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Belletristik
Buch Leseprobe Spuren unter der Haut, Karl-Heinz Behrendt
Karl-Heinz Behrendt

Spuren unter der Haut


Reflektionen wahrer Begebenheiten

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Die erste Feuertaufe


…………..


Am 23. Januar 1945 in aller Herrgottsfrühe kam überraschend der Marschbefehl nach Königsberg, weil diese Stadt unmittelbar bedroht war. Mit der Eisenbahn fuhren wir dorthin, wo wir mit Lastkraftwagen Richtung Tapiau weiter verfrachtet wurden.


In Groß Lindenau war erst einmal Schluss. In einer Unterkunftsbaracke bezogen wir Quartier und wurden zu unserer großen Überraschung in einen dortigen Gemeinschaftsraum geführt. Hier wurden wir von politischen Leitern der NSDAP, von Funktionärinnen der NS-Frauenschaft und wer weiß noch von wem, als Helden begrüßt und auf Vorschuss gefeiert.


Wir kamen uns vor, als hätten wir im Verband mit Segelflugzeugen den Atlantik überquert! Heldenhafte Sprüche wurden  geklopft und die Gewissheit postuliert:


„Hier sind Hitlerjungen angetreten, die dem Feind des deutschen Volkes, der Roten Armee, entscheidenden Widerstand entgegensetzen werden! Groß Lindenau wird daher nie in feindliche Hände fallen!“


So, oder so ähnlich klangen die beschwörenden Reden derjenigen, die sich dazu berufen fühlten.


Dazu wurden von der örtlichen Molkerei kannenweise Milch, kartonweise Butterhalbpfunde und stapelweise nie gesehene Mengen ganzer Käsebrode angekarrt und uns vor die Füße gestellt. Wir sollten uns erst einmal so richtig stärken, um offenbar den erforderlichen  Schneid  zu bekommen!


Es war wie in einem irrationalen Film, einer makaberen Vorstellung, wo Phantasten die Regie führten und sich Halbirre der Reden bemächtigten.


Kalte Schauer liefen uns über die Rücken, denn wir waren weder erfahrene Nahkämpfer, noch hatten wir irgendwelche Waffen bei uns! Waren das Fieberphantasien in einer realitätsfremden Posse oder tatsächlich schon die moralische Agonie?


Als wir wieder unter uns waren, aßen wir die größten Käsestücke unseres Lebens und einige strichen sich noch fingerdick Butter drauf. Manche schickten sich an, soviel Milch zu trinken, dass sie danach im Delirium Weißen Käse bergeweise hätten sehen müssen!


Soweit kam es aber nicht, denn so wäre der makabre, irrationale Idiotenfilm Realität geworden!


Wehrmachtsoffiziere, eskortiert von Unteroffiziersdienstgraden, machten diesem Spuk ein Ende. Ein Luftwaffenoffizier, offenbar in Vertretung des Schulführers von Brüsterort, machte Meldung und nun wurde es wieder realistisch!


Nach kurzer, zackiger und nüchterner Lageskizzierung wurde uns klar, dass wir zum erforderlichen Zeitpunkt den Panzergraben vor dem ca. 5 km weiter östlich gelegenen Ort Gauleden zu verteidigen hätten.


Dann ging’s unmittelbar zur Waffen- und Winterbekleidungsausgabe.


Unser Erstaunen und unsere Ernüchterung waren recht groß, als man uns, offenbar aus den 20er Jahren stammende, ca. 1,70 Meter lange französische Beutegewehre in die Hände drückte. Dazu Patronengurte, die man sich wie weiland in Wildwest über die Schulter zu hängen hatte.


Hernach wurden wir in der Handhabung dieser Gewehre unterwiesen. Wir staunten nicht schlecht, als wir erfuhren, dass sich das Magazin für 8 Schuss unter dem Lauf befand und die Patronen einzeln per Hand hintereinander eingefädelt werden mussten!


Großer Gott! Solche Waffen hatten wir allenfalls in Filmen über den ersten Weltkrieg gesehen.


Und damit sollten wir die Rote Armee aufhalten?


Wie wir inzwischen mitbekamen, hatten die Russen moderne Maschinenpistolen, gegen die wir - diesermaßen ausgerüstet - überhaupt keine Chance haben würden! 


Gute Nacht Marie!


Dann wurden wir zu einem LKW geführt, auf denen Winterbekleidung transportiert worden war. Für uns waren aber nur noch Reste vorhanden. Winterkapuzen mit angeschnittenem großen Kragen, innen weiß und außen feldgrau, oder umgekehrt, wie man es nimmt, waren genügend da und alle bekamen wir eine. Wir waren jedoch völlig überfragt, ob man sie über, oder unter dem Stahlhelm aufstülpen sollte?


Entweder wir froren uns die Ohren ab, oder wurden zu Zielscheiben für den Iwan mit unseren in echt preußischem Feldgrau gehaltenen metallenen Kopfbedeckungen. Wem, wie ‘was wegen der Kopf- und Helmgröße passte, musste letztendlich jeder individuell für sich selbst entscheiden! Warme Schals und auch Handschuhe waren noch da und wir griffen zu. Aber auch ein paar abgewetzte Damenpelzmäntel gab es als Ladenhüter! Wer sollte sich diese wohl anziehen?


Dann ging’s ab mit Lastkraftwagen nach Gauleden. Es war lausig und wiederum lag Neuschnee in der Luft! Wir hatten alle Mühe mit unserem Marschgepäck und darüber hinaus mit diesen vorsintflutlichen Flinten! Wir kamen uns vor, wie Trapper in Kanada und keiner kam klar mit den Patronengurten. Wir begannen, uns mit den 100 überlassenen Geschossen die Manteltaschen zu füllen, aber ganz so ging es auch wieder nicht! Schließlich machte es jeder so, wie er dachte.


In Gauleden trafen wir so gegen 20 Uhr ein und im Gasthof „Zur Linde“ gab’s ein Massenquartier im Saal.


Ich wurde inzwischen zum MG-Schützen 3 eines Maschinengewehrtrupps eingeteilt. Eine schicksalhafte Entscheidung, wie es sich bereits am nächsten Morgen herausstellen sollte! Meine Flinte behielt ich und musste zusätzlich zwei Munitionskästen mit MG-Geschoss-Gurten schleppen. Mein Platz war rechts neben dem MG-Schützen.


Ich war wütend, aber einen Einspruch gab es nicht! Zog man doch als MG-Nest zu allererst das feindliche Feuer auf sich!


Nach dieser Einteilung und dem primitiven Abendbrot-Fassen gingen Fernando und ich noch einmal vor die Gaststätte auf die Straße. Komisch mutete an, dass dort eine ganze Reihe von Soldaten so zwanglos umher standen und sich unterhielten über dieses und jenes, besonders aber darüber, was uns der nächste Tag bringen mochte. Dann gesellte sich zu uns beiden und noch weiteren Flugschülern ein Unteroffizier der Wehrmacht, der auffällig lässig gekleidet war. Er schien recht guter Laune zu sein und interessierte sich für alles, was uns Neue an diesem Ort betraf. Wo wir herkämen, wie viele wir seien und welchen Alters. Auch welche Ausbildung wir hätten, wollte er wissen. Angesichts seiner anscheinend fronterfahrenen Gebaren, die uns „in Sachen Krieg“ schon ein wenig beeindruckten, gaben wir freimütig und der Wahrheit entsprechend Auskunft. Er versprühte aber auch Zuversicht, dass hier ein ganz ruhiger Frontabschnitt sei und wir noch eine Weile auf unseren heißen Einsatz warten könnten.


Wieder in unserem Quartier und schon auf unserer „Liegestatt“, das heißt auf dem zugewiesenen Platz auf dem Parkettfußboden des recht bescheidenen Vereinssaales, äußerte Fernando, dass ihm dieser Unteroffizier seltsam vorkam. War er vielleicht ein getarnter Spion, der uns „Greenhörner“ nur hatte ausfragen wollen?


Danach bekamen wir natürlich ein unruhiges Gewissen!


Keiner kam so richtig zur Ruhe, doch wir waren ganz schön geschafft, an diesem Tage. Die Tragweite unserer Situation war uns jedoch noch nicht so richtig bewusst. Es war alles so, wie bei zahlreichen Übungen, die wir alle schon ‘mal durchlebt hatten. Fast in vollen Klamotten zu schlafen, war auch nicht jedermanns Sache.


Nächsten Morgen so gegen 6 Uhr schrillten Trillerpfeifen und harsche Kommandos rissen uns aus den mehr oder weniger angstvollen Träumen. Da alle auf dem Fußboden lagen und zwischendurch unsere Klamotten, war das morgendliche Chaos von besonderem Reiz. Von Waschen war überhaupt keine Rede, wieso auch(?) und das Verpflegungsfassen fand im Vorübergehen statt.


Es war noch stockdunkel, als wir durch das gespenstisch anmutende Gauleden marschierten, um an den östlichen Ortsrand geleitet zu werden. Unterwegs waren, gleich uns, viele bunt zusammen gewürfelte Gruppen. Arbeitsdienst, Angehörige der Organisation Todt und der Hitlerjugend, dann der Volkssturm mit Kindern und alten Männern.


Es war mäßiger Kanonendonner in Richtung Tapiau zu hören und mehr oder weniger schwache Feuerreflexe zu sehen.


Sonst nichts!


Ein mächtiger Panzergraben bot sich uns als befohlene Verteidigungslinie. Man hatte seine Mühe, die innere Böschung zu erklimmen. Der Erdboden war gehörig gefroren. Kunststück, denn es müssen so um die 20 Grad minus gewesen sein.


Uns wurde befohlen, dort oben Stellung zu beziehen. Jeder versuchte verzweifelt, Halt mit den Füßen zu finden, was aber nur bedingt gelang. So mancher von uns rutschte bei den Versuchen, mit den Fußspitzen Stützlöcher in den eisverkrusteten Hang zu schlagen, mehrmals ab in die Talsohle. So stützte man sich hauptsächlich mit den Ellenbogen auf der oberen Kante ab. Unser MG wurde in Stellung gebracht und alle notwendigen Griffe nochmals vergegenwärtigt.


Von meinem Kameraden Ferdinand war ich durch diese Abkommandierung getrennt, ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wo er lag.


Hinter uns war die andere Böschung des Panzergrabens ebenso hoch, vielleicht noch etwas höher. Nicht weit davon entfernt standen mannshohe Gartenzäune und Siedlungshäuser. Ein möglicher Fluchtweg führte also nur nach rechts oder links im Panzergraben.


Die Zeit des Wartens verging langsam und die Kälte kroch so langsam im Körper hoch und so gegen 9 Uhr wurde es vor uns unruhig.


Wir glaubten, in dem vor uns liegenden Gelände kaum wahrzunehmende Bewegungen zu bemerken. Meine Augen versuchten etwas zu erkennen, vor allem in der sich schemenhaft abzeichnenden Giebelluke eines etwa 300 Meter entfernten Gebäudes.


Inzwischen hörten wir immer näher kommend MPi-Salven und von unserer Seite wurden Gewehrschüsse abgefeuert. Dieser Schusswechsel eskalierte schnell und auch in unserer Nähe schlugen die ersten Geschosse ein. Ich rief gerade meinem Kameraden am MG zu, dass dort im Giebel sicher einer von den Iwans sitze, ob er nichts sehe?


Da von ihm keine Antwort kam, schaute ich zu ihm ‘rüber und


 . . . ich glaubte mein Herz würde stillstehen . . .! 


Sein Kopf war leicht zu Seite geneigt, sein Gesicht hatte plötzlich eine fahlgelbe Färbung angenommen und aus seinem Mundwinkel floss ein blutiges Rinnsal.


Ich hatte keinen Schuss so nahe an mir vorbei bemerkt und auch keine entsprechende Reaktion des jetzt toten Kameraden!


Was sich in den nächsten Sekunden in meinem Inneren abspielte, ist nur schwer wiederzugeben.


So nah den Tod vor Augen, lief - ich glaube mit Lichtgeschwindigkeit - mein ganzes bisheriges Leben vor meinem inneren Auge ab! Meine Mutter vor allem war die Leitfigur in diesem irrationalen Bruchteil-Sekunden-Tagtraum!


Aber in diesen Augenblicken selbst war mir das kaum bewusst, ich habe es wohl innerlich gespeichert und Stunden später erst richtig abrufen und wahrnehmen können! Das war wohl die Todesangst, die einen zunächst völlig lähmt! Was MG-Schütze 2 in diesem Augenblick machte, war mir wahrzunehmen nicht möglich!


So musste es ja kommen!


Denn wir boten, auf der Oberkante des Panzergrabens mit den Ellenbogen abgestützt, die idealen Schießscheiben!


Durch den immer stärker werdenden Kugelhagel, wurde ich wieder in die Realität zurückgerufen. Das grausig klingende und schnell näherkommende, einem Schauer über den Rücken jagende „Urräh“ aus Hunderten scheinbar rauen Säuferkehlen, die fluchtartige Auflösung unserer rechten Verteidigungsflanke und die in der unteren Sohle des Panzergrabens anschwellende wilde Flucht aller, die noch fliehen konnten, führte zwangsläufig nur noch zu einem Gedanken:


„Bloß weg von hier!“


Auch ich ließ mich rückwärts ‘runterrutschen, kam ins Fallen und geriet noch einigermaßen auf meine Beine und mitten hinein in den diabolischen Strudel der panischen Flucht!


Es fing mit mir an, ganz mechanisch zu laufen!


Immer mittendrin in einer Menge von hastenden Menschen, bis wir an eine, den Panzergraben quer durchschneidende Eisenbahnlinie kamen.


Dort lagen schon viele Tote kreuz und quer, denn offenbar müssen die Iwans diesen Hohlweg entlang volle Pulle mit MG’s und MPi’s geschossen haben. Immer hinein in die flüchtenden Menschen, die wie Hasen über eine Lichtung sprangen!


So konnte ich mir das erst viel später zusammenreimen!


In diesem Trancezustand der Todesangst muss auch ich wohl unversehrt diesen Haufen Leichen übersprungen haben!


 Es lief weiter mit mir in eine flacher werdende Gegend  Richtung Pregelwiesen!


Wie im Fieber ging der Lauf! Man spürte keine Ermüdung, kein Seitenstechen keine Luftnot, keine Kälte!


Inzwischen setzte Artilleriefeuer ein, welches offenbar auf die Flüchtenden gerichtet war, aber wenig ausrichtete, weil sich deren Feld weit auseinander zog. Links vor mir sah ich kurzzeitig, wie 2 Soldaten einen an den Beinen verletzten Kameraden wegschleppten.


In diesem Augenblick gab es ein Krachen, einen Granateinschlag, eine unerhörte Druckwelle, die selbst mich noch zu Boden riss!


Als ich mich - immer noch in Panik - instinktiv aufraffte, war von den Dreien nichts, rein gar nichts mehr zu sehen!


Kann sich Panik vervielfachen? Kann sie in ein höheres, fast bis zur Irrationalität reichendes höheres Stadium übergehen?


Ich weiß es nicht!


Es muss aber wohl so sein und nur noch ein animalischer Selbsterhaltungstrieb blieb übrig! Er äußerte sich im Fortlaufen!


Die Sinne schienen nicht mehr zu existieren!


Ich muss wohl einige Zeit später den dort nicht mehr schiffbaren, aber zugefrorenen Pregel überquert haben und es ging eine flache Böschung hinauf und langsam wich die Panik und mich erfasste wieder logisches Denken. Auch die Lebensgeister erwachten wieder hauptsächlich in Form von grenzenloser Ermüdung und Ausgepumptseins.


Die Kampfgeräusche, wie Granateinschläge, MG- und Gewehrsalven wurden immer schwächer und ich empfand ein eigenartiges Glücksgefühl, dem Tode doch noch entronnen zu sein!


 So hatte ich den Krieg noch nicht gesehen, wohl auch nicht sehen wollen und außerdem fühlte ich mich auch noch zu jung um an jenem Ort und zu jener Stunde zu sterben!


 


………..


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