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Belletristik
Buch Leseprobe Hauptbahnhof, Edgar Fuhrmann
Edgar Fuhrmann

Hauptbahnhof


Erzählungen

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Vorübergehende Freundschaft


 


 


D


er Zug rüttelte mich unsanft aus dem Schlaf. Unerbittlich quietschte und ru­ckelte er, bis ich schließlich die Augen aufriss und in die Scheinwerfer des Bahnhofs blinzelte. Tatsäch­lich - ich musste aussteigen. Ich schlüpfte in meine Schuhe, tastete nach meiner Tasche und wankte aus dem Zug hinaus. "Kaffee", dachte ich, während ich schlaftrun­ken der Bahn­hofshalle entgegentorkelte.


Zu meiner großen Freude hatte bereits eine Im­biss­stube geöffnet, wo ich für ein kleines Vermö­gen eine Tasse Kaffee erhielt. Drinnen war die Luft viel zu stickig, als dass ich dort meine müden Augen hätte offen halten können. Also ließ ich mich vor dem Lo­kal auf meiner Ta­sche nieder, die ächzend unter mir zusammen­sank.


Meine Gedanken kreisten um die Frage, wie lange wohl der Kaffee in diesem Zugwind meine Hände wärmen würde, als ich plötzlich spürte, wie je­mand auf mich zukam. Aufblickend sah ich in ein hageres Gesicht, das, von langen, kastanienbrau­nen Haaren umrahmt, noch müder wirkte als meines. Vielleicht einer, der schon mehrere Nächte in Parks geschlafen hat, dachte ich und tastete schon in Gedanken nach meinem Porte­monnaie, um möglichst schnell auf die erwartete Bitte um Geld reagieren zu können.


"Willste 'n Bier?" fragte der Mann mit dem hage­ren Gesicht mich unvermittelt. Auf meinen er­staunten Blick hin ergänzte er: "Ich geb' dir eins aus."


Die Frage hatte mich so überrumpelt, dass ich zu­nächst nicht wusste, was ich antworten sollte. "Ehr­lich gesagt", murmelte ich dann, "ein Kaffee wär' mir lieber."


"Auch gut", gab er zurück und verschwand wort­los in der Imbissbude.


Seltsamerweise kam mir keine Sekunde lang der Ge­danke, dass es sich bei der Einladung um einen An­machversuch handeln könnte. Wahrscheinlich lag das daran, dass die Stimme des Mannes völlig frei war von jenem  zweideutigen Unterton, der ansons­ten für solche Situationen typisch ist. Er strahlte eine Offenheit aus, die mich instinktiv Vertrauen zu ihm fassen ließ.


Während er den Kaffee besorgte, hatte ich Gele­gen­heit, ihn durch die großen Glasscheiben des Lokals näher zu betrachten. Auf die Entfernung fiel vor al­lem seine vorgebeugte Haltung auf. Die Lederklei­dung, die früher vielleicht einmal eng an seinem Körper angelegen hatte, ihm jetzt aber viel zu weit war, ließ ihn ein wenig verloren aussehen. Eine Vo­gelscheuche auf Wanderschaft, stand er fremd vor dem Tresen und kramte in seinen Ta­schen, um den Kaffee zu bezahlen. Seine Bewe­gungen waren nach­lässig und auch ein wenig zitt­rig - der Kaffee befand sich bereits zu einem guten Teil auf der Untertasse, als er ihn mir reichte. Nachdem ich die alte Tasse neben mich gestellt und die neue entgegengenom­men hatte, schob er sich einen herrenlosen Kofferkuli heran und setzte sich neben mich.


Eine Zeit lang saßen wir schweigend nebeneinan­der. Ab und zu an meinem Kaffee nippend, däm­merte ich vor mich hin, während er den Leuten, die nun allmählich ihren Morgenzügen zustreb­ten, unbetei­ligt nachblickte. Ich dachte, mir, dass ich jetzt wohl ein Gespräch beginnen müsste. Während ich noch über ein geeignetes Thema nachsann, fragte er mich plötzlich: "Weißt du, wo ich gerade herkomme?"


Ich ließ mein pflichtgemäßes "Nee" verlauten und blickte ihn erwartungsvoll an.


"Ausm Knast", sagte er da.


Ich bemühte mich, möglichst gleichgültig zu wir­ken: "Haste jemand besucht, oder ...?"


"Nee. Ich hab' drei Jahre gesessen. Wegen Gras."


"Drei Jahre!" brach es aus mir heraus. "So lange!"


Er nickte. Um uns her wurde es nun zunehmend hekti­scher. Immer häufiger wurden Züge ausge­rufen, stoßweise strömten die Pendler den Gleisen oder dem Ausgang zu. Einige musterten uns mit un­verhohlenem Ärger, wenn sie uns in dem Ge­dränge umschiffen mussten und so wertvolle Se­kunden verloren.


Ohne sich um das Gewusel zu küm­mern, begann mein neuer Bekannter zu erzählen: "Weißt du, das war damals echt 'ne geile Zeit. Wir haben da zu­sammen in so 'nem Haus gelebt, ich und 'n paar Freunde, ganz weit draußen. War fast schon länd­lich. Einmal haben wir uns sogar über­legt, ob wir uns ein paar Hühner anschaffen soll­ten. - Magst du Hühner?" fragte er mich unver­mittelt.


"Ich weiß nicht. Eher die Eier als die Hühner."


"Eben", lachte er. "So 'n Huhn, das macht halt auch 'ne Menge Dreck, und vor allem gackern die Viecher ja laufend. Also haben wir das mit den Hühnern lie­ber gelassen. Aber es war auch ohne Hühner sehr idyllisch. Weißt du, da hat keiner einfach so sein Ding abgezogen - es war echt einer für den andern da. Wir haben alles miteinander geteilt: gemeinsames Haus, gemeinsame Kasse, gemein­samer Kühl­schrank... Natürlich hatte jeder sein eigenes Zimmer, aber wenn man Probleme hatte, ist man einfach in die Küche gegangen und ... na ja, es war halt immer je­mand da, wenn man mal nicht so gut drauf war."


Er blickte starr vor sich hin. Fast schien es, als hätte er mich vergessen. Durch die Lautsprecher tönten die ersten Verspätungsmeldungen. "Ir­gendwann habe ich dann den Wolf kennen ge­lernt", fuhr er nach einer Weile fort. "Ich bin im­mer gern in die 'Sahara' gegangen - das war so 'ne Junkie-Kneipe -, und irgendwann saß er halt auch an der Bar. Er ist mir natürlich gleich aufgefallen. Der hatte so herrlich lange blonde Locken - und Augen hatte der ... Ich hab' ihn spontan zu 'nem Bier eingeladen, 'n Joint hab' ich ihm natürlich auch angeboten. Wir haben uns auf Anhieb bom­big verstanden. Der Wolf, der konnte dir stun­denlang zuhören, aber du konntest auch so richti­gen Scheiß mit ihm machen - ein echter Kumpel eben! Von da an habe ich ihn fast immer getroffen, wenn ich in die Sahara gegangen bin. Wir haben ewig miteinander gequatscht. Und schließlich hat er mir auch von sich erzählt. Dass sein Vater vor ein paar Monaten gestorben ist, dass er keine richtige Bleibe hat, kein Geld, keine Freunde und so. Mensch, das ist mir echt nahe gegangen! Wir hatten zwar bei uns im Haus kein Zimmer mehr frei, aber mein Zimmer war sehr groß, und da hab' ich ihm halt an­geboten, zu mir zu ziehen. - Hättste doch auch ge­macht, oder?"


"Ja, klar", entgegnete ich (auch wenn ich mir des­sen gar nicht so sicher war) und blickte ihn auf­munternd an. Er tat mir leid, wie er mich so fle­hentlich und auch ein wenig verwirrt anschaute.


Erleichtert über meine zustimmende Antwort, fuhr er fort: "Die anderen haben mir erst mal schwer Kontra gegeben. So 'ne eingeschworene Gemein­schaft, und dann kommt plötzlich ein Neuer dazu, den man gar nicht richtig kennt - da ist man natür­lich misstrauisch, das habe ich ja auch verstanden. Aber ich wollt' eben unbedingt was für den Wolf tun, und irgendwann haben die andern das auch eingesehen - so ist der Wolf dann zu uns gezogen. Am Anfang haben wir uns alle ganz super verstan­den. Der Wolf war halt ein netter Junger, der hatte so was ... Na, irgendwie musste man ihn einfach mö­gen. Aber nach 'ner Weile gab's dann doch Ärger; weil er ja auch die ganze Zeit auf unsere Kosten ge­lebt hat. Da meinten die anderen eben, er könnte auch mal irgendwas beisteuern. Außerdem ist er öf­ter mal für 'ne Nacht verschwunden, einfach so, ohne jede Erklärung, und das hat einige misstrauisch ge­macht."


Er verfiel in ein kurzes Schweigen, dann fragte er mich plötzlich: "Hast du einen Freund?"


"Wie bitte?" - Ich hatte ihn nicht gleich verstan­den, denn mittlerweile war der morgendliche Bahnhofs­betrieb voll im Gange. Züge fuhren ab und kamen an, Lautsprecherstimmen überschlu­gen sich, Men­schen stolperten und fluchten.


"Na, einen Freund", wiederholte er, "einen richti­gen, meine ich. - Hast du keinen Freund?"


"Doch, schon ..."


"Kannst du dir vorstellen, deinem Freund zu miss­trauen?"


"Nein - dann wär's doch kein Freund!"


"Siehst du, genau das habe ich denen damals auch gesagt. Ich hab' mich sogar noch für den Wolf ein­gesetzt, als wir wieder mal nach Amsterdam ge­fah­ren sind. Du weißt schon - von wegen Cof­feeshops und so. Wir haben das immer mit 'ner kleinen Zelt­tour verknüpft: ein bisschen bum­meln, ein bisschen Landschaftgucken und so. Der Wolf wollte da unbe­dingt mit, und ich hab' schließlich auch durchgesetzt, dass er mitkommen darf. Schließlich sind wir mit unserm alten VW-Bus gefahren, da war sowieso noch Platz. In Amsterdam war's dann echt lustig. Es war Som­mer, und wir hatten ein super Wetter ... Einmal sind wir in ein Gewitter geraten, da haben wir uns mitten in Amsterdam vor 'ne Kirche ge­knallt. Den Wolf hättste auswringen können - er hatte nun mal so schöne lange Haare ... Ich hab' sie ihm mit meinem Pulli trocken gerubbelt ... Ey, stell' dir vor, ich hab' noch meinen Pulli für den geopfert, und der ..."


Für einen Moment schien es, als würde ihm die Stimme versagen. Ich blickte erschrocken zu ihm herüber und sah, dass ihm Tränen über die Wan­gen liefen.


"Auf der Heimfahrt haben wir inner Raststätte Halt gemacht", erzählte er weiter. "Nach dem Es­sen war der Wolf dann plötzlich weg. Ich dachte zuerst, der wär' aufm Klo. Aber wie ich da runter gehe, steht der plötzlich da und telefoniert! Der ist vielleicht er­schrocken, als er mich gesehen hat! Mir hat er doch immer gesagt, er kennt nieman­den, und jetzt muss er plötzlich aus Holland Leute anrufen. Aber ich habe nichts gesagt; ich dachte, der erklärt dir das sicher selbst noch."


Er wischte sich mit den Ärmeln seiner Lederjacke übers Gesicht, dann fasste er in die Hosentasche, of­fenbar um ein Taschentuch zu suchen. Da er nichts fand, fragte er mich: "Haste was zum Schnäuzen?"


Ich kramte ein Papiertuch heraus, das ich aus der Zugtoilette mitgenommen hatte. Als ich es ihm gab, trafen sich für Sekundenbruchteile unsere Blicke. Ich sah in seine blutunterlaufenen Augen, und ich musste an das Gefängnis denken, an die vielen Tage und Nächte, in denen diese Augen gegen die Wand gestarrt hatten.


Er schnäuzte sich und steckte das Tuch dann in seine Tasche: "Ich darf's doch behalten, ey?"


"Klar. Im Zug gibt's genug davon."


Er besann sich kurz und erzählte dann weiter: "Als wir wieder über die Grenze sind, stehen da plötzlich lauter Bullen. Die haben uns gleich aus dem Auto rausgezerrt - du weißt ja, wie zärtlich die sind. Nach dem Gras mussten die Kerle nicht lange suchen. Die wussten genau, wo das ver­steckt war. Danach sind wir alle in so 'nen fahren­den Käfig gesteckt worden - nur der Wolf nicht! Ey, der war mit denen sogar per Du! Kannst du dir das vor­stellen? Der ist mit den Bullen per Du, und ich dachte, das ist mein Freund! Mensch, und wie der geguckt hat: so ganz eiskalt! Ich kann dir sagen, ich war fix und fertig!"


Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. Er griff nach dem Tuch, das ich ihm gegeben hatte, und schnäuzte sich erneut. Erst jetzt merkte ich, dass schon hier und da Leute stehen geblieben waren und uns anglotzten.


"Das Schlimmste war dieses Heimtückische", er­gänzte er. "Die wussten ganz genau, dass ich auf so 'ne Typen stehe - die haben den extra auf mich ange­setzt!"


"So eine Sauerei!" gab ich ihm Recht, während ich den verstohlen glotzenden Passanten direkt ins Ge­sicht blickte, um sie zu vertreiben.


"Wo willst du eigentlich hin?" fragte er mich nach einer Weile, als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.


"Ich wollte mit dem nächsten Zug nach B. fahren", entgegnete ich.


"Mensch, der fährt ja in fünf Minuten", sagte er und sprang auf. "Da musste dich aber beeilen!"


Etwas benommen erhob ich mich, woraufhin ich sogleich spürte, wie sich die Stacheln eines über­nächtigten Gesichts in meine Wangen bohrten.


"Mach's gut, ey", flüsterte er, während ich mich be­mühte, ihm nicht noch einmal in seine müden Augen zu sehen. Im nächsten Augenblick hatten die Ströme der Reisenden uns auseinander geris­sen.


 


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