Herr Stroo, der weltbekannte Vielseitigkeitsreiter stieß das Tor zu seinem Stall auf. Wie jeden Morgen kamen ihm der Geruch seiner Pferde und die Geräusche, welche sie machten, entgegen. Das alles war ihm so vertraut, und doch war es heute etwas ganz anderes. Zum ersten Mal betrat er am Morgen nicht den Stall, den er von Gut Birkenfeld gepachtet hatte, sondern seinen eigenen. Nie hätte er damit gerechnet, dass er einmal selbst Eigentümer sein könnte. Dennoch war es nun geschehen. Das Gut hatte einer Finanzgesellschaft gehört, die sich jedoch mit den Investitionen verkalkuliert hatte. Das war so weit gegangen, dass bereits die Zwangsversteigerung angesetzt gewesen war. Der Trainer von Herrn Stroo war auf ihn zugekommen und hatte ihm vorgeschlagen, ob er den Stall nicht selber kaufen wollte. Er selbst und zwei andere wollten dasselbe mit dem Hauptstall und der dazugehörenden Anlage versuchen. Es war tatsächlich geglückt, obwohl die Zeit massiv gedrängt hatte. „Mein Stall!“, murmelte Herr Stroo leise. Er war heute früher als gewöhnlich nach Birkenfeld gekommen. Sonst waren Karl und Ilka, seine beiden Pferdepfleger schon dabei, den Pferden ihr morgendliches Heu vorzulegen, wenn er eintraf, doch an diesem ersten Tag, an dem sich für Herrn Stroo so viel geändert hatte, wollte er selbst der Erste sein. Nun ging der Profi von einer Box zur nächsten und sprach jedes Pferd leise an. So kam er auch zu Liberty. Der Rappwallach gehörte nicht zu seiner eigenen Mannschaft. Seine Schülerin Kerstin hatte das Pferd in Beritt bekommen. Es war nur der Liebe zwischen dem Schwarzen und seiner eigenen Stute Libelle geschuldet, dass Liberty in diesen Stall gezogen war. Kerstin … sie war die Tochter des Hauptmanns. Herr Stroo war sehr stolz auf sie. Zu gern hätte er eine Vielseitigkeitsreiterin aus ihr gemacht, doch sie schien seit Kurzem mehr Interesse am Showreiten zu haben. „Carsten!“, rief da Herr Bösken von der Stalltüre her. „Ich hatte eigentlich gedacht, deinen Pferdepflegern sagen zu müssen, dass ich dich sprechen möchte. Umso schöner, dass ich dich persönlich antreffe.“ „Was kann ich denn für dich tun, Manfred?“, erkundigte Herr Stroo sich. „In dem Fall lautet die Frage eher, ob ich dir etwas Gutes tun kann. Ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit, da hatte ich ganz spontan die Idee. Du weißt doch, dass ich in dem Zweifamilienhaus dort hinten wohne.“ „Ja.“ Herr Stroo nickte. „Das wird auch weiterhin zu Birkenfeld gehören“, fuhr Herr Bösken fort. „Ich habe aber genau genommen kein Anrecht mehr darauf, dort zu wohnen, wenn ich nicht mehr auf Birkenfeld arbeite. Außerdem wäre mir der Weg nach Buchholz jeden Tag zu weit. Jetzt dachte ich, dass du vielleicht Interesse hättest. Der Liebling will dort nicht einziehen.“ „Ach“, entgegnete Herr Stroo. Auf diese Idee wäre er selbst sicher nicht gekommen. Nun traf es sich so, dass er bald Vater von Zwillingen werden würde. Die Wohnung, in der er und Ingrid im Moment lebten, wurde dann auf jeden Fall zu klein. Sie hatten auch schon angefangen, sich nach etwas anderem umzusehen, jedoch nichts Passendes gefunden. Erschwerend kam hinzu, dass Ingrid viel liegen musste, weil es Komplikationen mit ihrer Schwangerschaft gab. Herr Bösken sah, dass Herr Stroo nachdachte und bot deshalb an: „Wenn du magst, kann ich dir das Haus jetzt gleich zeigen.“ „Ich gebe zu, dass ich im Moment ein bisschen überfahren bin mit dieser Info, aber grundsätzlich hätte ich schon Interesse“, gestand Herr Stroo. Einen kurzen Moment sah er sich schon dabei, wie kurz sein Arbeitsweg dann in Zukunft sein würde. Was Ingrid wohl davon hielt? Anschauen hieß ja noch nicht, dass er auch zusagte. Alleine konnte er das auf keinen Fall entscheiden. „Streng genommen warte ich eh nur auf Karl und Ilka. Ja, ich würde mir das Haus gerne kurz ansehen.“ Gemeinsam verließen die beiden Männer den Stall und machten sich auf den Weg zu dem etwas abseits gelegenen Haus. „Die untere Etage ist meine“, erklärte Herr Bösken, als er die Haustüre aufschloss. „Da ist auch mehr Platz. Ariadne wohnt oben, aber du kannst sicher sein, dass du von ihr nie etwas hören wirst.“ „Hoffentlich käme sie mit doppeltem Babygeschrei klar“, entgegnete Herr Stroo. Herr Bösken lachte. „Zum einen ist das hier gut isoliert und außerdem ist Ariadne da nicht so empfindlich.“ Bisher hatten Herr Bösken und Frau Anders sich die Leitung von Gut Birkenfeld geteilt. Er war für den kaufmännischen Bereich zuständig gewesen, obwohl er selbst ein ausgezeichneter Reiter war. Frau Anders hatte seit jeher die sportliche Seite unter sich gehabt. Neugierig betrat Herr Stroo nun die Wohnung. Sie war hell und großzügig geschnitten. „Eigentlich war das hier für mich immer ein bisschen zu groß“, gestand Herr Bösken. „Für dich wäre es ideal.“ Gleich links neben der Wohnungstüre befand sich ein Schlafzimmer. Herr Bösken entschuldigte sich für die Unordnung. So akribisch er mit den Unterlagen des Guts umging, so wenig interessierte ihn sein Haushalt. Einmal im Monat räumte er gründlich auf und putzte. Ansonsten fiel ihm leicht etwas einfach da aus der Hand, wo er gerade stand. Gegenüber vom Schlafzimmer befand sich eine kleine Toilette. Weiter ging es zum Bad. Das war geräumig mit Dusche und Badewanne. Sie betraten den nächsten Raum auf dieser Seite. „Das ist mein Arbeitszimmer, wenn man es so nennen will. Wirklich nutzen tue ich es kaum. Könnte man auf jeden Fall ein Kinderzimmer draus machen“, erklärte Herr Bösken. Direkt gegenüber befand sich ein Raum, der nur wenig größer war. Herr Bösken räusperte sich. „Sorry, hier stopfe ich alles rein, für das ich keine Verwendung habe. Eigentlich schade um den schönen Raum.“ „Du meinst also, das und da drüben wären dann die Kinderzimmer“, fasste Herr Stroo zusammen. Herr Bösken nickte. „Natürlich könnt ihr die Raumaufteilung auch anders machen. Ich finde halt, es würde sich anbieten. Komm! Schau dir ruhig auch noch Wohnzimmer und Küche an!“ Weiter ging es. Die letzten beiden Türen gingen im schrägen Winkel vom Flur ab. Im Wohnzimmer sah es so aus, als wäre Herr Bösken gestern vor dem Fernseher eingeschlafen und hätte dann heute Morgen keine Zeit mehr gehabt, um aufzuräumen, ehe er zur Arbeit ging. „Stör dich bitte nicht daran, wie es hier aussieht“, forderte Herr Bösken seinen Besucher erneut auf. „Mir war gestern auf der einen Seite zum Feiern zumute, auf der anderen musste ich meine Trauer ertränken.“ „Der Abschied von Birkenfeld wird dir schwerfallen“, stellte Herr Stroo fest. Der bisherige kaufmännische Leiter nickte. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich ebenfalls Teilhaber hier geworden wäre, aber die Freundschaft zu Walter geht einfach vor. Was er jetzt an Behandlungen vor sich hat, ist kein Pappenstiel. Keiner weiß, ob er wieder gesund wird und seinen Reitstall selber führen kann.“ „Da fühlt man sich verpflichtet“, stimmte Herr Stroo zu. Bei einem Rundblick durch das Wohnzimmer nahm Herr Stroo große Fenster, die viel Licht einließen, wahr. Außerdem waren die Wände ideal zum Stellen von Möbeln, und sogar ein richtiger Kachelofen war vorhanden. „Frieren muss man hier im Winter bestimmt nicht.“ Herr Bösken lachte. „Wir haben hinter dem Haus auch ein Holzlager. Ariadne und ich haben da einfach immer jeder die Hälfte gezahlt. Vielleicht müsst ihr euch das anders aufteilen. Wir waren halt beide nur die paar Stunden nach Feierabend und vor Dienstbeginn hier.“ In der Küche sah es erstaunlicherweise ziemlich ordentlich aus. Es stand kein Geschirr herum, und der Herd machte den Eindruck, als käme er geradewegs aus dem Kaufhaus. Herr Bösken schien zu bemerken, dass dem Profireiter der Zustand auffiel. „Ich koche eigentlich nie hier, und ich danke täglich dem Erfinder der Spülmaschine. Außer der kannst du die Küche fast als neu bezeichnen.“ Der Raum war in zwei Bereiche unterteilt und nur wenig kleiner als das Wohnzimmer, welches durch eine Türe verbunden war. Es gab einen Erker, in dem eine gemütliche Eckbank eingepasst war. Die Küchenzeile war wie ein U angeordnet. „Wirklich großzügig der Platz“, lobte Herr Stroo. „Ich könnte mir vorstellen, dass Ingrid das gefällt.“ „Außerdem wäre sie auch deutlich näher an ihren beiden Pferden dran“, erinnerte Herr Bösken. „In Ordnung“, gab Herr Stroo zurück. „Ich rede mit Ingrid. Bis wann musst du denn Bescheid wissen?“ „So lange du dich nicht entschieden hast, soll Ariadne es niemand anderem anbieten“, beschloss Herr Bösken. Zufrieden machte Herr Stroo sich auf den Rückweg zu seinem Stall. Insgeheim stellte er sich schon vor, wie viel Zeit er sparen würde, wenn er nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit fahren müsste. Inzwischen war Ilka angekommen. Wie immer verteilte sie das Heu. Herr Stroo zog sich in die Sattelkammer zurück, die er auch als kleines Büro nutzte. Zumindest hatte er hier einen Schreibtisch mit einem Laptop und einem Drucker stehen, damit Karl die Futterbestellungen direkt erledigen konnte. Er setzte sich auf den Stuhl und zog sein Handy heraus. Ingrid war mit ihm gemeinsam aufgestanden. Hoffentlich hatte sie sich nicht noch einmal hingelegt. Er wollte sie ungern wecken, da sie eh schon sehr schlecht schlafen konnte. „Was gibt’s denn?“, nahm Ingrid das Gespräch an. „Ich hätte die ideale Wohnlösung für uns“, fiel Herr Stroo gleich mit der Türe ins Haus. „Bösken hat mir seine Haushälfte angeboten, wenn er Birkenfeld verlässt. Ich habe es mir gerade schon angeschaut.“ Nun begann der Profireiter von der Wohnung zu schwärmen, pries die große Küche und den Kachelofen an. „Es sind sogar genug Räume, dass jedes der Kinder ein eigenes Zimmer hätte“, schloss er schließlich. „Das kommt ein bisschen sehr überraschend“, wich Ingrid aus. „Denk nur einmal an unseren kurzen Arbeitsweg!“, schwärmte Herr Stroo weiter. „Wir müssen es ja nicht sofort entscheiden. Denk in Ruhe darüber nach, ob du dir das vorstellen könntest. Heute Abend male ich dir dann den Grundriss so in etwa auf.“ Wäre Herr Stroo ganz ehrlich zu sich selbst gewesen, dann hätte er sich eingestehen müssen, dass er sich eigentlich schon entschieden hatte. Dass Ingrid diese Lösung nicht gefallen könnte, kam in seinen Gefühlen dem Plan gegenüber nicht vor. Am Nachmittag tauchte dann Kerstin in Begleitung ihres Jack Russel Terriers Fine bei Herrn Stroo im Stall auf. Sie hatten gestern gar keine Gelegenheit mehr gehabt, viel miteinander zu reden. Zufällig war der Profi gerade nicht mit einem seiner Pferde beim Training, sondern hier. Er erkundigte sich sogleich: „Na Kerstin, ist ja doch noch einmal alles gut ausgegangen.“ „Sie hätten aber auch einmal ein Wörtchen sagen können, was ihr hier plant“, gab Kerstin zurück und versuchte dabei, ihren Lehrmeister streng anzuschauen. Dieser konterte jedoch: „Das wäre – wenn überhaupt – ja wohl Aufgabe deines Vaters gewesen.“ „Sie kennen den Hauptmann doch!“, empörte Kerstin sich. „Aus dem hätte ich nie etwas herausbekommen. Ich kann es noch gar nicht glauben.“ „Das ging mir ganz ähnlich, als es sicher war, dass wir es schaffen“, gestand Herr Stroo. „War heute Morgen ein komisches Gefühl, als ich angekommen bin.“ „Wenn Ihnen das schon so geht.“ „Was wird denn nun eigentlich aus deinen beiden Pferden?“, wollte Herr Stroo wissen. „So weit ich weiß, wird es den Selbstversorgerstall ja bald nicht mehr geben.“ Kerstin nannte ein Fellpony namens Bounty sowie dessen Fohlen Buffy, die inzwischen ein Jahr alt war, ihr Eigen. „Die kriegen beide vorne eine Box“, erzählte Kerstin strahlend. „Außerdem wollen wir zwei oder drei Koppeln zusammenlegen, wo wir das Weidezelt wieder aufstellen. Dann können sie tagsüber und im Sommer rund um die Uhr zusammenbleiben, wie sie es jetzt auch gewöhnt sind.“ „Das klingt toll“, freute Herr Stroo sich mit seiner Schülerin. „Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich bin“, gestand Kerstin. „Schade ist es natürlich für Buffy, dass sie dann keine anderen Jährlinge mehr zum Spielen hat. Andererseits habe ich das Gefühl, dass das den Stuten schon gar nicht mehr besonders wichtig ist.“ Herr Stroo nickte. „Ja, es sind dann doch mehr die Hengste, die ihre Kräfte messen wollen.“ Er war noch immer so euphorisch ob der Aussicht, bald hier auf Birkenfeld zu wohnen, dass er nicht anders konnte, als Kerstin einzuweihen. „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“ Kerstin nickte. „Herr Bösken hat mir heute seine Wohnung angeboten. Allerdings muss ich Ingrid noch ein bisschen überzeugen.“ „Wow, das wäre ja cool, wenn Sie hier wohnen würden“, freute Kerstin sich sofort mit ihrem Trainer. „Ich drücke ganz fest die Daumen, dass Ingrid einverstanden ist. Ich kenne zwar das Haus nur von außen, aber praktischer könnten Sie es doch gar nicht haben.“ „Sehe ich genauso.“ Herr Stroo zwinkerte.
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