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Belletristik
Buch Leseprobe Revolte gegen die Zeit, Michael März
Michael März

Revolte gegen die Zeit


Ein Erzählband

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Die Montage leben
1.
In einem Film sehe ich M. durch eine geöffnete graue Stahltür schreiten, einen kleinen Spalt in einer dicken hohen Ziegelsteinmauer, hinter der die Unfreiheit genauso unzulänglich versteckt wird, wie sie ihre Augen mit einer großen Sonnenbrille vor dem trüben Licht des Novembertages zu verbergen sucht: Selbst in der Halbtotalen fällt es mir leicht, die Farbe ihrer Iris und die Entschlossenheit in ihrem Blick zu erkennen. Es ist die Entschlossenheit einer Kämpferin. M. hat sich aufgebäumt, gewehrt, ihre Weltanschauung verteidigt, aber nun ist sie allein, mit einer schwarzen Stofftasche und einem dunkelblauen Mantel, den sie über ihrem linken Arm trägt.
Sie mustert die fremde Umgebung und tastet sich langsam an der endlosen Reihe parkender Autos entlang, ohne das erhoffte zu finden. Nach all den Jahren erwartet sie einen Wagen mit Berliner Kennzeichen, der in diesem Moment neben ihr halten und sie fortbringen soll.
Doch es geschieht nichts. Der Asphalt bleibt stumm und die Gehwege leer. Und während einige Meter hinter ihr die Stahltür wieder verriegelt wird, überfällt sie die Angst, vor einer neuen Mauer zu stehen. Sie bricht in Panik aus und rennt davon.
2.
In einer Telefonzelle an der nächsten Straßenecke wählt sie die Nummer eines alten Freundes. Er nimmt erst beim zweiten Versuch ab. Beide Male hatte sie ganz genau auf die Nebengeräusche in der Leitung geachtet, auf ein leises Knacken oder Echo gewartet, aber nichts davon stellte sich ein. Umso verblüffter wirkt sie, als sie am anderen Ende endlich die gewünschte Stimme hört.
Sie stammt von einem dreißig- bis vierzigjährigen Mann, der sich mit seinem Namen meldet; er heißt K. Beide müssen sich zunächst noch einmal gegenseitig versichern, mit wem sie sprechen. Beide begreifen erst langsam, dass sich jener Montag, an dem sie ihre Schicksale und das der Opfer für immer vorgezeichnet hatten, unlängst zum zehnten Male jährte und dass sie ab sofort wieder auf eine einfachere Art miteinander in Kontakt treten und ihre frühere Sprache benutzen können. Die Zeit der Lügen ist vorbei. M. klärt K. in aller Ruhe über ihre missliche Lage auf. Sie gibt zu, dass sie von niemandem abgeholt wurde und dass sie nicht weiß, wer ihr helfen könnte, und es hört sich so an, als sei er erleichtert darüber, dass sie sich an ihn wendet. Er versucht sogar, ihr seine innere Freude zu übermitteln; ohne dabei unnötig sentimental zu werden. M. versteht ihn trotzdem sehr genau, sie genießt jede seiner Andeutungen und möchte am liebsten nicht auflegen. Aber dann denkt sie an das knappe Kleingeld und ihren Vorsatz, das Telefonat nicht in die Länge zu ziehen. Rasch vereinbaren sie einen Treffpunkt in ihrer Nähe, an dem K. verspricht, sie zu finden. Nachdem sie sich verabschiedet haben, wartet sie noch, bis er auflegt. Es ist ihre dritte Vergewisserung, dass sich die Leitung tatsächlich ganz sauber anhört. Nach wenigen Sekunden drückt sie die Gabel. Dann wirft sie das restliche Kleingeld ein, um eine zweite Nummer zu wählen.
3.
M. hat sich den Mantel übergezogen, weil es regnet und sie die Tasche lieber über der linken Schulter tragen möchte. Sie überquert eine Ampelkreuzung und einen großen Platz, auf dem der Eingang zu einer U-Bahn-Station versteckte Erinnerungen in ihr weckt. Sie hält einen Moment inne, um zu verstehen, was in ihr vorgeht:
Die Stufen in den Untergrund müssen ihr wie ein Abdruck ihres Schicksals erscheinen. Zehn Jahre lang hatte sie in einem zeit- und ereignislosen Raum an einen einzigen Tag denken müssen und nun begreift sie, wie kurz und unnütz ihr Leben war. Es ist ihr fremd und vertraut zugleich, ungefähr wie der Geruch der Autoabgase, der vom lauen Fahrtwind des Großstadtverkehrs in ihre Stirnhöhle gefächert wird. Sie kennt diesen Gestank nicht mehr, obwohl er eigentlich das letzte war, was sie aus ihrer Freiheit mit ins Gefängnis nahm: Ein heftiger Qualmstoß aus den geplatzten Benzinbomben, der ihre Lungen tagelang reizte und für die folgenden zehn Jahre die erste Assoziation blieb, wenn sie an ihre Tat dachte. - Sie schmeckte immer nach den Brandgasen, nicht nach dem Blut der Opfer. Ihre Erinnerungen hatten sie, wie zum Selbstschutz, vor dem Schlimmsten bewahrt. […]


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