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Belletristik
Buch Leseprobe Kurzes Solo, Nina Casement
Nina Casement

Kurzes Solo



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Überlast Er konnte sich nicht daran erinnern, je so müde gewesen zu sein. Nein, das stimmte nicht. Letzte Woche. Und die Woche davor. Andreas widerstand dem Bedürfnis, den Kopf an die Plexiglasscheibe vor ihm zu lehnen, hinter der endlose Zahlenreihen und zuckende Graphen vorbeirannen. Warum hatte ausgerechnet heute, ausgerechnet in der ohnehin schon angespannten Situation auch noch dieser Test stattfinden müssen? Natürlich kannte er die Antwort: Seit dem letzten Vorfall waren engmaschigere Kontrollen vorgeschrieben. Nicht genug, damit es für echte Sicherheit reichte, aber es sollte ja auch nur so aussehen. Sonst hätten sie mehr Personal eingestellt.


Zum hundertsten Mal warf Andreas einen Blick auf die Uhr – vor zwei Stunden hätte er Feierabend gehabt, doch der Gesichtsausdruck des Schichtleiters hatte ihn eines Besseren belehrt. Frank lag mit Corona im Bett und Ahmet mit irgendeinem Magen-Darm-Gedöns, also würde er noch zwei weitere Stunden durchstehen müssen.


In Andreas′ Tasche summte das Handy, aber obwohl niemand hinsah, ließ er es, wo es war. Er wusste sowieso, was er hören würde, dass Natalie weinen würde, und ebenso gut, dass er es nicht würde ändern können. Plötzlich war er dankbar für die Müdigkeit, die das bohrende Schuldgefühl zu einem dumpfen Pochen degradierte. Es vibrierte ein zweites Mal. Natalie nervte. Manchmal hätte er sie am liebsten angeschrien. Manchmal schrie er sie tatsächlich an. Dabei wusste Andreas, dass sie nichts dafür konnte. Die Kleine hatte Koliken und wand sich die halbe Nacht vor Schmerzen, die Große zahnte immer noch. Wenn er heimkam, sah er Natalies Erschöpfung, den Pullover voller Babykotze, oft rot geweinte Augen, Ringe darunter, in denen ein Satz Winterreifen Platz gefunden hätte. Es gab Tage, an denen er sich einen der greinenden Knirpse schnappte und summend mit ihm durch die Wohnung wanderte, bis er endlich schlief. An anderen ließ sich Andreas wortlos aufs Sofa fallen und drehte den Fernseher lauter, um das Gebrüll zu übertönen. Heute würde so ein Tag werden. Nein, heute würde er einfach nur noch ins Bett sinken. Kurz schloss er die Augen und genoss die Dunkelheit. Normalerweise hätte in dem großen Raum ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht, doch heute würde niemand merken, wenn er sich ein paar Sekunden ausruhte.


Das Piepen riss Andreas aus einem absonderlichen Traum, in dem seine Tochter gigantisch war und all die Rohre, all die Tanks mit riesigen Bauklötzen zerstörte. Verschlafen versuchte er, das Geräusch zuzuordnen, das verschwommene Ding vor seinem Gesicht zu erkennen. Ahja, Display. Test. Einer von über hundert diesen Monat, weil sie mit den gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprotokollen schon wieder im Rückstand waren. Überprüfung der Stabilität unter Überlast bei äußerlich unauffälligen Rohren. Leitungen 240-264, das hier war die letzte.


Andreas seufzte tief – wenn das Ding sauber durchging, wäre er in anderthalb Stunden endlich hier raus. Immerhin, bislang sah es gut aus. Während der Druck stetig zunahm, blieb die Linie für den Durchlauf konstant, nicht einmal ein Zucken war zu erkennen. Alle zehn Abschnitte der Leitung wurden einzeln dargestellt, neben der Linie zeigte ihm ein erfreuliches Grün, dass bald alles vorbei war. Er lehnte sich zurück und versuchte zu entspannen. Auf dem Display am leeren Nachbarplatz lief ein weiterer Test für eine zweite Leitung, aber auf der lag im Betrieb bloß CO2 an, also blickte er nur ab und zu rüber. Trotzdem hätte ihn laut Protokoll natürlich eine eigene Person beaufsichtigen müssen – und später würde selbstverständlich einer der Kollegen seinen Otto daruntersetzen. Aber wichtig war nur dieses Rohr, eins von denen mit besonderer Gefahrenkennzeichnung, weil normalerweise Toluol durchfloss. Hochentzündlich.


Zuhause würde er Natalie wenigstens noch einen Kuss geben, bevor’s in die Falle ging, beschloss Andreas erschöpft. Plötzlich ein rotes Aufblitzen im Augenwinkel. Er blinzelte hektisch, seine Lider brannten. War das gerade wirklich passiert? Unmittelbar schoss Adrenalin durch seine Adern und erzeugte so viel Wachheit, wie gerade eben möglich war. Andreas fixierte das Display oder versuchte es wenigstens, denn ob der abrupten Bewegung hatte ihn leichter Schwindel ergriffen. Grün. Alles war grün. Gut. Sein Blick wanderte zu den Linien hinauf. Scheiße. Da war ein Ausreißer - kein kleiner. Zwar nur einzeln, aber spitz, steil, bedrohlich – das sah nicht wie ein Messfehler aus. Und die Linie dahinter verlief eindeutig flacher, da ging irgendwo Druck verloren. Oder war das noch im akzeptablen Bereich? Er war sich nicht sicher, obwohl er die Werte sonst in- und auswendig kannte. Zusammen allerdings zweifelsohne beunruhigend genug, um nicht nur einen Vermerk im Bericht, sondern einen kleinen Alarm wert zu sein. Normalerweise wäre das automatisch passiert, wenn der Toleranzwert so weit überschritten war, aber das Programm, das dafür hätte sorgen sollen, warf seit Wochen nur Fehler aus. Er hatte es gemeldet, doch in der IT-Abteilung fehlten genauso viele Leute wie bei ihnen. Der Schichtleiter hatte nur müde den Kopf geschüttelt – irgendwann würde es ganz sicher repariert werden.


Wenn die Chefetage wenigstens auf sie hören würde! Aber das waren alles keine Ingenieure, diese Konzernheinis, die hatten immer bloß ihre Zahlen im Kopf, nichts als Gewinnmaximierung. Dabei waren sie schon mindestens ein, zwei Mal haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrappt. Ahmet hatte ihm vor ein paar Monaten erzählt, dass er einen kritischen Fehler im Überwachungssystem entdeckt habe: Liefen zwei oder mehr Alarme und ein Update gleichzeitig, ließen sich die Ventile vom Kontrollraum aus nicht mehr schließen – nur noch manuell vor Ort. Irgendein Softwareproblem, er wusste es nicht und Andreas hatte ebenfalls keine Ahnung von dem Zeug. Aber die da oben hatten bloß abgewinkt. „Kommt auf die Liste.“ Klar.


Druckabfall. Ein solcher Alarm bedeutete normalerweise, dass es ein Leck gab. Aber dann verschwand der nicht einfach wieder. Was war da los? Wahrscheinlich war der Messfühler defekt. Sie hatten ständig mit defekten Messfühlern zu tun, billige Ersatzware aus Fernost, die ihnen das Leben schwermachte. Andreas rührte sich immer noch nicht. Spürte seine Glieder wie Blei, seinen Kopf vakuumleer. Der Test war in wenigen Minuten beendet und er starrte wie hypnotisiert auf die Linie. In Zeitlupe wurde sie nach rechts geschoben, dem Ende des Monitors entgegen. Er musste etwas tun! Geh. Melde das. Du kommst in Teufels Küche!


Er schaffte es nicht. Es gelang ihm einfach nicht. Stattdessen sah er sich selbst zu, wie er mechanisch den Test-Bogen ausfüllte und ausdruckte, einen Strich durch das Feld „besondere Vorkommnisse“ zog, die letzten Handgriffe tat, dem Schichtleiter zunickte und ging. Sein Kopf war leer, im Auto zappelte er gegen die Müdigkeit an. Er sah einen Wagen am Straßenrand stehen, daneben Warndreieck und ein ratloser Mann. Doch obwohl er ein Abschleppseil im Heck hatte, obwohl er sich immer für jemanden gehalten hatte, der helfen würde, fuhr er vorbei. Die Vorstellung, jetzt noch einmal aussteigen, reden und Dinge tun zu müssen, war zu viel.


An der Kreuzung vor seiner Straße stieg Andreas in die Eisen, weil er glaubte, eine Katze auf der Fahrbahn zu sehen, doch es erwies sich bloß als Plastiktüte. Natalie sah verheult aus und redete ohne Unterlass. Er wusste, dass sie erzählen musste, dass sie den ganzen Tag allein gewesen war, doch er musste die Hände in den rauen Hosenstoff krallen, um sie nicht anzufahren. Ich bin ein Arschloch, dachte Andreas bei sich, und blieb stumm. Sie hatte gekocht, es roch gut, aber er wollte nichts essen, bloß schlafen. Ohne auch nur die Zähne zu putzen, schälte er sich aus den Klamotten, kroch ins Bett und war eingeschlafen, bevor sein Kopf das Kissen berührte.


Als der Wecker klingelte, hatte Andreas minutenlang Mühe, den richtigen Knopf zu finden. Sechs Stunden, doch es kam ihm vor, als habe er sich gerade erst hingelegt. Benommen aß er, was Natalie vor ihn stellte, sah hoch in ihre traurigen Augen und blickte lieber wieder in sein Rührei. Auf Arbeit ging es nach dem dritten Kaffee einigermaßen. Heute waren sie immerhin zu zweit und das kleine Radio dudelte. Eigentlich war so etwas aus Sicherheitsgründen in diesem Raum verboten, aber der Schichtleiter drückte ein Auge zu. Gerade stimmte Udo Jürgens passenderweise „Ich war noch niemals in New York“ an und Andreas ergriff einmal mehr das schon fast zwanghafte Bedürfnis fortzulaufen. Irgendwohin, wo ihn niemand kannte, wo niemand etwas von ihm wollte und niemand sich für seinen kleinen Fehler interessierte. Wo er sich ausruhen konnte und schlafen, sehr viel schlafen. Das schlechte Gewissen folgte unmittelbar. Wie konnte er so etwas denken! Er hatte so viel Glück, eine Frau, die ihn liebte, zwei gesunde Kinder und als Anlagenmechaniker einen guten Job. Natürlich, die Bezahlung hätte besser sein können, die Firma hatte den Druck auf ihre Branche genutzt, um sie untertariflich zu entlohnen, und er konnte sich keinen noch weiteren Anfahrtsweg leisten. Aber auch darüber durfte er sich kaum beschweren, im Vergleich zu den Rumänen, die sie als Leiharbeiter hier hatten, ging es ihm richtig gut. Er war einfach undankbar.


Spätestens nach der Mittagspause musste er wieder kämpfen, um auch nur die Augen offenzuhalten. Ob er wohl heute würde früher gehen können? Die übrigen Tests waren eigentlich nur Routine und er hätte sich entspannen können – wäre ihm nicht dieser eine verdammte Ausschlag ständig durch den Kopf gegeistert. Herrgott, Andreas, reiß dich zusammen, so was passiert doch ständig! Das war zwar nicht falsch, denn bei der Menge an Vorschriften und dünnen Personaldecke mogelten sie notgedrungen oft irgendwo. Ging gar nicht anders. Aber nicht bei so etwas, nicht bei Sachen, die einem um die Ohren fliegen konnten. Alle Selbstberuhigung half nicht, die Angelegenheit trieb ihn um. Er musste es einfach irgendwie in den Bericht schmuggeln. Nein, unmöglich, der war längst gespeichert, man würde sehen, dass er später noch etwas daran geändert hatte, wie sollte er das erklären? Scheiß-Computer. Früher, als er angefangen hatte, hätte er so ein Formular auch einfach mal verschwinden lassen können und dann eben von nichts wissen, wenn es jemandem auffiel. Oder neu machen. Aber nein, nun musste es anders gehen. Wenn das Rohr das nächste Mal in Gebrauch war und er den Monitor hatte, könnte er behaupten, etwas entdeckt zu haben. Aber dann würden sie die Aufzeichnungen prüfen und sehen, dass da nichts war. Wobei, wenn da nichts war, war ja auch wieder alles okay, oder? Bestenfalls würde man ihn für ein bisschen überspannt und müde halten. Was er ja auch war. Doch, das klang wie ein guter Plan.


„Sach mal, wann läuft die 264 eigentlich das nächste Mal?“


Sein Schichtleiter sah kurz verdutzt aus.


„Ach, nur wegen des Tests gestern.“


Das machte zwar keinen Sinn, hörte sich aber offenbar plausibel genug an, um ein Nicken hervorzurufen.


„Ach, die lief heut morgen schon auf halber Last. Voll komisch, hat zwischendurch richtig fett ausgezuckt. Wir haben’s ignoriert, war vermutlich ein Messfehler, alles andere wäre ja gestern schon aufgefallen.“


Andreas merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Wieso war das Ding denn jetzt schon wieder in Betrieb? Wie konnte das sein? Es hätte doch frühestens nächsten Monat laufen dürfen! Und wieso ignorierten die Deppen denn die verdammte Warnung?! Weil sie sich darauf verließen, dass er gestern sauber getestet hatte. Weil sie alle genauso überarbeitet waren wie er selbst. Er musste es sagen! Aber was denn sagen? Dass er bewusst eine sicherheitsrelevante Messung ignoriert und den eigentlich folgenden Alarm unterschlagen hatte? Dann würden sie kaum noch eine Wahl haben, als ihn rauszuschmeißen, Personalmangel hin oder her. Er dachte an Natalie und die beiden Mädels. Nein, das ging nicht, er musste eine andere Lösung finden. Immerhin würde er nun wochenlang Zeit haben, darüber nachzudenken.


Andreas versuchte, sich zu beruhigen – er würde das schon hinkriegen. Irgendwie. Doch während er weiterarbeitete, nagte es an ihm, erlaubte ihm kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Gleich zwei Mal hätte er beinahe das falsche Ventil geöffnet, beim ersten Mal merkte er es noch selbst, beim zweiten Mal schrak er erst beim Warnton auf. Ahmet, zwei Plätze weiter, warf ihm einen kurzen, skeptischen Blick zu. Andreas wusste, dass er sich dringend zusammenreißen musste – irgendwann würden solche Fehler ernsthafte Konsequenzen haben, denn das Vier-Augen-Prinzip galt schon seit Langem nur noch auf dem Papier. Nicht einmal auf dem Heimweg und ebenso wenig zuhause wurde es besser. Abwesend hörte er Natalies Bericht über ihren Tag zu, abwesend streichelte er das heiße Köpfchen der fiebernden Kleinen, abwesend aß er – was hatte er eigentlich gegessen? Sein Körper schrie förmlich nach Schlaf, doch kaum fand er sich endlich im Bett wieder, wälzte er sich, bis er das Gefühl hatte, auf keiner Seite mehr liegen zu können. Er musste die Sache klären, unbedingt. Er war zu müde, um sich ausmalen zu können, was exakt die schlimmsten Konsequenzen sein könnten, doch der Klumpen in seinem Magen ließ ihn erahnen, dass etwas wirklich Schlimmes passieren könnte.


Als er am nächsten Morgen zur Arbeit fuhr, fühlte sich Andreas vollkommen zerschlagen. Er fror, hatte sägende Kopfschmerzen und fragte sich, ob nicht doch eine Grippe im Anmarsch war. Nur noch mechanisch vermochte er auf Verkehrssignale zu reagieren, stand dann minutenlang auf dem Parkplatz, unfähig, sich aufzuraffen und auszusteigen. Als es gelang, half die kalte Luft, auch noch den Weg ins Gebäude zu bestreiten, doch er wusste – so ging es nicht weiter. Die ersten Minuten am Arbeitsplatz nutzte er, um sich zu sammeln, die Aufgabenliste durchzugehen, das notwendige Update anzuwerfen und sich kurz durch die verschiedenen Leitungssysteme zu klicken. Bei der 264 stutzte er. Sie lief schon wieder unter Last, Volllast sogar. Wieso lief das Scheißding schon wieder?! Das konnte doch gar nicht wahr sein! Hektisch griff er nach dem Telefon und tippte mit bebenden Fingern die Durchwahl zu den Kollegen unten ein, erleichternd aufatmend, als jemand abhob. Warum war er überhaupt so nervös? Er wusste es nicht.


„Sagmal, warum läuft die 264 denn schon wieder?“


„Dir auch ’n guten Morgen.“, kam es mürrisch zurück. „Irgendwas mit einer verzögerten Lieferung, die dringend über die Bühne muss, der Schubverband sollte wohl längst wieder in Nimwegen sein. Die sagen uns ja auch nix. Ist jedenfalls eilig, wir ham bis zum Anschlag aufgedreht. Wieso, ist irgendwas mit dem Ding?“


Jetzt. Jetzt musst du es sagen. Sag es! Andreas schwieg. Fand keinen Anfang, keine Sätze.


„Nee, schon ok, hab mich nur gewundert.“ – als sich der Kollege am anderen Ende schon ungeduldig räusperte.


Das schrille Piepen der getrennten Verbindung hallte in seinem Ohr. Warum in drei Teufels Namen hatte er schon wieder so eine Scheiße gebaut und die Situation nicht genutzt?! Was genau er hätte sagen sollen, fiel ihm jedoch auch im Nachhinein nicht ein. Andreas blickte sich um, als könne ihn jemand bei etwas Verbotenem erwischen, doch der Raum war leer. Unterbesetzt, wie sie immer waren, hatte heute wieder nur Ahmet mit ihm Schicht, und der hatte sich vor ein paar Minuten seiner Ansage nach zu einer „längeren Sitzung“ verzogen. Hieß, er war scheißen – das konnte dauern. Einem Impuls folgend, rief Andreas den Gesamtplan der Raffinerie auf und scrollte sich durch, bis er sein Sorgenkind fand. Wo genau lief die 264 eigentlich lang?


Von der nächsten Sekunde an lief alles im Zeitraffer. Der erste Alarm erklang: Teilweiser Druckverlust auf der 264. Gleichzeitig entzifferte Andreas das Symbol für eine Bodengasfackel, keine zehn Meter von den Abschnitten acht und neun entfernt. Der zweite, dann der dritte Alarm sprang an, vollständiger Druckverlust auf der 264, Druckabfall auf zwei Folgeleitungen. Andreas spürte, wie sein Herz einen Moment lang stehenblieb und dann schlug wie ein Presslufthammer. Das war kein Leck mehr, wenn das stimmte, war das Rohr geplatzt oder gerissen, mindestens musste eine komplette Schweißnaht auseinandergeflogen sein. Und das würde heißen, dass das Toluol nun unkontrolliert mit voller Durchflussrate ausströmte. Direkt neben der Fackel. Panisch hämmerte er aufs Display, doch der freundlich ampelrot leuchtende Button, der das Ventil hätte schließen sollen, reagierte nicht. Der Softwarefehler! Sekundenlang starrte er nur mit vor Entsetzen zitternden Händen auf all die nutzlose Technik. Vielleicht brannte sie gar nicht. Nein - die war immer an. Er wusste es eigentlich, aber ... Toluol war schwerer als Luft, es würde sich lange am Boden sammeln und erst nach einiger Zeit die Fackelöffnung in mehreren Metern Höhe erreichen. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Wäre es anders, würde wohl kaum solche Ruhe herrschen!


Andreas schubste den Drehstuhl beim Aufspringen so heftig von sich, dass der soeben durch die Tür tretende Ahmet einen erschrockenen Satz zur Seite machte. Doch er beachtete den Kollegen nicht. Stattdessen rannte Andreas, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Höchstens das eine Mal in der Siebten, als er Sascha – seines Zeichens Klassensprecher und Klassenarschloch – auf dem Ascheplatz hatte beweisen wollen, dass er schneller war. Doch er war zu langsam, damals wie heute. Schaffte es aus dem Gebäude, sprintete mit brennender Lunge die Werksstraße entlang – der Luftstoß riss ihn einfach von den Füßen. Den Knall hörte Andreas nicht einmal mehr, nur, dass er plötzlich nichts mehr wahrnahm als ein helles, hohes Pfeifen. Die Verpuffung hingegen füllte für einen Wimpernschlag den ganzen Himmel aus, eine orange-rote Ausgeburt der Hölle, gleichzeitig so schön wie eine Blume. Ein brüllender Sonnenuntergang aus Grauen, dem dicker, opaker Qualm folgte, der als pechschwarze Masse gen Himmel stieg, dicht und fest wie aufgehäufte Schlagsahne. Andreas blickte hinauf, erstarrt in Fassungslosigkeit. Dann rannte jemand auf ihn zu, Wimpern und Brauen versengt, das rote Gesicht voll sich dunkel absetzender Rußstreifen. Er sah, dass der Laufende brüllte, doch in seinen Ohren war es nicht mehr als ein Flüstern.


„Es ist einfach hochgegangen, einfach explodiert! Die Männer, die sind ... die sind geflogen, ihre Arme, die haben keine Arme mehr, keinen Kopf!“


Der Mann warf ihm noch einen wilden Blick zu und stürmte dann weiter. Andreas rappelte sich robotergleich auf und ging ein paar wackelige Schritte. Seine Ellbogen waren aufgeschlagen, aber er registrierte es kaum. Die Luft war geschwängert vom scharfen Geruch nach verbrannten Reifen, während er Richtung Parkplatz tappte. Dort herrschte Chaos, Angestellte hatten sich versammelt, schrien oder weinten. Im Augenwinkel sah er dick eingepackte Gestalten der Feuerwehr, Sirenen zerrissen sekündlich die Luft. Andreas nahm nichts davon richtig wahr, setzte sich nur in den Wagen, Hände und Füße taten von selbst alles, was nötig war, um das Auto aus dem Trubel hinaus auf die Straße zu lenken. Eine Zeit lang fuhr er ziellos durch die Gegend, unfähig, die Ereignisse in seinem Kopf zusammenzufügen. Steuerte dann einen Parkplatz an – nur kurz ausruhen – und schlief ein.


Als Andreas erwachte, war es bereits dunkel. Er wusste unmittelbar, was geschehen, war. Und dass allein er Schuld daran hatte. Mit der Erkenntnis kamen die Gefühle. Er schrie vor Verzweiflung und Wut auf sich selbst, trat um sich in seiner kleinen Blechkapsel, weinte, bis er heiser und tränenlos war, schlug den Kopf auf das Lenkrad. Irgendwann ging ihm die Kraft aus. Das stumm geschaltete Smartphone auf dem Beifahrersitz leuchtete ständig auf, aber nichts in der Welt würde ihn dazu bringen, es jetzt in die Hand zu nehmen. Was sollte er Natalie sagen? Wie seine Mädchen großziehen, mit dem Wissen, dass ... Nein, das war unerträglich, er würde alles zerstören. Plötzlich stand es glasklar vor ihm und er wusste, was er zu tun hatte. Konsultierte das Navi. Keinen halben Kilometer entfernt lag die große Fußgängerbrücke über den Park. Vielleicht nicht hoch genug, aber ... Andreas grabbelte mit steifen Fingern einen Stift aus der Mittelkonsole, fand keinen Zettel, bloß einen Kassenbon von McDonald’s. Egal, das musste reichen. Schrieb „Ich liebe euch über alles“ auf die Rückseite. Stieg aus, holte das Abschleppseil aus dem Kofferraum. Trug es bis zur Brücke. Ein rudimentärer Knoten zur Schlinge, ein zweiter am Geländer. Durchatmen. Ich hätte nur ... Nutzte nichts. Sprang.


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