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Belletristik
Buch Leseprobe Einblicke, Maria Braig
Maria Braig

Einblicke


Leseproben

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Aus: Die 5 Doppelpunkte und das verschwundene Skelett


 


1. Die Gang Die Schulglocke läutete. Endlich erlöst. Luke, Lena, Ferrari und Slash hatten es eilig. Es war Freitag, das Wochenende begann genau in diesem Moment. Zweieinhalb freie Tage, zweieinhalb Tage ohne Schule, zweieinhalb Tage, die nur der Gang (Gang wird Gäng ausgesprochen und ist das englische Wort für eine Bande) gehörten. Sie gingen gewöhnlich alle gerne zur Schule. Manchmal war es dort sogar richtig spannend, oft auch lustig, vor allem wenn jemand Blödsinn machte. Meistens waren sie es selbst, die diese Aufgabe erfüllten, aber eben nur meistens. Nicht hinter allem, was in der Schule passierte und nicht passieren sollte, steckten die vier, aber fast immer wurden sie beschuldigt, wenn etwas geschah. „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert“, war Lukes Reaktion auf dieses Thema. Luke las gerne und viel und warf deshalb häufig mit Zitaten um sich. Man konnte dabei allerdings nie sicher sein, ob es sich wirklich um Zitate handelte, oder ob Luke einfach gerade etwas Passendes erfunden hatte. Aber der Unterricht und vor allem die Hausaufgaben schluckten einfach zu viel Zeit. Es gab so viele spannendere Dinge zu erleben, als vormittags im Klassenzimmer zu sitzen und nachmittags zu Hause langweilige Aufgaben zu erledigen. Dieses Wochenende wollten alle gemeinsam bei Ferrari verbringen. Ferrari hatte sie zu sich eingeladen. Zum ersten Mal hatten ihre Eltern erlaubt, dass die Zwillinge und Slash bei ihr übernachteten. Das musste gefeiert werden. Jede Minute wollten sie genießen und außerdem gab es wichtige Dinge zu besprechen. Schnell trennten sie sich nach dem Unterricht, um zu Hause zu holen, was sie für das Gang-Wochenende brauchten. Ferrari wollte solange Proviant fürs Wochenende einkaufen. Chips, Süßigkeiten und Cola – was man eben brauchte für ein gemeinsames Wochenende. Nach den Sommerferien waren sie alle aus verschiedenen Grundschulen in die fünfte Klasse des Gymnasiums gewechselt. Schon bald hatten sie sich zusammengetan und waren seither die besten Freunde und Freundinnen geworden. Während der Herbstferien hatten sie die Gang gegründet. Die Gang sollte immer zusammenhalten, gemeinsam Abenteuer bestehen und, wenn es nach Luke ging, der ein großer Fan der Krimireihe ‚Die drei Fragezeichen‘ war, ungelöste Kriminalfälle aufklären. Nur auf einen Namen hatten sie sich noch nicht einigen können. Luke und Lena waren die einzigen, die sich schon kannten, bevor sie ins Gymnasium kamen. Sie kannten sich sogar schon ihr ganzes Leben lang, denn Luke und Lena waren Zwillinge. Allerdings hatten sie außer ihrem Geburtstag und den Eltern nicht viel gemeinsam. Luke hatte blonde Haare und war etwas klein für sein Alter, was ihn vor allem deshalb ärgerte, weil seine Schwester Lena nach dem letzten Wachstumsschub die Größte in der Klasse war. Lenas Haarfarbe nannte ihre Mutter „Straßenkötermischung“, was heißen sollte, dass die Farbe nicht richtig zu bestimmen war. Ein wenig blond, ein wenig braun – für Lenas Haarfarbe fand sie kein Wort, außer eben „Straßenkötermischung“. Auch in ihrer Freizeit hatten die Zwillinge sehr unterschiedliche Interessen. Luke las gerne und viel, während Lena lieber am PC saß und daddelte. Sie beschäftigte sich, wenn die Eltern nicht einschritten, stundenlang mit Computerspielen. Luke war seit Beginn des Schuljahres in der Theater-AG der Schule, Lena war schon seit sie fünf Jahre alt geworden war im Fußballverein. Seit einiger Zeit war sie Torwart ihrer Mannschaft. Ihre ‚ersten Eltern‘, so nannten die Zwillinge ihren Vater Marc und ihre Mutter Svenja, hatten sich kurz nach dem fünften Geburtstag der Zwillinge getrennt, weil Marc sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Svenja war bis heute Single geblieben und meistens irgendwo in der Welt unterwegs. Das war schon immer ihr Traum gewesen und deshalb war sie froh, die Kinder bei Marc und seinem Freund Timo in guten Händen zu wissen. Sie war Ärztin und arbeitete in unterschiedlichen Projekten in fernen Ländern. Mal war sie mehrere Wochen fort, manchmal auch ein paar Monate. Dann blieb sie eine Zeit lang zu Hause. Sie wohnte dann in der kleinen Einliegerwohnung im Haus, in dem Luke und Lena mit ihren ‚zweiten Eltern‘ lebten. In diesen Wochen unternahm sie viel mit den Zwillingen und besuchte Freunde und Verwandte in Deutschland bis der nächste Einsatz begann. Zurzeit arbeitete sie irgendwo in Afrika in einem Krankenhaus. In welchem Land hatten die beiden schon wieder vergessen. Es interessierte sie nicht besonders, was ihre Mutter tat, wenn sie weg war. Wichtig war nur die Zeit, die sie gemeinsam verbringen konnten. Es fiel ihnen jedes Mal schwer, sie wieder gehen zu lassen, aber wenn sie dann abgereist war, vermissten sie Svenja nur selten. Eine immer gut gelaunte Ferienmutter hatte Vorteile, fanden sie beide. Sie wurde ständig von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie so wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen konnte. Deshalb verwöhnte sie die Zwillinge, solange sie bei ihnen war, nach Strich und Faden. Luke und Lena bekamen von ihr fast alles, was sie sich wünschten, und sie erlebten ihre Mutter nur selten verärgert oder schlecht gelaunt. Das hatte was, fanden Lena und Luke, und wenn sie länger unterwegs war, freuten sie sich umso mehr darauf, wenn sie wieder nach Hause kam. Marc, der Vater der Zwillinge, war kurz nach der Trennung von Svenja mit seinem Freund Timo zusammengezogen. Vor einem Jahr hatten die beiden dann geheiratet. Ihre ‚zweiten Eltern‘ nannten Luke und Lena ihren Vater Marc und seinen Freund und jetzigen Mann Timo. Von ihren Papas erlebten sie im Gegensatz zu der meist weit entfernt lebenden Mama auch die negativen Seiten. Sie waren manchmal genervt oder verärgert und sie machten ihnen Vorschriften: wie lange sie Computer spielen durften und wann sie abends das Licht ausgemachen sollten und Luke sein Buch zur Seite legen musste. Sie wollten, dass die Zwillinge möglichst wenig Süßigkeiten, sondern stattdessen Gesundes aßen. Sie achteten darauf, dass sie ihre Hausaufgaben ordentlich machten und, wenn Tests oder Klassenarbeiten anstanden, fleißig lernten. Die Väter schimpften auch schon mal, wenn die Kinder ihre Pflichten im Haushalt versäumten. Aber so waren Eltern nun mal, damit musste man leben. Damit konnte man auch ganz gut leben, fanden Lena und Luke, wenn die Eltern ansonsten gut drauf waren, so wie es bei Timo und Marc der Fall war. Man konnte mit ihnen genauso gut Probleme besprechen, wie gemeinsam Unsinn machen, und wenigstens einer der Papas war immer für sie da, wenn sie Hilfe brauchten. Das dritte Mitglied der Gang war Ferrari. Wie Ferrari eigentlich hieß, wusste fast niemand außer ihr selbst und ihren Eltern. Auch die Lehrer und Lehrerinnen nannten sie nur Ferrari, seit sie sich in der ersten Schulstunde im Gymnasium so vorgestellt hatte. Nur Slash und den Zwillingen hatte Ferrari inzwischen erzählt, woher der Name kam. Wenn andere sie fragten, gab sie nur kurz angebunden zur Antwort: „Ich heiße eben so. Frage ich dich, warum du Marlene heißt? Also!“ Ferrari war häufig kurz angebunden und unfreundlich zu anderen. Man musste sich schon anstrengen, sie zur Freundin zu bekommen. Dabei durfte man an sich von ihrer rauen und unfreundlichen Art nicht abschrecken lassen. War das geschafft, dann war Ferrari die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte. Von Geburt an funktionierten Ferraris Beine nicht. Von den Knien bis zu den Zehen ließen sie sich nicht bewegen. „Manche Menschen haben Füße, um sich weiterzubewegen, andere Räder. Was besser ist, weiß man nicht.“ Das war Ferraris Motto, seit sie, als sie noch ziemlich klein war, diesen Unterschied festgestellt hatte. Als Ferrari am ersten Schultag nach der Begrüßungsveranstaltung im Musiksaal der Schule mit den anderen ins Klassenzimmer der Klasse 5 c rollte, wurde sie neugierig beobachtet. Ferrari kannte das schon. Sie konnte genau unterscheiden, wer einfach nur neugierig war und genau hinsah und wer dabei „was will die Behinderte hier“ dachte. Manche würden sich später auch trauen, das laut zu sagen, wusste Ferrari. Weil sie schon häufig erlebt hatte, dass man ihr mit bösen Blicken oder Worten begegnete, war sie so rau und unfreundlich geworden. Erst mal abwarten, wer sich ihr gegenüber wie verhielt. Nur nicht zu offen sein und sich damit verletzbar machen. Das hatte sie gelernt und sie hatte auch gelernt, genau zu beobachten und genau hinzuhören. Deshalb war ihr auch nicht entgangen, dass manche Kinder heimlich kicherten oder grinsten, als Lena und Luke bei der Vorstellungsrunde von ihren beiden Vätern erzählten. Sie hatte sich daraufhin den beiden in der großen Pause angeschlossen und sie genau unter die Lupe genommen. Luke und Lena gefielen ihr. Sie waren zwar auch neugierig und besahen sich den Rollstuhl sehr genau – vor allem Lena interessierte sich sehr für die Technik des knallrot lackierten Gefährts – aber Interesse war für Ferrari okay. Ernst gemeinte Fragen beantwortete sie gerne, wenn ihr die Fragenden sympathisch waren. Und das war bei Lena und Luke auf Anhieb der Fall gewesen. Die beiden gefielen ihr. Sie könnten Freunde werden, glaubte Ferrari. Es dauerte auch gar nicht lange, bis sie ihnen von sich aus erzählte, woher der Name Ferrari kam: Als kleines Mädchen war sie in einer Gruppe mit anderen Rollstuhl-Kindern gewesen, die gemeinsam übten, sich möglichst geschickt fortzubewegen. Sie lernten Hindernisse rechtzeitig zu erkennen, geschickt zu umfahren und sicher mit dem Rollstuhl umzugehen. In diesem Fahrkurs, wie Ferrari es nannte, machten die Kinder manchmal ein Rollstuhlrennen. Fast immer war Ferrari dabei die Schnellste gewesen. Weil ihre Lieblingsfarbe außerdem rot war, dauerte es nicht lange, bis sie ihren Namen weg hatte: Ferrari. Das gefiel ihr und schon bald kannte man sie überall nur noch unter dem neuen Namen. Luke und Lena fanden die Geschichte witzig, vielleicht erzählte Ferrari auch nur besonders lustig, überlegte Lena, denn eigentlich war es ja nichts Besonderes. Beide fragten nicht nach, wie sie ursprünglich geheißen hatte und das gefiel Ferrari. Die Freundschaft war besiegelt. Dann war da noch Slash. Slashs Vater war verschwunden, bevor sein Kind geboren wurde. Slash wusste nicht, wer der Vater war und wo er lebte, die Mutter sprach nicht von ihm. Slash hatte ein paar Mal nachgefragt, aber keine richtige Antwort bekommen. Eigentlich war es ja auch nicht wichtig. Mutter und Kind waren ein gutes Team, fand Slash und eine erwachsene Person, die man aushalten musste, genügte völlig. Slash ließ sich ein paar Tage Zeit mit der Suche nach Freunden. Die große Pause konnte man auch ganz gut allein verbringen, das war kein Problem für Slash. Aus der alten Grundschulklasse war niemand mit auf das Gymnasium gekommen und so begann hier alles ganz neu. Neues Spiel, neues Glück – Slash wollte erst einmal abwarten und dann sehen, was sich so ergab. Als sich am ersten Tag in der neuen Klasse alle der Reihe nach vorstellten, hieß Slash noch nicht Slash. „Ich bin Jan oder Jana. Könnt ihr euch aussuchen.“ Erst einmal blieb es still, dann fragte jemand: „Ich habe nicht verstanden. Heißt du nun Jan oder Jana?“ Jan/Jana atmete tief durch und antwortete: „Jan oder Jana. Jan und Jana. Mal bin ich Jan, mal bin ich Jana und weil ihr nicht wissen könnt, wer ich gerade bin, sagt einfach Jan-Slash-Jana zu mir.“ Als alles ruhig blieb fügte Jan/Jana noch hinzu: „Ihr wisst doch was ein Slash ist, oder nicht?“ „Na klar“, brüllte von hinten eine laute Stimme. „Wir sind doch nicht doof. Dieser Schrägstrich beim Computer ist ein Slash, aber was soll der Blödsinn? Heißt du nun Jan oder Jana? Bist du ein Mädchen oder ein Junge?“ „Ja“, antwortete Jan/Jana, „was sonst?“ Es dauerte eine Weile, bis die Kinder die Antwort verstanden hatten, dann begannen einige zu kichern. „Also“, Jan/Jana holte noch einmal tief Luft und nahm allen Mut zusammen. „Mal bin ich ein Mädchen und mal ein Junge, oder beides oder keins von beiden – sucht es euch aus.“ Gelächter war die Antwort. Das ging ja gut los hier, der Klassenclown machte seine Sache gut. Als die Kinder aber bemerkten, dass das wohl gar kein Spaß war, hörte das Gelächter auf. Sie verstanden nicht und sahen unschlüssig zwischen Jan/Jana und der Lehrerin hin und her. „Wie kann man so blöd sein, nicht zu wissen, was man ist. Bist du nun ein Junge oder ein Mädchen?“, rief einer der Jungen laut ins Klassenzimmer, doch bevor Jan/Jana antworten konnte, mischte sich die Lehrerin ein. Jan/Janas Mutter hatte bei der Anmeldung für das Gymnasium um einen Termin gebeten: Es gebe etwas zu besprechen, ihr Kind hätte eine Besonderheit. Zu dritt saßen sie dann an einem Nachmittag in einem kleinen Klassenzimmer und Jan/Janas Mutter erklärte ausführlich, warum sie sich sorgte. Sie bat Frau Krause, die Klassenlehrerin, ihr Kind zu unterstützen, wenn es wegen seiner Besonderheit Probleme mit den anderen Kindern bekommen würde. Das Kind saß still neben den beiden Frauen, hörte genau zu, nickte hin und wieder, sagte aber kein Wort. „Als mein Kind zur Welt kam sagte die Hebamme: ‚Ein gesunder Junge, herzlichen Glückwunsch.‘ Ich nannte ihn Jan. Mit sechs Jahren erklärte Jan, er sei kein Junge, sondern ein Mädchen. Ich dachte erst, das wäre ein Spiel und spielte mit. Ich nannte mein Kind nun Jana, es trug mal Kleider und Röcke, dann wieder Jeans, ganz nach Belieben. Ich gewöhnte mich daran, dachte nicht weiter darüber nach und sprach auf Janas Wunsch hin nur noch von „meiner Tochter“. Alles eine Phase, dachte ich mir. Irgendwann wird sich das legen. In der Schule blieb alles beim Alten. Sie spiele dort Jan, erklärte mein Kind, das darauf bestand, zu Hause Jana zu sein. Als das Spiel nach einem Jahr immer noch nicht aufhören wollte, begann ich mir Gedanken zu machen. Doch keine Phase? Ich hatte selbstverständlich schon von Menschen gehört, die sagten, sie seien im falschen Körper geboren worden. Aber immer waren es Erwachsene gewesen: Männer, die als Frauen lebten und Frauen, die als Männer lebten, und die sich sogar operieren ließen, um ihr Aussehen dem anzugleichen, wie sie sich fühlten. Ich überlegte, ob dies vielleicht bei meinem Kind auch der Fall war und Jan den Fehler einfach schon sehr früh bemerkt hatte.“ Die Lehrerin hörte gespannt zu, sagte aber nichts. Am achten Geburtstag, so erzählte Jan/Janas Mutter weiter, kam die nächste Überraschung. „Ich muss dir was sagen“, sagte Jana, während sie ihre Geschenke auspackte. „Ich bin kein Mädchen!“ Auf die Frage der Mutter: „Also bist du jetzt wieder Jan?“ folgte heftiges Kopfschütteln. „Nein, ich bin kein Junge, das weißt du doch.“ „‚Aber was bist du denn dann?‘, fragte ich ein wenig ärgerlich“, fuhr Jan/Janas Mutter mit ihrer Erzählung fort. „‚Irgendwann musst du dich doch mal entscheiden. Bist du nun ein Junge oder ein Mädchen?‘ Jan/Jana antwortete ‚Ja, genau!‘, ließ mich stehen, nahm die Geschenke und ging ins Kinderzimmer. In der Schule blieb Jan/Jana weiterhin Jan, aber zu Hause nannte sie sich von da an mal Jan und mal Jana.“ Jan/Janas Mutter schaute die Lehrerin ernst und ein wenig besorgt an. „Jetzt hat Jan/Jana beschlossen, sich in der neuen Schule nicht mehr zu verstecken, nicht mehr Jan zu spielen, und das macht mir ein wenig Angst“, schloss Jan/Janas Mutter ihren Bericht. Nach einer kurzen Pause nickte die Lehrerin und sagte: „Ich werde mich um Jan/Jana kümmern und dafür sorgen, dass es möglichst wenig Probleme mit den anderen Kindern gibt.“ Sie wandte sich an Jan/Jana: „Bisher habe ich noch niemanden wie dich kennengelernt, aber wenn du sagst, du bist ein Junge oder ein Mädchen, dann wirst du bestimmt wissen warum. Ich unterstütze dich gerne. Du bist ganz schön mutig, finde ich. Allerdings musst du im Sport trotzdem zu den Jungen. Du musst dich in der Jungenkabine umziehen und beim Schwimmen musst du in die Dusche mit den anderen Jungs. Außerdem musst du die Jungentoilette benutzen. Es tut mir leid, aber daran musst du dich halten, sonst gibt es riesige Probleme mit den meisten anderen Eltern, fürchte ich.“ Jan/Jana hatte aufmerksam zugehört und zuckte nun mit den Schultern. „Kein Problem. Ich bin ja kein Nicht-Junge, ich bin beides, Junge und Mädchen. Dann kann ich wohl an den Sport- und Schwimmtagen auch mal nur Jan sein.“ Frau Krause, die Klassenlehrerin, wusste also Bescheid und mischte sich nun ein. „Marek, du hast gefragt, wie man so blöd sein kann, nicht zu wissen, was man ist. Das ist die falsche Frage.“ Frau Krause erklärte den Kindern nun, dass Jan/Jana ursprünglich Jan hieß und selbstverständlich auch wusste, wie man gewöhnlich die Menschen einteilte. „Jan/Jana ist nicht zu blöd, um das zu wissen, aber nicht alle Menschen und auch nicht alle Kinder nehmen einfach alles so hin, wie man es ihnen sagt. Das tust du doch auch nicht, Marek, oder?“ Marek war ein wenig rot geworden, als die Lehrerin ihn auf sein freches Losschreien ansprach, schüttelte jetzt aber zustimmend den Kopf. „Was fällt dir denn ein, womit du dich nicht einfach zufrieden gibst?“ „Mein Vater sagt immer, ich wäre zum Basketballspieler geboren, weil ich so groß bin. Ich will aber lieber Fußball spielen“, sagte Marek nach einiger Zeit nachdenklich. „Ein gutes Beispiel“, lobte die Lehrerin. „Hat noch jemand andere Beispiele?“ Karla meldete sich. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich aufs Gymnasium gehe, weil das in unserer Familie nicht üblich ist. ‚Wir Schulzes sind keine Studierten, wir sind eine Arbeiterfamilie‘ haben meine Eltern gesagt.“ „Und doch hast du dich durchgesetzt und bist jetzt hier.“ Karla nickte. „Noch weitere Beispiele?“ „In meiner Familie sind alle Ärzte und ich soll auch Arzt werden“, sagte Gerry versonnen. „Eigentlich möchte ich aber lieber Zimmermann werden oder so was. Ich mag Holz und ich bastle gerne.“ Frau Krause nickte zufrieden. „Seht ihr, so ähnlich geht es Jan/Jana eben mit dem Junge oder Mädchen sein. Jan/Jana nimmt es nicht einfach hin, Jan zu sein, so wie ihr nicht Basketballspieler, Arbeiterin oder Arzt werden wollt, nur weil man euch sagt, das wäre eure Bestimmung.“ Die Lehrerin sah in die Runde. Alle saßen still und nachdenklich auf ihren Plätzen. „Versteht ihr, was ich meine?“ Allgemeines Nicken und zustimmendes Gemurmel folgte. Manche waren etwas zögerlicher als andere, aber niemand widersprach. Dann durchbrach Marek ungefragt die Stille. „Jan-Slash-Jana ist aber trotzdem doof. Viel zu kompliziert. Du heißt ab jetzt einfach Slash!“ Und dabei blieb es. Der Platz neben Slash war freigeblieben, was Slash ganz recht war. Erst mal beobachten und sich um niemanden kümmern, war Slashs Devise. Schon bald bemerkte Slash, dass Lena, Luke und Ferrari die Pausen immer zusammen verbrachten. Immer standen und saßen diese Drei zusammen: Die Zwillinge und das Mädchen im Rollstuhl. Sie hatten Spaß miteinander und, so schien es Slash, sie sahen immer wieder in Slashs Richtung. Als das Alleinsein dann doch zu langweilig wurde, gesellte sich Slash in einer großen Pause zu der kleinen Gruppe. „Warum seid ihr immer nur unter euch und warum guckt ihr dauernd zu mir?“, fragte Slash ein wenig von oben herab. „Hast du ein Problem, oder willst du eins?“ Lena baute sich vor Slash auf. „Du stehst doch auch immer nur allein herum. Und wenn du weißt, dass wir zu dir hingucken, dann heißt das, du guckst auch dauernd zu uns. Also, was willst du?“ Slash tat es schon leid, sich so unfreundlich verhalten zu haben, wusste nun aber nicht, wie das wieder gutzumachen war. Slash hatte gewusst, dass es nicht einfach wäre, der Klasse gegenüber ehrlich zu sein und sich als Jan/Jana zu erkennen zu geben. Aber Slash hatte einfach keine Lust mehr gehabt, immer nur zu Hause ganz sich selbst sein zu dürfen und in der Schule und bei den Freunden den Jungen Jan zu spielen. „Angriff ist die beste Verteidigung“, diesen Satz hatte Slash irgendwo gelesen oder gehört, passend gefunden und beschlossen, mit dem Versteckspiel aufzuhören. Nach der Vorstellungsrunde in der Klasse, bei der die Lehrerin wirklich gute Arbeit geleistet hatte, wie Slash fand, hatte niemand gewagt, dumme Sprüche zu machen. Aber richtig angekommen war das alles dennoch nicht, schien es Slash. Die anderen hielten Abstand und Slash meinte manchmal Getuschel zu hören und komische Blicke zu spüren. Slash entging es aber auch nicht, dass manche sich über die Väter von Luke und Lena lustig machten oder Witze über Behinderte erzählten, wenn Ferrari abseits stand. War die Lehrerin in der Nähe, wagte das niemand. Wenn Frau Krause dabei war, waren alle nett und freundlich und fanden Rollstuhlkinder, schwule Väter und Mädchen-Jungen total normal und okay. Waren die Kinder unter sich, war das alles nicht mehr ganz so einfach. „Angriff ist die beste Verteidigung“ war auch der Grund gewesen, dass Slash sich Lena, Luke und Ferrari so zickig und angeberisch genähert hatte. Lieber die/den Starken markieren, als dumme Sprüche und eine Abfuhr zu riskieren. Allerdings war Slash da bei Lena an die Falsche geraten. Wie jetzt da wieder rauskommen, ohne alles so kompliziert zu machen, dass nichts mehr zu retten war? Slash wollte nicht mehr die ganze Zeit allein sein in den Pausen und wünschte sich endlich Freunde hier in der Klasse. Slash nahm allen Mut zusammen. Es konnte ja nicht mehr als schiefgehen. „Okay, es tut mir leid. Eigentlich wollte ich nur nicht so allein herumhängen und wusste nicht, wie ich euch ansprechen soll. Ich, also ich ...“ „Schon gut.“ Ferrari mischte sich jetzt ein. „Du musst dir nichts abbrechen, nur weil du Freunde suchst und weißt, dass wir genauso wie du von den anderen nicht für voll genommen werden.“ „Nicht von allen jedenfalls.“ Luke hatte etwas gegen Verallgemeinerungen und einen grundsätzlichen Wunsch nach Harmonie. „Ich kann Angeber nicht ausstehen.“ Lena stand immer noch vor Slash und funkelte wild mit den Augen. „Lena, du kannst wieder runterkommen, du musst uns nicht verteidigen gegen Yeti-Ritter Slash.“ Luke hatte keine Lust auf Streit. So schlimm war Slashs Auftritt nun auch wieder nicht gewesen. Was musste Lena sich denn so aufspielen? Lena musste lachen. „Yeti-Ritter? Dieses Würstchen ein Yeti-Ritter?“ „Lena, hör auf!“ Luke wurde nun ärgerlich. „Slash hat sich ein wenig doof benommen, aber nun musst du nicht noch blöder sein. Lass Slash in Ruhe und lass uns gemeinsam noch schnell ein Eis am Kiosk holen, bevor die Pause zu Ende geht.“ Ferrari hielt Slash am Arm fest, als sie bemerkte, dass Slash den Rückzug antreten wollte. „Nun sei nicht eingeschnappt. Lena meint das nicht so. Bleib gefälligst hier und erzähl uns, was du nach der Schule gewöhnlich machst. Dann können wir feststellen, ob du zu uns passt.“ Lena, die schnell wütend wurde, ließ sich meist auch schnell wieder besänftigten. Als Slash einen Zweig vom Busch hinter sich abriss und ihn ihr mit einer übertriebenen Verbeugung vor die Nase hielt und sagte: „Frieden? Du hast recht, ich bin kein Yeti-Ritter. Aber ich bin auch kein Würstchen, ich esse lieber vegetarisch“, da musste Lena lachen, boxte Slash in den Oberarm und sagte: „Frieden angenommen. Allerdings gibt es auch vegetarische Würstchen, du Schlaukopf.“ Es klingelte, für ein Eis war es nun zu spät. „Wir treffen uns nach der Schule und machen was für heute Nachmittag aus“, bestimmte Luke. „Dann können wir Slash unter die Lupe nehmen und sehen ob wir unsere Gang vergrößern.“ „Unsere was?“, fragten Ferrari und Lena gleichzeitig. „Unsere Gang. Ist doch eine coole Idee“, antwortete Luke und sah die anderen etwas unsicher an. „Vielleicht.“ Lena nahm sich nun Luke vor, so wie wenige Minuten zuvor Slash. „Aber zuallererst werden wir dir heute Nachmittag mal klar machen, dass du hier nicht den Chef raushängen kannst. Kapiert? Ob es eine Gang gibt oder nicht, entscheiden wir immer noch gemeinsam.“ Luke nickte scheinbar zerknirscht, grinste aber innerlich. Die Idee war schon mal geboren und mit Sicherheit würden die anderen mitmachen. Er musste es nur so drehen, als ob es ihre Entscheidung wäre. Luke hatte recht. Am selben Nachmittag gründeten sie gemeinsam eine Gang.


 


Aus: nie wieder zurück:


 


„Was bedeutet es, deutsch zu sein?“ Die 16-jährige Fadia kaute an ihrem Bleistift. Sie schrieb nie direkt an Laptop oder Tablet. Zuerst hielt sie ihre Gedanken auf einem Blatt Papier fest und – das war das Wichtigste dabei – sie schrieb die Rohfassung mit dem Bleistift, eben weil es sich so schön darauf kauen ließ. Als kleines Mädchen hatte sie schon gerne auf den Buntstiften herumgekaut, mit denen sie die Bilder in ihren Malbüchern ausmalte. Dabei war meist der Lack abgesplittert und sie war mehr am Spucken als am Malen. Dann hatte ihre Mutter umweltfreundliche nicht lackierte Stifte entdeckt und seither war sie dem Kauen noch mehr verfallen. Als sie keine Buntstifte mehr benutzte, weil ihr Malbücher eines Tages kindisch vorkamen, stieg sie auf Bleistifte um. Das Zedernholz, aus dem die Stifte hergestellt wurden, schmeckte nach Ferne, es war weich und dokumentierte die Spuren ihrer Zähne genau. Wenn sie zur Mine vorstieß, weil alles rundherum abgekaut war, brach sie das Ende des Stiftes ab und alles begann von vorne. Fadia versuchte sich zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften ab. Was war das aber auch für ein bescheuertes Thema. „Was bedeutet es deutsch zu sein?“ Keine Ahnung. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht, aber nun stand das Thema im Ethikunterricht auf dem Lehrplan. Frau Kaminski hatte ihnen einen Zeitungsartikel über die so genannte deutsche Leitkultur mitgebracht. „Dieser Begriff“, so erklärte Frau Kaminski, „ist vor Jahren schon einmal aufgekommen, dann aber in der Versenkung verschwunden. Nun versuchen ihn einige ewig Gestrige wiederzubeleben und erneut zu einem gesellschaftlichen Thema zu machen. Auch hier in Bremen gibt es Anhänger von Pegida und AfD. Deshalb müssen wir uns damit auseinandersetzen.“ Allgemeines Gemurmel war die Antwort. Niemand schien Lust auf dieses Thema zu haben, aber Frau Kaminski kannte kein Erbarmen. Nachdem sie gemeinsam den Artikel gelesen hatten, fragte die Ethik-Lehrerin: „Was bedeutet es denn für euch, deutsch zu sein?“ Niemand meldete sich, allgemeines Schweigen und Blicke in die Ferne. Möglichst nicht anwesend sein, um nicht angesprochen zu werden und diese Frage beantworten zu müssen, signalisierten die Blicke, und die Folge war nun eben dieser Aufsatz. „Wenn ihr keine Antwort wisst, dann müsst ihr euch dringend dazu Gedanken machen. Bis zum nächsten Mal schreibt ihr mir auf, was Deutschsein für euch bedeutet, und im Anschluss sprechen wir darüber, was mit dieser Leitkultur gemeint ist, wer hinter diesen Gedanken steckt und was damit bezweckt wird. Für heute machen wir Schluss.“ Sie durften eine halbe Stunde früher nach Hause gehen, aber dafür musste sie sich nun mit der schriftlichen Beantwortung dieser Frage herumquälen, auf die Fadia, wie die meisten anderen in der Klasse auch, keine Antwort wusste. „Was bedeutet es, deutsch zu sein?“ Fadias Eltern waren vor vielen Jahren aus Marokko nach Deutschland gekommen. Sie selbst war hier geboren, sie war in Bremen zu Hause, in dieser Stadt, die zufällig in Deutschland lag, also war sie geradeso deutsch wie ihre beste Freundin Alisa, mit der sie schon seit dem Kindergarten fast unzertrennlich war. Auch Alisas Eltern stammten ursprünglich nicht aus der Region, aber sie kamen nicht aus Marokko, sondern aus Bayern, was für die beiden Mädchen keinen Unterschied machte. Beides war weit weg und beide fuhren sie fast jedes Jahr in den Sommerferien dorthin, um die Großeltern zu besuchen. Dann war da noch Jil, die Dritte im Bunde. Sie war erst im Gymnasium zu den beiden gestoßen. Jils Eltern waren in einem Dorf im Emsland geboren und aufgewachsen, Fadia hatte den Namen des Dorfes längst vergessen. „Immerhin haben sie es bis nach Bremen geschafft“, sagte Jil einmal zu den beiden Freundinnen. „Gottseidank. Sonst müsste ich jetzt auf dem Land versauern und hätte euch nie kennengelernt.“ Jil beneidete Fadia und Alisa um ihre Reisen nach Marokko und Bayern. Bayern war nicht weit von Österreich, der Schweiz und Italien, und das war für Jil bereits die weite Welt. Von Marokko in Afrika ganz zu schweigen. Sie selbst verbrachte mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder jedes Jahr die Sommerferien irgendwo an der Nordsee. Das war nicht weit zu fahren, und die Eltern zog es nicht ins Unbekannte. Jil schon. Fadia sah keinen Unterschied zwischen sich und den beiden anderen Mädchen. Als sie klein waren hatten sie sowieso keinen Gedanken daran verschwendet, aber auch später waren sie einfach Freundinnen und lebten alle in der Stadt, in der sie geboren waren und die sie als ihre Heimat empfanden. Fadia hatte auch ein paar Freundinnen, deren Eltern wie die ihren nicht aus Deutschland stammten, aber niemand kümmerte sich wirklich darum. Es waren schließlich die Eltern, die anderswo aufgewachsen waren, nicht sie. Nur hin und wieder, wenn es aus irgendwelchen Gründen Streit gab, warf man sich gegenseitig „Kanake“ und „Kartoffel“ an den Kopf, aber schon kurze Zeit später, wenn der Streit beigelegt war, war auch das wieder vergessen. Je mehr Fadia über dem Aufsatz grübelte, umso mehr Begebenheiten und Äußerungen fielen ihr ein, die ihr zu diesem Thema schon begegnet waren. Es hatte sie nie wirklich interessiert, geschweige denn beeindruckt, aber nun tauchten diese Dinge langsam aber unaufhaltsam aus ihrem Unterbewusstsein auf. Anscheinend hatte sie eben doch alles irgendwo abgespeichert, anscheinend war es eben doch auf eine bestimmte Art und Weise wichtig für sie gewesen. Je älter sie wurde, desto häufiger wurde sie, wenn es irgendwo in der Welt einen islamistischen Terroranschlag gab, darauf angesprochen. „Was hältst du davon? Wie stehst du dazu?“ Zunächst hatte sie gedacht es hinge mit dem Älterwerden zusammen und es als eine Art Kompliment aufgefasst, dass die Erwachsenen sie nach ihrer Meinung zu politischen Geschehnissen befragten. Dann hatte sie irgendwann bemerkt, dass immer nur sie gefragt wurde, nie Alisa oder Jil, und sie hatte sich erst gewundert und im Lauf der Zeit darüber geärgert. Was interessierten sie denn diese Terroranschläge? Jedenfalls nicht mehr als ihre Freundinnen auch. Was ging es sie an, wenn irgendein Ausländer austickte und seine Ex-Frau angriff? Was hatte sie damit zu tun, wenn nordafrikanische Männer Frauen und Mädchen begrapschten? Nie hatte sie jemand gefragt, was sie davon hielt, dass der alte Stövermann, der allein in einem kleinen Haus in der Nachbarschaft wohnte, sobald irgendwo ein junges Mädchen auftauchte, versuchte, sich an sie ranzumachen, sie dumm anquatschte, in sein Haus einlud und versuchte sie zu betatschen. Er war halt der alte Stövermann, die Mädchen wurden vor ihm gewarnt, sie sollten ihm am besten aus dem Weg gehen und sich fernhalten. Das war’s. Man hatte sie auch nie gefragt, was sie davon hielt, dass vor einiger Zeit ein Arbeitsloser in der Agentur für Arbeit Amok gelaufen war und mit einem Messer die für ihn zuständige Sachbearbeiterin verletzt hatte. Diese Leute waren Deutsche ohne irgendwelche ausländischen Wurzeln, das wurde Fadia jetzt klar. Sie verhielten sich falsch, aber das kam eben immer mal vor. Sobald jedoch diejenigen, die sich falsch verhielten Ausländer waren oder ausländische Eltern hatten, so wie sie selbst, dann war das plötzlich etwas, das zu den Ausländern gehörte. Kein Einzelfall, sondern typisch. Und dann war sie selbst plötzlich nicht mehr einfach Fadia, die schon immer hier lebte, wie Alisa und Jil auch, sondern dann war sie eine Ausländerin, eine potentielle Terroristin oder zumindest auf irgendeine undurchsichtige Art mitverantwortlich für das, was diese Leute getan hatten. „Das ist eben ihre Kultur“, hatte sie in letzter Zeit immer öfter aufgeschnappt. „Das ist eben eure Kultur“, hatte sie selbst zu hören bekommen, aber lange Zeit nicht weiter beachtet. Abgehakt unter „dumme Sprüche“ und neben „Kanake“ in den Papierkorb geworfen. Aber, so bemerkte sie nun, auch was im Papierkorb lag, war nicht weg. Es war genauso wie auf ihrem Laptop. Von der Oberfläche verschwunden, vergessen, vorbei – aber doch noch irgendwo greifbar. Und jetzt kam alles plötzlich von ganz allein nach oben. „Das ist eben deine Kultur.“ Plötzlich stand dieser Satz neben der Frage „Was bedeutet es deutsch zu sein?“ und brachte sie noch mehr durcheinander. Meine Kultur, deine Kultur. Sie lebte hier genauso wie ihre Freundinnen seit sie denken konnte. Sie lebte kaum anders als ihre Freundinnen. Zu Hause wurde Weihnachten gefeiert mit geschmücktem Tannenbaum und Geschenken, aber ohne Krippe und Gottesdienst. Es gab auch den Ramadan und das Zuckerfest und Fadia hatte es als Kind immer sehr genossen, zweimal beschenkt zu werden, während ihre Freundinnen nur Weihnachten hatten. Ihre Eltern fasteten während des Ramadan, stellten ihrer Tochter aber frei, dies zu tun oder zu lassen, und sie hatte sich fürs Lassen entschieden. Fadia fand, in ihrer Familie lebte es sich, was die Religion anging, wesentlich entspannter als bei Alisa. Diese war katholisch, musste jeden Sonntag und auch sonst immer mal wieder zur Kirche gehen, und es gab feste Regeln wie die Feste gefeiert wurden. Alisa beschwerte sich oft bei Fadia über die strengen Eltern, die versuchten, aus ihr eine gute Katholikin zu machen. Fadia hatte keine Lust mehr, für den Aufsatz war auch morgen noch Zeit. Sie klappte Ihr Laptop zu, legte sich aufs Bett und dachte an Moritz. Fast zeitgleich hatten sich Alisa und Fadia vor einiger Zeit verliebt. Glücklicherweise nicht in denselben Jungen, wie sie kichernd feststellten, als Jil, die bemerkt hatte, dass die beiden kaum mehr Zeit für gemeinsame Unternehmen zu dritt hatten, sie darauf ansprach. Die beiden Jungen waren in einer Klasse mit den Mädchen. Der zurückhaltende, fast ein wenig schüchterne Moritz hatte es Fadia angetan, und Alisa hatte sich in Ahmed verguckt, dessen Großvater vor vielen Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei gekommen war und bald seine Frau nachgeholt hatte. Das war aber auch schon alles, was Ahmed außer seinem Namen mit der Türkei verband. Seine Mutter war Deutsche wie ihre Eltern und Großeltern auch schon, und sein Vater war fast noch deutscher als die Mutter, fand Ahmed. Er war protestantisch getauft und erzogen worden, was die streng katholischen Eltern von Alisa nicht gerne sahen. „Warum sind sie nur so altmodisch?“, klagte Alisa. „Ob das mit der bayrischen Herkunft zusammenhängt? Ich meine, wir leben im 21. Jahrhundert, da sollte es doch egal sein, was für eine Religion einer hat.“ „Du kannst es ja mal mit einem Muslim versuchen“, lachte Fadia. „Vielleicht ist ihnen das lieber.“ Sie selbst hatte mit den Eltern nicht über die Freundschaft mit Moritz gesprochen, dafür hatte ihr bisher der Mut gefehlt. Auch wenn sie sich über Alisas Eltern lustig machte, so wusste sie doch, dass ihre eigenen auf keinen Fall lockerer waren, was die Beziehung zu einem Jungen anging. „Du bist noch viel zu jung“, hatte die Mutter gesagt, als sie einmal ganz vorsichtig das Thema angesprochen hatte. Der Vater, der unerwartet dazugekommen war und das Gespräch mitbekommen hatte, hatte sie gleich angeblafft: „Wenn ich dich mit einem Jungen erwische, schicke ich dich umgehend nach Marokko und verheirate dich mit deinem Cousin Kamal.“ Fadia hatte gelacht, weil sie dachte der Vater mache Witze. Schließlich war Kamal viel älter als sie – und überhaupt, was sollte sie in Marokko? Aber ihr Vater fuhr sie an: „Was gibt es da zu lachen?“ Erschrocken antwortete Fadia: „Aber das ist doch völlig unlogisch. Mutter sagt, ich wäre zu jung für die Freundschaft mit einem Jungen und du willst mich gleich verheiraten?“ „Dann weiß ich wenigstens, mit wem du zusammen bist und dass du keine Dummheiten machst“, knurrte der Vater und verließ das Zimmer. Fadia sah ihre Mutter unsicher an. „Das meint er aber doch nicht ernst, oder?“ „Täusche dich nicht“, antworte diese. „Dein Vater liebt dich sehr und er lässt dir sehr viele Freiheiten, weil er weiß, dass du in einer anderen Welt lebst, als die, in der er selbst groß geworden ist. Aber es gibt Grenzen. Wenn er fürchten musst, dass du die Ehre der Familie beschmutzt, dann hört es für ihn auf.“ „Aber Mama, was redest du denn da? Die Ehre der Familie beschmutzen, so was Altmodisches hat bei uns doch noch nie gezählt.“ „Dein Vater hat sich bemüht, dir ein Leben zu ermöglichen wie es deine deutschen Freundinnen führen. Das heißt aber nicht, dass er seine Grundsätze aufgegeben hat“, antwortete die Mutter ernst. „Meine deutschen Freundinnen? Ich bin genauso deutsch wie sie. Ich lebe hier, immer schon. Ich spreche kaum Arabisch, ich fahre in den großen Ferien nach Marokko wie andere Leute auch. Ich bin deshalb doch keine Marokkanerin. Was soll das denn plötzlich?“ „Du bist dabei erwachsen zu werden, Fadia. Das haben wir zu lange nicht wahrhaben wollen. Du warst für uns immer noch unser kleines Mädchen, aber wie mir scheint, stimmt das nicht mehr. Also müssen wir uns darauf einstellen, dass du nun bald eine Frau sein wirst. Wir können dir nicht mehr alles durchgehen lassen. Du hast vergessen woher du stammst, scheint mir. Wir haben vieles versäumt und es wird Zeit, dass du lernst, wie sich eine marokkanische Frau zu benehmen hat.“ „Mamaaaa, ich glaube es nicht. Was erzählst du denn da? So hast du noch nie mit mir gesprochen.“ „Die Leute reden schlecht über uns, wenn du dich nicht benimmst, wie es sich gehört. Dein Vater wurde bereits von Onkel Aziz angehalten, sich besser um deine Erziehung zu kümmern“, rutschte es der Mutter heraus, und dann hatte sie Fadia einen Vortrag gehalten, über den diese sich jetzt, da sie sich daran erinnerte, immer noch aufregte. „Man kann als Mitglied einer marokkanischen Familie der eigenen Tochter nicht alles durchgehen lassen, wenn sie aus dem Kindesalter heraus ist. Du hast Recht, wir leben nicht viel anders als die Deutschen, aber es gibt eben Grenzen. Wer sich darüber hinwegsetzt, bekommt Schwierigkeiten mit den konservativen Verwandten, wie Onkel Aziz und den anderen Marokkanern, die an den alten Sitten und Gebräuchen festhalten, weil sie sich in Deutschland nie wirklich zu Hause gefühlt haben.“ „Ich fühle mich aber hier zu Hause“, schnappte Fadia verärgert. „Trotzdem“, antwortete die Mutter. „Die Familie ist der wichtigste Rückhalt, den wir haben, und deshalb wirst du in Zukunft tun, was dein Vater dir sagt.“


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