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Belletristik
Buch Leseprobe Tropfenweise, Nicole Makarewicz
Nicole Makarewicz

Tropfenweise



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PROLOG


Ein Tropfen löst sich. Fällt zu Boden. Perfekt geformt. In Zeitlupe nähert er sich den weißen Fliesen. Trifft auf. Im Waschbecken eine Rasierklinge. Achtlos fallen gelassen. Sie hat ihren Zweck erfüllt.


Sie starrt auf ihr Handgelenk. Ungläubig erst, kann es nicht fassen und ist doch unendlich erleichtert. Es ist vorbei. Sie sieht das Blut, das Leben auslaufen. Tropfen für Tropfen. Weiße Fliesen, gesprenkelt, rot. Wie Blütenblätter einer Rose, samtig, satt, intensiv. Mit den Fingern zieht sie Kreise, malt mit ihrem Blut, bildet Wörter, schreibt,schreit innerlich. Getreten, zerschlagen das ist sie. Zerrissen,in Stücke gebrochen. Eine Erleichterung, den Schmerz endlich zu spüren.


Nichts ist mehr von Bedeutung. Es zählt nur der Moment. Vergangenheit, Gegenwart, keine Zukunft. Kein Morgen mehr, kein Später. Vergessen. Vielleicht. Und danach? Erlösung. Oder nichts. Leere, keine Antworten. Keine Fragen.


Als hätte ihr jemand einen Stoß versetzt, taumelt sie vorwärts,stützt sich am Rand des Waschbeckens ab. Sieht Schlieren auf weißem Porzellan. Im Spiegelbild Angst, Verzweiflung, Ratlosigkeit. Dunkle, fast schwarze Haarsträhnen, die stumpf und glanzlos ins Gesicht fallen. Die Augen geweitet, krampfhaft offengehalten. Zum Irrsinn nur ein kleiner Schritt. Sie erlaubt sich kein Zwinkern. Nicht nachgeben,keine Schwäche zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber.


Wut und Hass übermannen sie. Der Damm ist gebrochen. Sie tobt, wütet, schlägt um sich, schreit. Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!


Endlich beginnen die Tränen zu fließen. Sie bricht zusammen. Auf den Boden gekauert, schlägt sie die Hände vors Gesicht, beginnt haltlos zu schluchzen. Ihr Körper bebt. Blut, Schweiß, Rotz und Tränen vermischen sich, besudeln T-Shirt, Jeans, den Boden. Kalt auswaschen, schießt es ihr durch den Kopf, Blut muss kalt ausgewaschen werden. Das Ende ist trivial. Ein Ruck durchläuft ihren Körper. Nicht so.


Ausgelaugt, benommen, wird sie ruhiger. Stunden später, so kommt es ihr vor. Die Zeit läuft langsamer und schneller zugleich. Bleibt stehen, springt vorwärts. Dehnt sich aus wie Kaugummi, der zu Fäden gezogen wird. Ein Riss in der Wahrnehmung. Wie spät?


Geschwächt vom Gefühlsaufruhr, vom Blutverlust benebelt, zieht sie sich hoch. Langsam. Mit letzter Kraft. Es ist unsagbar schwer, nicht aufzugeben. Sie wickelt ein Handtuch um ihr Handgelenk. Verbindet die Schnitte, stoppt die Blutung.


Ein Geräusch. Schritte. Constance dreht sich um. Er sollte nicht hier sein. Und steht dennoch in der Tür. Enttäuscht. Die Trauer in seinen Augen trifft sie wie ein Schlag. Sie weicht zurück.


Er sieht sie an, fragt nicht, warum. Es gibt keine Antwort, und das weiß auch er. »Du hast es versprochen.« Keine Anklage. Er bittet. Er dreht sich um, klein und zerbrechlich.Verletzt. Seine Schritte verklingen, die Tränen beginnen wieder zu fließen. Tränen der Scham, der Reue.


 


SECHZIG


Luca saß vor dem Fernseher. Eine japanische Zeichentrickserie. Junkfood fürs Gehirn. Heute war Constance alles recht. Jede Ablenkung kam gelegen. Nicht nachdenken müssen. Nur nicht denken. Sie setzte sich zu ihm auf die Couch. Er hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen, das Kinn auf den Knien. Lautloses Schluchzen schüttelte seinen Körper, sein Gesicht war Tränen überströmt. Constance streckte den Arm aus, wollte ihn berühren, ihn an sich ziehen, den Schmerz wegstreicheln. Doch dann ließ sie die Hand sinken. Als ob das etwas änderte. Sie hatte ihm das Schlimmste angetan. Absolution konnte sie nicht erwarten.


Sie nahm eine Decke, legte sie ihrem Sohn um die Schultern. Zuerst wollte er sie abstreifen, wehrte sich gegen ihren Arm, schlug um sich. Dann war er nur noch acht Jahre alt und flüchtete vor der Wirklichkeit in die Arme seiner Mutter. Die ihn beschützen sollte, versagt hatte. Constance und Luca klammerten sich aneinander wie Ertrinkende.


»Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Die Lippen in sein Haar gepresst, wiederholte sie die Entschuldigung immer wieder. Ein Mantra der Schuld, um Vergebung flehend. »Bitte nicht weinen. Wein nicht, Mami.« Jetzt waren die Rollen vertauscht. »Es wird alles wieder gut.« Die Hoffnung eines Achtjährigen. Bescheiden und doch fast unerfüllbar. Verzweifelt wünschte sie, ihm all das ersparen zu können.


Irgendwann wurden die Pausen zwischen Lucas Schluchzern länger, sein Atem ruhiger. Er schlief ein. Constance hielt ihn im Arm, streichelte sein Haar, sein erhitztes, vom Weinen verschwollenes Gesicht. Er war alles für sie. Sie schwor sich, ihn nie mehr zu enttäuschen. Er musste ihr wieder vertrauen können. Seine seelischen Wunden würden heilen. Narben bleiben. Aber er würde darüber hinwegkommen, redete sie sich ein. Er war so erwachsen, viel zu reif für sein Alter. Doch was war mit ihr?


Sein Wimmern riss sie aus dem Schlaf. Sie benötigte einige Sekunden, die Orientierung wieder zu erlangen. Sie lagen auf der Couch. Luca war nass geschwitzt, hatte sich von der Decke freigestrampelt und dicht an sie gekuschelt. Er weinte im Schlaf. Das schlechte Gewissen schnürte ihr die Kehle zu. Sanft rüttelte sie ihn wach. »Komm, ich bring dich ins Bett.« »Darf ich bei dir bleiben?«, murmelte er schlaftrunken. Er war todmüde. »Na klar.« Sie hob ihn hoch und brachte ihn in ihr Schlafzimmer. Als sie ihn ins Bett legte, schlief er bereits. Sie blieb stehen, sah ihn an und Liebe überwältigte sie. Sie wandte sich ab, verließ leise den Raum.


Das Badezimmer. Sie musste die Spuren ihres Wahnsinns beseitigen. Widerstrebend blieb sie vor der Türe stehen. Sie konnte da nicht wieder hinein. Wer kehrt freiwillig in die Hölle zurück? Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Davonlaufen. Darin war sie gut. Beinahe hätte sie sich heute – oder war es gestern? – davongestohlen. Was für ein Abgang. Teatralisch, egozentrisch, unfair.


Luca. Endlich überwand sie sich, öffnete die Tür. Das Licht zu grell, die Fließen zu weiß, das Blut zu rot. Nicht real. Eine Filmkulisse, nicht das Leben. Der Schauplatz eines Kampfes.


Müde begann sie zu putzen. Sie war erschöpft, verstört. Qualvoll, das eingetrocknete Blut abzukratzen, die verkrusteten Schlieren zu entfernen. Blut, überall Blut. Vergossen im Gefecht mit Dämonen, denen sie sich weder stellen noch ihnen trotzen konnte. Beinahe drei Stunden wischte, schabte, kratzte, schrubbte, putzte sie. Stunden, in denen sie das Geschehene in Gedanken wieder und wieder durchlebte. Stunden der Sühne, der Reinigung, der Buße. Sich selbst verzeihen? Unmöglich.


Erst als das Badezimmer aussah wie neu, fand sie ein wenig Erleichterung. Doch der Zwang zu reinigen, ließ nicht nach. Sie duschte. Wasser prasselte auf ihren Körper, so heiß, dass sie es kaum ertragen konnte. Unzählige Male seifte sie ihren Körper ein, schrubbte sich mit einer Bürste ab, versuchte, das Blut unter ihren Fingernägeln zu entfernen. Und entdeckte immer noch verbliebene Reste. Real oder eingebildet? Lady Macbeth. An ihren Händen klebte Blut. Blut, das sie vergossen hatte. Sie hatte versucht zu töten. Der Tod als Ausweg? Eine letzte, ultimative Wahlmöglichkeit. Für den, dem keine Wahl bleibt.


Wasserdampf erfüllte das Badezimmer. Es war drückend schwül. Der Spiegel völlig beschlagen. So musste sie sich wenigstens nicht in die Augen sehen. Sie zweifelte, dazu stark genug zu sein. Die besudelten Kleidungsstücke warf sie in den Müll. Unmöglich, die Vorstellung, sie je wieder zu tragen.


Noch lange lag sie wach. Neben ihrem Sohn, der sich unruhig herumwälzte. Erst im Morgengrauen fand sie Ruhe, ein leichter Schlaf, aus dem sie wieder und wieder hoch schreckte. Orientierungslos, angsterfüllt, leer.


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