaube ich ihm kein Wort. Ich habe mich im Mai von ihm getrennt und seitdem sucht er umso mehr meine Nähe. Dabei war der Grund für die Trennung, dass er mir einfach zu aufdringlich war. Steve wollte mich am liebsten 24/7 belagern und in jedem Moment, in dem er nicht bei mir war, genau wissen, was ich tat und mit wem. Es wird Zeit, dass ich ihn in seine Schranken weise, bevor er noch zum waschechten Stalker mutiert.
»Ich sollte mit ihm reden und ihm klarmachen, dass –«
»Mach das. Aber nicht jetzt«, zischt Anna und fügt dann nahtlos mit einem breiten Lächeln an. »Mister Wright! Hi!« Sie dreht mich an den Schultern herum und ich blicke direkt in das Gesicht unseres Chefs.
Er ist ein dunkelhaariger Typ um die fünfzig, der die Augenbrauen immer irgendwie mahnend in die Höhe gezogen hat. Auch diesmal.
Ich lächle ebenso breit wie Anna und hebe die Hand zum Gruß, bevor ich mir routiniert ein Tablett schnappe und so tue, als wäre ich gerade kurz davor gewesen, die Tische abzuräumen.
Anna nimmt unterdes die nächste Bestellung auf, ganz so, als hätten wir nicht bis vor wenigen Augenblicken noch miteinander gequatscht.
Während ich die Cafeteria durchquere und einen Tisch ansteuere, auf dem sich mehr Geschirr stapelt als in einer Spülküche, spüre ich die Blicke von Mister Wright und Steve auf mir.
Es fühlt sich unangenehm an und ich spüre, dass mein Puls sich beschleunigt. Seit wann bin ich so eine Memme?
Ich atme zwei Mal tief durch und beginne damit, so viele Teller und Tassen auf mein Tablett zu stapeln wie nur möglich. Mit wackeligen Knien trage ich alles zurück in Richtung Theke.
»Lilly«, sagt Steve beschwörend, als ich ihn passiere.
»Ich muss arbeiten.« Ich gehe an ihm vorbei und schaffe es, das benutzte Geschirr gerade noch rechtzeitig auf die Theke zu stellen, bevor mir schwarz vor Augen wird. Es ist nur ein kurzer Moment, lediglich das Aufblitzen von zwei Händen, die mir mittlerweile unendlich vertraut sind. Kräftige Männerhände, die einen blassen Frauenkörper von einem zerwühlten Bett heben ...
»Lilly?«
Der Blackout hat keine Sekunde gedauert, trotzdem rast mein Herz wie verrückt.
Da ich es gewöhnt bin, die Halluzinationen zu überspielen, wende ich mich Anna zu, als wäre nichts gewesen.
»Kannst du den Kaffee und das Stück Kuchen zu Professor Cavanaughs Tisch bringen?«
Ich suche kurz den Raum nach Professor Cavanaugh ab und entdecke ihn an einem der Fenster. Er ist einer dieser alten Männer, die aussehen wie Albert Einstein und ständig einen lustigen Spruch auf den Lippen haben. Er winkt freundlich und ich zwinkere ihm zu.
»Klar, mache ich.« Eigentlich bedienen wir die Gäste nicht am Platz, aber Cavanaugh muss im Moment auf Krücken laufen, weshalb wir gerne eine Ausnahme machen. »Bin schon unterwegs!« Ich nehme das Tablett in die Hände, so fest, dass meine Fingerknöchel hervortreten, denn ich fühle mich immer noch wacklig. Ein Schritt vor den anderen, ein Schritt vor ...
»Lilly!« Steve springt mir förmlich ins Blickfeld und ich kann gerade noch bremsen.
»Steve! Verdammt, was soll denn das?«
Steve lächelt mich verlegen an. Mit der Hand fährt er sich durch die gegelte Frisur, die jenseits der Collegefilme aus den Zweitausendern eigentlich niemand mehr trägt. »Schön, dich zu sehen«, sagt er, als wäre das hier einer dieser Momente, in denen man seine Jugendliebe zufällig nach zehn Jahren Funkstille auf der Straße trifft.
»Ich fänd es schöner, wenn du nicht jeden Tag herkommen würdest.«
»Ich bin nicht jeden Tag hier«, protestiert mein Ex und ich lache auf.
»Ja, stimmt, an den Tagen, an denen ich nicht arbeite, nicht.«
Steve erwidert etwas, ich erkenne es daran, dass er den Mund öffnet. Doch es kommen keine Worte raus. Stattdessen verschwimmt er. Mir wird schwindelig, mein Kopf fühlt sich leer an, dann extrem voll. Ich sehe Bilder, Fetzen, Farbkleckse. Den Körper der Frau, ein rotes Rinnsal, dann eine Zimmerdecke, einen Kronleuchter, in dessen Kristallen die Spiegelung von ...
Ich spüre, wie das Tablett in meinen Händen zu wanken beginnt, und dann passiert es: Alles fällt.
Ich höre Scherben klirren und Steve aufschreien. Dann schreit auch Wright.
»Lilly!« Die Stimme meines Chefs vertreibt schlagartig den beginnenden Blackout. Er kommt auf mich zu, sein Gesicht ist vor Wut rot angelaufen. »Was hast du dir dabei gedacht?«
Zuerst verstehe ich nicht, warum er so wütend ist, schließlich ist jeder Servicekraft schon mal etwas runtergefallen. Okay, mir vielleicht schon ein paar Mal öfter, doch ist das wirklich der Grund für seinen Zorn? Dann lichten sich mein Verstand und mein Blickfeld und ich erkenne, was ich angerichtet habe. Ich habe Steve den heißen Kaffee über die Brust geschüttet.
»Oh mein Gott, das wollte ich nicht!« Mit meiner Schürze will ich Steves Oberteil trocken tupfen, aber er weicht mit vorwurfsvollem Blick zurück.
»Das hätte ins Auge gehen können! Zum Glück ist euer Kaffee nur lauwarm!«
Ich stammle eine Entschuldigung, zuerst in Steves Richtung, dann an Wright gerichtet, doch es scheint ihn nur noch wütender zu machen. »Deine Beziehungsfehden fechtest du gefälligst woanders aus! Das ist das letzte Mal, dass du hier so etwas anrichtest. Du bist gefeuert!« Damit wendet sich Wright ab und ich spüre die Blicke der Gäste auf mir. Sie alle starren mich an.
Ich nicke stumm, obwohl Wright das gar nicht mehr sehen kann. Tränen brennen in meinen Augen, aber ich werde mir nicht die Blöße geben, jetzt zu heulen. Mit zittrigen Händen beginne ich, die Scherben und den verschütteten Kaffee aufzuwischen, während ich so langsam zu begreifen beginne, was gerade passiert ist.
Diese dämlichen Aussetzer haben mich jetzt auch noch meinen Job gekostet.
Es wird wirklich Zeit, dass ich mich untersuchen lasse.


Kapitel 3


Lilly


Das Untersuchungszimmer ist kühl und steril. Während ich auf Doktor Reynolds warte, scheinen sich die Sekunden zu dehnen, werden länger und länger. Hoffentlich hat er wenigstens gute Nachrichten für mich. Etwas, das die Halluzinationen erklärt, ohne mich als geistesgestört oder todkrank abzustempeln. Ich knete meine Hände in meinem Schoß und versuche, mich abzulenken, indem ich aus dem Fenster sehe und die fallenden Schneeflocken zähle.
Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig.
Endlich öffnet sich die Tür und Doktor Reynolds tritt ein, eine Akte in der Hand. Meine Akte.
»Miss Montague«, beginnt er, während er sich mir gegenüber setzt. Sein Gesicht verrät nichts über den Ausgang der ganzen Untersuchungen, die ich in den letzten Tagen über mich ergehen lassen musste.
Hat er ein Pokerface aufgesetzt oder lassen ihn die Schicksale seiner Patienten einfach kalt? Er ist nicht mehr der Jüngste, wahrscheinlich gibt es nichts mehr, was ihn schockieren könnte.
Ich sehe ihn erwartungsvoll, fast durchdringend an, aber Doktor Reynolds hat sich meiner Akte gewidmet und blättert wahllos darin herum. »Wir haben alle möglichen Untersuchungen durchgeführt. Ihre Blutwerte sind normal, der MRT-Scan hat keine Auffälligkeiten gezeigt und auch das EEG war unauffällig. Wir konnten keine physischen oder neurologischen Ursachen für Ihre Halluzinationen finden.«
Ich nicke langsam, versuche, die Enttäuschung zu verbergen, die sich in mir breitmacht. Einerseits bin ich natürlich froh, dass er keinen Hirntumor oder sowas bei mir entdeckt hat, doch gleichzeitig komme ich mir vor wie ein Hypochonder.
»Was bedeutet das jetzt?«
Doktor Reynolds atmet tief ein und sieht mich dann an. »Ich glaube, dass Ihre Halluzinationen stressbedingt sind. Chronischer Stress kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, einschließlich der Wahrnehmung von Dingen, die nicht da sind.«
Seine Worte hallen in meinem Kopf wider. Stress. Natürlich. Das klingt so banal, so alltäglich, und doch könnte es die Ursache meiner Blackouts sein. Jeder hat doch irgendwie Stress, oder? Und ich stehe durch die Elite-Uni, an der ich studiere, sowie meinen Nebenjob unter Dauerbelastung. Außerdem setzt mir die Situation mit Steve mehr und mehr zu.
»Was soll ich jetzt tun?«, frage ich leise. »Ich meine ... Soll ich in eine Reha oder so?«
»So weit würde ich noch nicht gehen. Ich möchte, dass Sie sich eine Auszeit nehmen.« Reynolds lächelt mich an. »Eine Pause von Ihren täglichen Verpflichtungen, eine Zeit, um sich zu erholen und zu entspannen. Können Sie sich ein Semester freinehmen?«
»Das wäre theoretisch möglich.« Ich nicke wieder, diesmal etwas entschlossener. Eine Auszeit. Wenn das alles ist. Um diese Aussetzer loszuwerden, würde ich so ziemlich alles tun.
»Es ist wichtig, dass Sie sich eine Zeitlang ganz um sich selbst kümmern. Stress kann erhebliche Auswirkungen auf Ihre Gesundheit haben. Gehen Sie spazieren, treiben Sie Sport, meditieren Sie. Vielleicht können Sie sich auch einfach kreativ ausleben oder den Kontakt zu neuen Leuten knüpfen. Reisen Sie. Alles, was sich gut anfühlt, tut auch Ihrer Psyche gut.«
Ich spüre, wie ein kleines Fünkchen Hoffnung in mir aufkeimt und stehe auf. »Fest versprochen.«
Reynolds erhebt sich ebenfalls und schüttelt mir die Hand. »Sollte sich nichts verbessern, sehen wir uns in einem halben Jahr wieder.«
Wir verabschieden uns und ich trete den Weg nach draußen an.
Eine Auszeit soll mich also von den Blackouts befreien. Dana wird sich freuen, das zu hören.


Kapitel 10


Alistair


Ich stehe an der Balustrade im ersten Stock des Circuit Noir, in dem ich häufig auf die Jagd gehe.
Mein Blick ist starr auf die Körper gerichtet, die sich unter mir auf der Tanzfläche winden wie Würmer in der feuchten Erde eines Friedhofs. Nur viel schöner natürlich. Alles in allem sind die Frauen heute betörender als früher, sie riechen besser und sind nicht mehr so mager. Ihre Kurven stecken in engen kurzen Röcken oder sind gleich halbnackt. Hauptsache auffallen – das scheint der inoffizielle Dresscode dieses Ladens zu sein. Dennoch kann mir keine von ihnen wirklich gefallen. Sie berühren mich nicht. Nichts berührt mich mehr. Auch wenn man es mir nicht ansieht, bin ich im Inneren schon lange tot.
Das Paradoxe ist, dass in meinem Fall auch ein Toter Hunger verspürt. Oder ist es Durst? Oder einfach Gier?
Ich fürchte, es gibt keinen adäquaten Begriff für das, was mich Nacht für Nacht – und manchmal selbst tags – raus in die Stadt treibt. New York ist dabei perfekt für meine Zwecke. Nirgends kann man besser untertauchen. Nirgends fällt es weniger auf, wenn jemand auf Nimmerwiedersehen verschwindet ...
Nur wer es heute sein wird, habe ich noch immer nicht entschieden.
Ich richte mich auf, lasse den Blick über die Frauen dort unten gleiten, über die austauschbaren Details ihrer Körper. Ein hautenges Kleid, Glitzerstoff, feste Oberschenkel und der Ansatz eines Höschens. Gleich daneben ein tiefes Dekolleté, an dessen Ansatz allerdings eine silberne Kreuzkette baumelt. Ich verziehe das Gesicht. Könnte Modeschmuck sein, aber vielleicht auch nicht, und falls Letzteres der Fall ist, habe ich ein Problem.
Weiter, irgendeine muss gut genug sein. Schön genug, um mir ein paar Minuten Ablenkung zu verschaffen. Arglos genug, um in meinen Armen zu sterben; in absoluter Ekstase, wie sie sie nie zuvor erlebt hat und auch nie mehr erleben wird ...
»Was ist los, hä? Gefällt sie dir?«, peitscht mir auf einmal eine Männerstimme von rechts entgegen. Sie hat einen unangenehmen Klang, wie ein Segel, das bei Sturm gegen einen Mast knallt. Ich bete zu allen Engeln der Hölle, dass die Worte nicht mir gelten, doch meine Gebete werden nicht erhört.
»Ich rede mit dir«, kommt es erneut von der nervtötenden Stimme und unruhige Finger tatschen dabei meine Schulter an.
»Wer gefällt mir«, sage ich mehr, als dass ich frage, denn im Grunde interessiert mich dieses Gespräch nicht. Männer sind ein Ärgernis und meines Erachtens nach vollkommen unnötig. Sie geben mir nichts, ziehen mich nicht an und wenn ich mal näher mit ihnen zu tun haben muss, dann meist in Situationen wie diesen. Oft genug fühlen sie sich von mir ans Bein gepinkelt, was kein Wunder ist. Instinktiv spüren sie wohl, dass ich ihnen überlegen bin, wie eine Horde kleiner Spaniels, die einem Leitwolf gegenüberstehen. Nur würden die Hunde auf die ihnen angeborenen Triebe hören und sich winselnd zu Boden werfen. Männer dagegen folgen manchmal dem völlig unsinnigen Reflex, nach mir zu schnappen. So wie dieses Exemplar hier.
»Na meine Freundin. Ich sehe doch, dass du sie beobachtest!«
Ach, das sieht er. Der Mann hat wohl eine blühende Fantasie, da ich bisher noch keine der Frauen genauer ins Auge gefasst habe. Aber gut, wenn er sie mir schon so anpreist, macht sie mich jetzt auch neugierig.
»Welche ist denn deine Freundin?«, frage ich.
Der Spaniel schnaubt hörbar. »Die in dem roten Kleid, die du die ganze Zeit anglotzt?!«
Meine Mundwinkel zucken. Die Fähigkeit, sich Illusionen zu machen, ist ein Segen und ein Fluch.
Ich suche nach einer Frau in einem roten Kleid und finde sie tatsächlich. Beinahe mittig auf der Tanzfläche zieht sie eine Show ab, kreist die Hüften zu den harten Industrialbeats, die nicht nur gepiercte Gothicmädchen, sondern auch reiche Töchter und Businessladys auf der Suche nach einem Abenteuer anlocken. Immer wieder fasst sie sich beim Tanzen beiläufig selbst an. Mal streichen ihre langen schwarzen Nägel über ihren Ausschnitt, mal über ihre breiten, gebärfreudigen Hüften.
»In der Tat sieht sie nicht übel aus«, lasse ich ihren kläffenden Freund wissen. »Vielleicht nehme ich sie mir heute Nacht. Aber keine Sorge, du kannst sie wiederhaben, wenn ich mit ihr fertig bin. Oder das, was von ihr übrig ist ...«
Nun brennt bei dem kleinen Wichtigtuer eine Sicherung durch.
Seine Arme hangeln fahrig nach meinem Kragen und er zerrt an mir. Ich tue ihm den Gefallen und wende mich ihm zu.
Dann sehe ich ihn an, ganz direkt, und weiß genau, was er in dem Moment erblickt. Verdammnis.
Niemand, der nicht schon mal in die Augen eines Toten gesehen hat, weiß, wie es ist, in meine zu sehen. Sie sind blau wie Eiswasser und genauso kalt.
Natürlich kann ich verschleiern, was ich bin, kann für eine Weile so etwas wie Leben, wie Interesse oder gar Leidenschaft in meinen Blick zwingen. In diesem Fall jedoch gibt es dafür keinen Grund. Ich trete einen Schritt auf den Fremden zu, der eben noch so eine große Klappe hatte, aber jetzt ändert sich das.
Es ändert sich ganz schnell.
Seine Finger rutschen von meinem Hemd und er scheint um ein paar Zentimeter zu schrumpfen. Ein Winseln entringt sich seiner Kehle.
Ich beuge mich zu ihm vor, so dicht, dass ich den Gestank nach Zigarettenrauch und das billige Kunstleder seiner Jacke riechen kann. »Ich sagte«, wiederhole ich, nur um ihn zu quälen, »dass ich sie mir für heute Nacht nehme. Hast du Einwände?«
Keine Antwort. Nur ein Zittern, ein Beben seines Körpers, der zu allem Elend auch noch deutlich schmaler ist als meiner. Doch ich könnte ihn so oder so zerquetschen, auch wenn er mir ebenbürtig wäre.
»Gut«, flüstere ich.
Dann wende ich mich von dem Kerl ab und lasse ihn oben auf der Galerie stehen, verstört und verängstigt, aber unversehrt. Ich glaube nicht, dass er damit gerechnet hat. Doch es hätte mir nichts gebracht, ihn zu töten. Das wäre reine Zeitverschwendung gewesen, sogar für mich.
Vor lauter Erleichterung wird er mich sicher kein weiteres Mal behelligen, selbst dann nicht, sollte ich mich an seine Freundin heranmachen.
Ob ich das tue, weiß ich allerdings noch nicht. Mädchen wie sie hatte ich schon zu hunderten, ihr Charme ist nahezu reizlos für mich geworden. Ich schiebe mich durch die Menge der Tanzenden, gehe dicht an ihr vorbei, wie ein Schatten, und atme ihren Geruch ein. Sie riecht nach Sex. Ob ihr kleiner Freund weiß, dass sie ihn heute Abend bereits betrogen hat?
Liebe ist doch wirklich etwas Lächerliches.
Ich beschließe, mir erst mal einen Drink zu holen, bevor ich mit meiner Suche weitermache und trete an die Bar, die in irisierender Metalloptik aufgemacht ist. Auch wenn ich weiß, dass die Theke keinesfalls aus Silber besteht, sträubt sich etwas in mir dagegen, sie zu berühren, sodass ich ein paar Zentimeter entfernt innehalte.
Eine der Kellnerinnen erregt meine Aufmerksamkeit. Sie hat mir den Rücken zugewandt und schneidet Limetten. Mir fällt ihr schlanker Hals auf, umspielt von schwarz gefärbtem, schulterlangem Haar. Ihre Schultern sind symmetrisch, die Arme tätowiert, ihr schwarzes Top verhüllt die Kurven einer perfekten Taille. Doch da ist noch etwas, das mich an dieser Frau reizt, nein, eher irritiert. Ihr Duft. Dieses süße, kräftige und doch leichte Aroma wie von Damaszenerrosen kurz vor der Blüte, das mich dazu bringt, über die Theke springen und sie an mich reißen zu wollen, gegen meinen Verstand, gegen jede Vernunft. Ist das ...
Nein, das kann nicht sein. Absolut ausgeschlossen, und doch kann ich meinen Blick nicht von dieser Frau abwenden. Wie sie sich bewegt, wie sie steht, wie sie leicht den Kopf neigt, während sie mit schnellen, geschickten Schnitten eine Frucht nach der anderen zerteilt. All das kenne ich, auch wenn es unmöglich ist. Es ist ausgeschlossen, ein Tagtraum, dem ich mich nicht hingeben sollte.
Doch dann dreht sie sich um und sieht mich direkt an. »Hey, was darf’s denn ...«
Ihre Stimme erstirbt, als unsere Blicke sich treffen, doch das nehme ich nur am Rande wahr.
Ich starre in ihre großen blauen Augen, schaue fassungslos auf ihre ausgeprägten Wangenknochen, die zierliche Nase, die vollen, perfekt geformten Lippen. Ich kann es nicht länger vor mir verleugnen: Diese Kellnerin, sieht exakt aus wie sie.
Wie Lizzy Langley, die einzige Frau, die mir je etwas bedeutete.
Lizzy, die ich vor 335 Jahren mit meinen eigenen Händen begrub ...


 


 


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