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Belletristik
Buch Leseprobe Tiefparterre, Tanja Hollmann
Tanja Hollmann

Tiefparterre



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   Tiefparterre

                                                                         1

                                                                                                                    November 2002

  Verträumt schloss sie die Augen und lehnte die Stirn gegen das Fenster der Dachgeschosswohnung. Regen prasselte gegen die Scheibe und lief in Rinnsalen das Glas hinab. Wind zog durch die Rollläden und ließ sie klappern wie Zähne, die aufeinander schlugen. In der Nachbarwohnung knallte eine Tür in regelmäßigen Abständen auf und zu. All dies konnte ihre Laune nicht trüben. Sie sah aus dem Fenster und wartete auf ihren zukünftigen Ehemann. Keine drei Stunden war es her, dass er vor ihr gekniet und um ihre Hand angehalten hatte. Sie atmete tief durch und lächelte, als sie daran dachte, wie sie ihm daraufhin um den Hals gefallen war. Noch bevor sie seinen Antrag angenommen hatte, hatten sie auf dem Teppich gelegen und sich geliebt. Mit dem letzten Atemzug der Ekstase hatte sie ihm die Antwort ins Ohr gehaucht. Seitdem war sie seine Verlobte und dieses neue Lebensgefühl sollte gebührend gefeiert werden. Er hatte einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant direkt am Ufer des Großensees reserviert.

  Sie ging ins Bad, um ihr Make-up aufzufrischen und ihre braunen Locken durchzubürsten. Gerade als sie sich Parfum an den Hals sprühen wollte, klingelte es. Obwohl sie es nicht erwarten konnte, ihn zu sehen, zuckte sie erschrocken zusammen. Mit gekünstelter Ruhe sprühte sie sich den Duft auf die Haut, verschloss den Flakon und ging erst dann zur Tür. Ein leiser Verzückungsschrei entfuhr ihrer Kehle, als sie ihn erblickte.
Es war das erste Mal, dass sie ihn in einem Anzug sah. Ihr wurde bewusst, wie viel ihm dieser Abend bedeutete. Der graue Zweiteiler über dem weißen Hemd stand ihm unverschämt gut und brachte sein dunkles Haar zur Geltung. Grinsend stand er in der Tür und streckte ihr eine Flasche Dom Pérignon und eine rote Rose entgegen.
Sie zog ihn in die Wohnung, schloss die Tür und schlang ihm die Arme um den Hals.
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und knabberte dann zärtlich an ihrem Ohrläppchen, wie sie es so gern hatte.
  „Ich habe dich vermisst, Süße.“
  Benommen schloss sie die Augen und gab sich seinen Liebkosungen hin. „Bist du sicher, dass wir nicht hier bleiben wollen?“, flüsterte sie und hoffte, dass sie ihn überzeugen konnte, zu Hause zu bleiben. So sehr sie sich auf den Abend gefreut hatte, sein Anblick reizte sie. Plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihn für sich allein zu haben.
  Ohne die Lippen von ihrem Hals zu lösen, wisperte er: „Der Tisch ist reserviert.“ Er knabberte sich ihren Hals entlang und murmelte: „Du riechst unverschämt gut.“
  Sie lächelte, denn sie hatte vorher gewusst, dass dieser blumige Duft ihm besonders gut gefiel.
Sie deutete auf die Champagnerflasche, die er noch immer in der Hand hielt. „Du willst hoffentlich nicht trinken, bevor du fährst?“
  Er löste sich von ihr, stellte die Flasche auf den Tisch und lächelte verschmitzt. „Die ist für später.“
  „Du bleibst heute Nacht?“ Sie spürte ihr Herz schneller schlagen und dachte voller Vorfreude an die Nacht, die ihr bevorstand.
  Er legte ihr seine Arme um die Schultern und drückte ihren Körper an sich. „Ich bin jetzt dein Verlobter.“ Zärtlich kniff er ihr in den Po. „Und nun lass uns los. Ich komme um vor Hunger.“

  Die Fahrt von Trittau nach Großensee war kurz, aber anstrengend. Der Scheibenwischer lief auf höchster Stufe. Trotzdem konnten sie kaum fünfzig Meter weit sehen. Es schüttete schneller, als der Scheibenwischer hinterher kommen konnte. Der Wind wirbelte das Laub meterhoch über die Straße. Wolkenmassen schoben sich in rasantem Tempo vor den Mond, um ihn wieder freizugeben, bevor die nächsten Wolken heran rauschten.
  Er fuhr, dem Wetter angemessen, vorsichtig. Sie warf ihm heimliche Blicke zu und bewunderte seinen konzentrierten Gesichtsausdruck. Seine Hände strahlten soviel Kraft aus und waren zugleich die zärtlichsten Werkzeuge, die sie je berührt hatten.
Plötzlich, direkt hinter einer Kurve, kniff er die Augen zusammen.
  „Gütiger Himmel.“ Er trat auf die Bremse.
  Sie löste den Blick von ihm und sah nach vorn. In ihrem Hals steckte ein Kloß.
„Oh Gott“, rief sie und holte sofort ihr Handy aus der Jackentasche. Im Straßengraben lag, aufs Dach gekehrt, ein dunkler Wagen. Die Reifen drehten sich noch. Im Inneren rührte sich nichts.
  Er stoppte und riss seine Tür auf. Während er ausstieg, rief er ihr zu: „Ruf einen Krankenwagen.“ Durch Regen und Wind war seine Stimme kaum zu verstehen. Sie nickte, obwohl er sie längst nicht mehr sehen konnte. Die Nummer der Feuerwehr hatte sie bereits gewählt. Nachdem sie den Unfallort, so gut es ging, beschrieben hatte, schilderte sie, was sie sah und eilte ihrem Verlobten danach zur Hilfe.
  Er lag bereits im Straßengraben und hatte die Tür des Unfallfahrzeugs geöffnet. Als sie näher kam, sah sie, dass sein Hemd blutverschmiert war. Einen Moment zögerte sie. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Sie fürchtete sich vor dem Anblick, der sich ihr bieten könnte. Der eisige Regen peitschte ihr ins Gesicht und zerrte sie zurück in die Wirklichkeit. Ohne länger zu zögern, stürzte sie sich ebenfalls in den Graben. Er sah sie dankbar an.
  „Hilf mir. Wir müssen die Frau raustragen.“
Er presste mehrere Mullkompressen mit seiner Hand gegen die Platzwunde am Kopf der Fahrerin. Die Tücher färbten sich zusehends rot. Aber die Frau war bei vollem Bewusstsein. Obwohl sie zitterte, machte sie einen Versuch zu lächeln.
Sie halfen ihr aus dem Auto heraus. Es war nicht zu übersehen, dass die Fahrerin unter Schock stand. Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihr Unterkiefer zitterte. Ihre Bewegungen waren unkontrolliert. Sonst schien sie unverletzt zu sein. Sie bestand darauf, selbst zu laufen und so halfen sie ihr aus dem Graben hinauf auf die Straße.

  Die Äste der riesigen Kastanien bogen sich im Wind bedrohlich durch. Der Regen hatte sie bis auf die Haut durchnässt. Er drückte die hintere Tür seines Wagens gegen den Windwiderstand auf, während sie der Frau in das Auto half. Sie wollte sich zu der Frau setzen, um ihr Trost zu spenden, doch die Frau begann zu weinen, bevor sie bei ihr im Auto war.
  „Meine Tasche … ich brauche … im Auto.“ Sie brachte keinen vollständigen Satz hervor, aber es war auch so klar, dass sie ihre Handtasche nicht im Wagen zurücklassen wollte.
  „Was ist?“, schrie er durch den Regen hindurch ins Auto. Er stand klatschnass auf der Straße. Der Anzug lag ihm schwer auf den Schultern, das Haar hing ihm tropfend auf der Stirn.
Sie stieg aus, um die Tasche zu holen.
  „Setz du dich zu ihr. Ich hole ihre Tasche.“ Sie wollte los, doch er hielt sie zurück.
„Ich mache das.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, ging er einen Schritt zurück, um sich in Bewegung zu setzen.
  Reifen quietschten, Scheinwerfer leuchteten auf. Ein Wagen kam aus der Kurve heraus gerast. Bevor sie reagieren konnte, fühlte sie einen Schlag, der sie von den Füßen riss. Das Auto hatte sie gestreift. Sie prallte gegen die offene Tür ihres Wagens, sackte vor Schmerz zusammen und schlug bäuchlings mit dem Kinn auf der Straße auf. Unfähig sich zu rühren sah sie verschwommen, wie er mehrere Meter weit durch die Luft geschleudert wurde. Der Wagen musste ihn frontal erwischt haben. Sie wimmerte und musste mit ansehen, wie sein Körper auf dem Boden aufschlug. Dem dumpfen Klang des Aufschlags folgte im Bruchteil einer Sekunde das Geräusch berstender Knochen. Augenblicklich breitete sich eine Blutlache um ihn herum aus. Obwohl sie den eigenen Schmerz kaum ertragen konnte, schrie sie immer wieder seinen Namen. Doch er rührte sich nicht. Nicht ein Zucken durchfuhr seinen Körper, kein Schrei, kein Stöhnen. Nur ihre eigene Stimme hallte durch die Dunkelheit. Immer und immer wieder rief sie seinen Namen. Sie schrie, selbst als alles um sie herum schwarz wurde und sie sich im Nichts verlor.


                                                                    2

                                                                                                                    Oktober 2006

  Mit gemischten Gefühlen faltete Noel den Brief zusammen und presste ihn an ihr Herz. Auf dieses Schreiben hatte sie seit Jahren hingearbeitet. Es war der Lohn für die harte Arbeit, die sie geleistet hatte. Endlich hatte sie die Möglichkeit etwas zu erreichen. Aber sie musste es geschickt anstellen, um nicht aufzufallen. Erst wenn sie sicher war, würde sie zuschlagen. Und das würde sie tun.
  Noel steckte den Brief in die Schublade des Arbeitstisches, schob sie zu und lehnte sich in dem antiken Lederstuhl zurück, der mehr einem Sessel, denn einem Stuhl glich.
Diesen extravaganten Lebensstil hatte sie nie sonderlich gemocht. Es war Ralfs Geschmack und darin war er eigen. Das Teuerste war gerade gut genug. Alles musste hochwertig und nobel sein. Anfangs hatte sie sich dagegen aufgelehnt. Inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, weshalb er so viel Wert darauf legte. Es war seine Weise, seinen Eltern auszudrücken, wie Unrecht sie hatten. Immer wieder warfen sie ihm vor, dass er es zu nichts brachte. Jetzt bewies er ihnen das Gegenteil. Er hatte es zu etwas gebracht. Seine Praxis lief hervorragend. Sein Haus war das Protzigste der Gegend. Die Einrichtung war das Sahnehäubchen, das er mit Stolz präsentierte. Damit zeigte er ihnen, dass er es geschafft hatte.
Diese Eigenschaft zählte nicht zu denen, die Noel an ihm schätzte. Trotzdem hatte er überwiegend positive Seiten. Eine Kleinigkeit hatte sie allerdings im Haus durchgesetzt, obwohl sie nicht in sein Konzept passte. Überall an den Wänden hingen vergrößerte Fotografien, die sie durch die schönste Zeit ihres Lebens begleitet hatten.

  Ralf war in ihrem Leben aufgetaucht, als sie jemanden wie ihn dringend gebraucht hatte. Er hatte ihr Kraft und den Mut zum Leben gegeben, als ihre Welt zusammengebrochen war. Als alle Anderen ihr den Rücken gekehrt hatten, war er für sie da gewesen. Noel erinnerte sich ungern an die falschen Freunde, die sie damals begleitet hatten. Nachdem sie ihnen von ihrer Absicht erzählt hatte, war man ihr mehr oder weniger geschickt aus dem Weg gegangen.
Diesen Fehler hatte sie bei Ralf nicht gemacht. Heute lag ihr dieser Punkt besonders auf der Seele. Ihr Mann hatte es verdient, über ihre wahren Beweggründe Bescheid zu wissen. Er unterstützte sie, wo immer sie Hilfe brauchte und er liebte sie. Gerade deshalb belastete ihr Gewissen sie. Aber sie wusste, würde er ahnen, was sie vorhatte, würde er es verhindern. Das konnte und wollte sie nicht zulassen. Niemals. Ihre Entscheidung stand felsenfest.
  Ralf hatte seine Ecken und Kanten. Für sie war das Haus eine dieser Ecken. Es stellte seinen Status in der Gesellschaft dar. Doch ihr fiel es weiß Gott nicht leicht, in einem Haus zu leben, das vollkommen unpersönlich war. Ein Heim zum Wohlfühlen war es niemals gewesen und würde es für Noel auch niemals werden.
  War es dann nicht zu vertreten, dass auch sie ihre Ecken und Kanten hatte? Okay, gegen das Geheimnis, das sie vor ihm verbarg, waren seine Macken Peanuts. Dafür war das Motiv für ihr Geheimnis viel bedeutender als sein Statusproblem. Noel hatte einen Grund für ihr Handeln. Einen Antrieb, der so tief in ihr saß, dass er ihr Leben bestimmte. Sie liebte Ralf, dessen war sie sich sicher. Trotzdem nahm sie in Kauf, ihre Ehe durch dieses gut gehütete Geheimnis zu riskieren. Niemand auf der Welt sollte von ihren Beweggründen erfahren, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Niemand!

  Noel stand auf und ging in die Küche. Der lichtdurchflutete Raum glänzte, wie das Spitzenmodel eines Versandhauskataloges. Nicht ein Fleck haftete auf den elfenbeinfarbenen Einbauschränken, die bis unter die Decke reichten. In der Mitte der Küche thronte die überbreite Kochinsel. Darüber hingen Töpfe, Pfannen und Rührlöffel jeder Art. Natürlich alles staub- und fettfrei. Manchmal plagten Noel richtige Hemmungen, etwas zu benutzen. Die Haushälterin, die jeden Tag mehrere Stunden den Haushalt führte, wischte jeden Krümel fort den Noel einmal fallen ließ. War Noel nicht schnell genug, kam es gar nicht erst dazu, dass sie Krümel hinterlassen konnte. Oftmals war das Essen fertig, wenn sie selbst gern gekocht hätte. Herr Doktor hätte es so angewiesen hieß es dann. Noel wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Lieber lebte sie mit dem ein oder anderen Krümel und Staubkorn, als sich nicht mehr im eigenen Haus bewegen zu können. Doch Ralf erkannte nicht, dass er sie damit quälte. Er war davon überzeugt, dass er ihr damit den größten Gefallen tat, den man einer Frau tun konnte. Vielleicht bin ich nur undankbar, dachte Noel oft genug.
  Aber heute konnte dieses Problem warten. Noel hatte freie Bahn und freute sich, selbst etwas Leckeres zuzubereiten. Selbst auf das Aufräumen danach freute sie sich.
  Sie öffnete die Kühlschranktür und überlegte, wie sie ein besonders schönes Abendessen zaubern könnte, um ihm die Neuigkeit auf dem Silbertablett zu präsentieren. Zum Glück entdeckte sie die benötigten Zutaten für seinen innig geliebten Geflügelsalat im Kühlschrank. Sie nahm alles heraus, bereitete den Salat und deckte den Tisch im Esszimmer. Wie ein Schmuckstück lag es direkt zwischen Küche und Wohnzimmer im Wintergarten. Ralf hatte die Außenwände beider Räume einreißen lassen. Vorher befand sich die Terrasse zwischen Küche und Wohnzimmer, heute dieser imposante Wintergarten. Efeu und Klematis rankten um die Wette und hüllten das Glas in einen romantischen Vorhang, wie nur die Natur es vermochte. Die untergehende Sonne warf verspielte Schatten auf den Esstisch. Noel stellte Weingläser, einen Weißwein und zwei Kerzen auf den Tisch. Alles war perfekt. Fast alles. Sie sah an sich hinab und lachte. In Küchenschürze, befleckter Bluse und zerrissener Jeans war sie der einzige Schmutzfleck, der nicht in das Ambiente passte.

  Bis Ralf durch die Tür kam, hatte sie es geschafft, zu duschen und sich angemessen anzuziehen. Das schwarze Top, das Ralf ihr von der letzten Kongressreise mitgebracht hatte, passte ausgezeichnet zu der olivgrünen Cordhose. Noel setzte ihre Brille auf, band sich das schwarze Haar zu einem straffen Zopf und ging in die Küche, um Ralf zu begrüßen.
Er zog sein Jackett aus und hängte es über die Lehne des Küchenstuhls. Die Anzughose brachte seinen sportlichen Körperbau zur Geltung. Die hellen Haare auf seinen Armen ließen seine Haut jedoch noch blasser erscheinen, als sie tatsächlich war. Er brauchte unbedingt mehr Zeit an der frischen Luft. Stattdessen arbeitete er nahezu rund um die Uhr, ohne sich eine Pause zu gönnen.
  Er zog die Schuhe aus, stellte sie im Flur unter die Garderobe und kam zurück in die Küche. Erst dann gab er Noel einen Kuss, wandte sich jedoch schneller von ihr ab, als sie es begreifen konnte.
  „Ich muss noch einige Telefonate führen, Baby.“ Auf dem Weg in sein Büro fragte er: „Was gibts zum Abendessen?“
  Enttäuscht ließ sich Noel auf den Stuhl sinken. Sie fragte sich, wann ihre Ehe so oberflächlich geworden war. Das war nicht immer so gewesen. Anfangs hatte er immer eine Minute Zeit für sie gehabt, egal wie viel er zu tun gehabt hatte. Jetzt bemerkte er nicht, dass ihr etwas auf der Zunge brannte. Scheinbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass sie die Frage nach dem Essen nicht beantwortet hatte. Noel ließ den Kopf in die auf dem Tisch verschränkten Arme fallen und schloss die Augen.
  Wie lange sie dort verharrte, wusste sie nicht. Als sie einen Arm auf ihrem Rücken spürte, schrak sie auf.
  „Hey, Baby, sorry, dass du warten musstest.“
  Noel nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Ralf kniete neben ihr und streichelte ihre Wange. Seine blauen Augen schweiften über ihr Gesicht.
  „Ich muss eingeschlafen sein.“ Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte die Brille wieder auf. Ralf lächelte sie noch immer genauso verliebt an, wie er es immer getan hatte.   Wenn er sie auf diese ganz bestimmte Art anlächelte, bildeten sich kleine Grübchen rechts und links von seinem Mund. Noel hatte sie vom ersten Tag an geliebt. Sie gaben seinem sonst eher markanten Gesicht, gefühlvolle Züge. Noel legte ihm den linken Arm um den Hals und fuhr mit den Fingern der rechten Hand durch sein dunkelblondes Haar. Er trug es immer streng zurückgekämmt. Noel liebte es, an seinem Haar zu zupfen und ihm einige Strähnen ins Gesicht fallen zu lassen.

  Er ergriff ihre Hand und streichelte sie zärtlich. „Was ist, wenn jetzt ein Notfall reinkommt?“
Noel grinste. „Ich mag es, wenn du ein bisschen verwegener aussiehst.“ Sie küsste ihn auf sein stets tadellos rasiertes Kinn. „Lass uns essen, Schatz. Ich habe eine gute Nachricht.“
Er richtete sich auf und half Noel vom Stuhl auf. „Was gibt es denn zu essen? Es riecht köstlich.“
  Sie gab ihm einen Kuss, nahm seine Hand und zog ihn in den Wintergarten. Von dem romantischen Lichtspiel der Sonne war inzwischen nichts mehr übrig geblieben. Genau wie von Noels Vorfreude. Ralf wusste, dass sich Noel in der Lübecker Privatklinik beworben hatte und er wusste, dass sie auf die Zustimmung der Personalleitung wartete. Es wäre demnach unschwer für ihn gewesen, die gute Nachricht zu erahnen. Trotzdem ignorierte er diesen Hinweis und setzte sein ganzes Interesse auf das Essen. Noel war enttäuscht, dass dieser Abend nicht so verlief, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie schluckte die Enttäuschung hinunter und beschloss mit der Neuigkeit zu warten, bis er fragen würde.
  Noels Belange mussten warten, bis er nach dem Essen ferngesehen, geduscht hatte und im Schlafanzug neben ihr im Bett lag. Er gab ihr den obligatorischen Kuss, drehte sich auf die Seite und schaltete das Licht aus. Nach zehn Minuten, in denen Noel ihre Ehe in Frage stellte, drehte er sich ihr zu.
  „Du sagtest vorhin, du hättest eine gute Nachricht.“
  Noel setzte sich auf, knipste das Licht an und sah ihm in die Augen. „Die hatte ich“, erwiderte sie, ohne ihre inzwischen verdorbene Laune zu verbergen.
  Er richtete sich ebenfalls auf und zog sie an sich. „Tut mir leid, Baby. Ich habe im Moment so viel Stress, dass ich es vergessen habe.“
  „Ich erzähle es dir beim Frühstück. Vielleicht hast du dann gerade keinen Stress.“
  „Ich will es jetzt wissen.“ Er küsste ihren Nacken. „Lass deinen Mann nicht zappeln.“
  „Verdient hättest du es“, antwortete Noel. Doch sein Blick weichte ihr Herz bereits wieder auf. Sie langte in die Schublade ihres Nachtschränkchens und zog den Umschlag hervor, den sie vor dem Schlafengehen dort hineingelegt hatte. „Der Brief, auf den ich gewartet habe.“
  „Du hast mir nicht erzählt, dass du Post erwartest.“
  „Ich habe dir aber erzählt, dass ich mich in der Pretzius Klinik beworben habe. Schon vergessen?“, fragte sie mit zynischem Unterton.
  „Wie hätte ich das vergessen können? Du redest von nichts anderem.“
„Mir liegt der Job am Herzen. Wenn du mir zuhören würdest, wüsstest du das.“
  Er nahm Noel den Brief aus der Hand, den sie ihm entgegen hielt, und las ihn durch. „Herzlichen Glückwunsch dann auch“, sagte er und reichte ihr den Brief zurück. „Meine Meinung dazu kennst du.“
  Seine Worte brachten Noel auf hundertachtzig. „Wieso kannst du dich nicht für mich freuen? Meine Meinung kennst du ebenso gut.“ Sie schlug die Bettdecke zurück, stand auf und lief im Zimmer auf und ab. „Habe ich jemals deine beruflichen Entscheidungen hinterfragt?“ Ohne dass sie es wollte, wurde ihre Stimme lauter.
  „Ich will nicht, dass meine Frau arbeiten muss.“
  „Ich muss es nicht. Ich will es und das hast du zu akzeptieren, ob es dir passt oder nicht.“ Noel drehte ihm den Rücken zu. Sie sah aus dem Fenster hinaus in den Garten. Das Mondlicht spiegelte sich in dem mit Seerosen bewachsenen Gartenteich, aber Noel nahm die Schönheit dieser künstlich angelegten Natur nicht wahr.
  „Hast du dich abgekühlt, Baby?“, fragte er.
  Sie drehte sich ihm zu und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Nicht solange du dich über meine Meinung hinwegsetzt.“
  „Komm zurück ins Bett.“ Er hielt ihr die Decke auf. Mit einem mürrischen Gesicht legte sie sich in das überbreite Ehebett, drehte ihm jedoch den Rücken zu. „Wenn du unbedingt arbeiten willst, dann in meiner Praxis.“
  Sie setzte sich wieder auf. „Dann wissen aber noch mehr Leute, dass deine Frau arbeiten muss, Herr Doktor Thalbach. Außerdem will ich in die Chirurgie und nicht in eine ambulante Praxis. Dafür habe ich mich ausbilden lassen.“
  „Meine Praxis ist also nicht gut genug für dich?“
  „Du drehst mir das Wort im Mund herum, wie es dir beliebt. Was passt dir an meinem Wunsch nicht?“
  Er zog Noel an seine Brust und streichelte über ihr Haar. Dann grinste er sie an. „Zu viele gut aussehende Ärzte.“ Bevor sie protestieren konnte, brachte er sie mit einem Kuss zum Schweigen.
  Noel ließ es tatsächlich auf sich beruhen und schloss in seinen Armen die Augen. An ihrer Entscheidung hielt sie jedoch fest. Es war richtig, Ralf nicht an ihrem Plan teilhaben zu lassen. Wüsste er, was sie wirklich bewegte, würde er sie niemals dort arbeiten lassen. Aber dieses eine Mal setzte sie sich über seine Entscheidung hinweg. Noch nie war sie ihrem Ziel so nahe gewesen wie jetzt. Die gut aussehenden Ärzte der Pretzius Klinik sollten sich besser warm anziehen.



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