4. Kapitel
Der Ehrgeiz des Wolfgang Knesebeck ist unermesslich. Sein Ziel ist, der größte Eisen-und Stahlfabrikant
der Welt zu werden. Die wichtigsten Konkurrenten sitzen im eigenen Land sowie in Großbritannien und
den Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Arbeitswoche hat 7 Tage. An einem der seltenen freien
Abende mit seiner Frau Elisabeth ringt er sich zu einer Bitte durch.
„Liesel, die Amerikaner wollen große Mengen Stahl ordern. Wir können nur liefern, wenn wir ein
neues Stahlwerk bauen. Bitte hilf mir mit 5 Millionen Mark.“ Liesel verfügt durch Erbschaft über große
liquide Mittel, die jedoch für Wolfgang nicht zugänglich sind. Dafür hat Elisabeths Vater durch
entsprechende Notarpapiere gesorgt. Sie weigert sich bisher standhaft einen Teil davon für Wolfgangs
„Großmannssucht“, wie sie es nennt, herzugeben.
„Du kennst meine Meinung. Dein ungezügelter Ehrgeiz ist eine große Gefahr für die Knesebeck
Werke. Wenn die Konjunktur abkühlt, musst du wieder Arbeiter rausschmeißen.“ Wolfgang bringt keine
Geduld auf.
„Und wenn schon. Das war noch nie ein Problem. Du bist wie dein Vater, einmal Bauer immer Bauer,
ein Furchenzieher hat keinen Mut zum Risiko.“ Schon oft hat sich Wolfgang kritisch über Elisabeths
Vater geäußert. Sein Verhalten ist dem heutigen Anliegen nicht zuträglich. Elisabeth verschließt sich der
Bitte des Gatten.
„Kommt überhaupt nicht in Frage Wolfgang. Lös die Probleme, die du geschaffen hast, selbst. Mein
Vater war sein ganzes Leben ehrlich und fleißig und nicht von der Gier besessen wie du.“ Wolfgang
denkt, mal wieder war ich zu ungeduldig. Beim Vater versteht die Tochter keinen Spaß. Er überlegt
fieberhaft, wie er die Gattin überzeugen kann.
„Liesel, weißt du schon das Neueste? Der Kaiser wird den Thyssen demnächst in den Adelsstand
aufnehmen.“ Das ist ein Thema, für das sich alle in der feinen gehobenen Gesellschaft entfachen, auch
Elisabeth.
„Frau Thyssen sitzt der Auguste Victoria schon lange auf dem Schoß. Kein Wunder also.“
„Wenn der Kaiser wirklich die Flotte bauen will, dann braucht er mich. Dafür müssen wir noch größer
werden.“ Wolfgang arbeitet seit Jahren auf das Ziel hin, in den Adelsstand aufgenommen zu werden. Die
Nobilitierung kann nur vom Kaiser selbst erfolgen. Politische Motive interessieren Wolfgang dabei nicht.
Auch die gesellschaftliche Stellung dient nur als Mittel zum Zweck. Allein, dass der Adel keine Steuern
zahlt, macht den Stand so erstrebenswert. Jede Mark, die die Staatsmacht kassiert, kann er nicht in die
Knesebeck Werke investieren. Wolfgang hat diesmal den richtigen Knopf gefunden.
„Ich überlege es mir. Aber wenn, dann ist es eine einmalige Sache. 5 Millionen, dieses eine Mal und
dein Versprechen, dass du mich nie mehr wegen einer Geldspritze für die Werke ansprichst.“
„Ich verspreche es. Sieh dir den Thyssen an. Der ist an die Börse gegangen. Der Arme ist nicht mehr
Herr im eigenen Hause. Natürlich kann er mit dem Zaster gehörig expandieren.“
„Wie gesagt, einmalig bin ich bereit, dir das Geld zu überlassen, zu einem Zins von 6%.“
„Was, das ist ja mehr als bei der Bank,“ regt sich Wolfgang auf.
„Dann geh doch zur Bank,“ erwidert Elisabeth betont kühl. Die Ehe der beiden feierte vor Kurzem
fünfundzwanzigstes Jubiläum. Vollzogen wird sie seit vielen Jahren nicht mehr. Aufgrund der Erbschaft
verfügt auch Elisabeth über ein riesiges Vermögen, weit höher als die 5 Millionen, die sie Wolfgang wohl
geben wird. Er weiß wie hoch der Geldspeicher gefüllt ist. Wenn Wilhelm Ernst macht und eine Flotte
baut, die so groß ist wie die der Engländer, müssen Thyssen, Knesebeck und Co. enorme Kapazitäten
aufbauen. Auf die Politik ist jedoch kein Verlass. Das ist das Problem der Industriebarone. Die Eheleute
Knesebeck verfolgen keine gemeinsamen Ziele. Seine Ziele sind nicht die Ihren.
„Ich brauche das Geld für die private Bibliothek, die ich nach und nach erweitern will.“ Bitter ergänzt
Wolfgang:
„Und für die jungen Künstler, die dir ihre Verehrung so beseelt zuflüstern.“ Elisabeth pflegt seit
Längerem streng geheime Treffen mit jungen Galanten aus dem Künstlermilieu. Wie weit diese gehen,
bleibt im Verborgenen. Sie empört sich:
„Ich fördere diese Talente, mehr nicht.“ Wolfgang wäre es sogar egal, wenn zwischen seiner Frau und
den jungen Männern mehr wäre. Sein Enthusiasmus gilt allein dem Betrieb. Vor der Hochzeit kannten
sich Wolfgang und Elisabeth nur flüchtig. Die Eltern arrangierten die Verbindung. Ein durchaus übliches
Vorgehen, um Reichtum und Einfluss beider Familien zu steigern. In diesem Fall führte der Zufall keine
verwandten Seelen zusammen. Sie ist ein kluger, feinfühliger Mensch, eine fanatische Leserin. Sein
Antrieb ist Geld. Mit jedem erreichten Zwischenziel wächst die Gier nach mehr. Am nächsten Morgen
bespricht er die Geschäftslage mit seinem Bruder Thomas.
„Sie gibt nicht mehr als 5 Millionen. Brauchen aber 30 Millionen. Den Rest müssen wir von der Bank
holen.“ Thomas Stirn ist übersät mit Sorgenfalten:
„Wolfgang, du weißt, die Zinsen sind hoch und zurückzahlen müssen wir Kredite auch. Wenn eine
Delle kommt, müssen wir viele Leute entlassen.“
„Ja, dann ist es eben so. Wir müssen expandieren, sonst fallen wir zurück.“
„Wir haben auch Verantwortung für das Schicksal unserer Arbeiter. Wenn wir sie entlassen, haben sie
nichts zu fressen.“
„Das ist dann die Schuld der Politik und des Kaisers. Wir können daran nichts ändern.“ Schicksale
anderer Menschen oder das Wohl der Allgemeinheit tangieren Wolfgang im Gegensatz zu Thomas nicht.
Er will aus den Knesebeck Werken das größte Unternehmen der Eisen- und Stahlbranche auf dem Globus
machen. Thomas, der ein enges Verhältnis zur Schwägerin pflegt, klärt Wolfgang auf.
„Elisabeth wird dir nicht mehr geben. Sie hat eine Stiftung gegründet, die ausländische Buchrechte
kauft. Erst kürzlich gab sie „The Call of the Wild“ des amerikanischen Autors Jack London zur
Übersetzung in die deutsche Sprache in Auftrag. „Ruf der Wildnis“ ist der Titel der deutschen Version.“
Wolfgangs Gesicht drückt den Ärger aus, den er empfindet, weil der Bruder mehr weiß als er. Die
Lebensgeschichte des Jack London faziniert Elisabeth. Der hat den schwierigen Aufstieg aus ärmlichen
Familienverhältnissen geschafft. Sein Werdegang weckt Elisabeths Neugier. Der Mut, den die Helden
seiner Geschichten aufbringen müssen, um den Gefahren der Wildnis zu trotzen, fesselt sie. Auch
zwischen Vater und Tochter gab es kürzlich eine kontroverse Unterredung.
„Vati, ich möchte nicht studieren. Ich will bei den Knesebeck Werken eine kaufmännische Ausbildung
machen. Das finde ich viel spannender.“ Wolfgang belehrt die Tochter:
„Mädchen aus gehobenen Kreisen studieren Musik, Kunst oder Literatur. Sie lernen, wie man ein
großes Haus führt und wie man Bedienstete richtig anleitet. Eine kaufmännische Ausbildung in den
Knesebeck Werken ist jungen Männern vorbehalten.“ Zornesröte überzieht Arianes Gesicht.
„Mich interessiert nicht was andere Mädchen wollen, ich will in den Werken arbeiten. Schon als
kleines Kind wollte ich das. Auf keinen Fall studiere ich irgendwelchen langweiligen Kram.“ Wolfgang
gibt nicht nach.
„In 1-2 Jahren heiratest du einen adeligen jungen Mann. Dadurch steigst du in den Adelsstand auf. Was
wird dein zukünftiger Gatte zu einer kaufmännischen Lehre sagen?“ Ariane hegt den Verdacht, dass der
Vater bereits einen Jungen im Kopf hat. Doch sie stellt ihre Fragen zurück, sondern konzentriert sich auf
das Ziel im Betrieb arbeiten zu dürfen. Mit ihrem „Dickkopf“ setzte sie sich tatsächlich durch. Seit den
Kindertagen liebt sie es, Zeit in den Werken zu verbringen. Sie durchkreuzt damit die Pläne der Eltern,
die für eine junge Frau mit ihrer gesellschaftlichen Stellung eine baldige Vermählung mit einer adäquaten
Partie vorsehen. Ariane selbst denkt noch überhaupt nicht an Heirat. Ihr heimlicher Traum ist, eines
Tages die Leitung der Knesebeck Werke vom Vater zu übernehmen. Sie besitzt genug Kühnheit, sich
selbst in dieser Rolle zu sehen. Das erzählt sie Wolfgang, der mangels männlichem Erben schon selbst an
die Möglichkeit gedacht hat, aber noch nicht. Der findet, dass Ariane gut ins Unternehmen passt.. Für ihre
Zukunft sieht er jedoch andere Prioritäten. Sie soll sehr bald den Spross einer bedeutenden adligen
Familie heiraten und damit selbst in den Adelsstand aufsteigen. Der von ihm auserwählte ist Rochus von
Malotki, der Sohn des Polizeipräsidenten der Provinz Rheinland. Ariane kennt ihn seit Kindesbeinen. Die
Familien sind seit langer Zeit befreundet. Frau und Tochter wissen noch nichts von seiner Wahl.
Wolfgang treibt seine Pläne im Geheimen voran, ohne sie mit den beiden Frauen abzusprechen. Ariane
hingegen ist entschlossen, ihren persönlichen Weg einzuschlagen. Elisabeth wundert sich zwar über das
Engagement, das die Tochter im Betrieb leistet, beschäftigt sich jedoch nicht ernsthaft damit. Zu sehr ist
sie beschäftigt mit der Bibliothek und ihren Verehrern. Wolfgangs Kalkül ist, dass Ariane die beruflichen
Pläne fallenlässt, nachdem er ihr die Partie Rochus auf dem Silbertablett serviert. Rochus steht eine
glänzende Karriere beim preußischen Staat bevor. Sie kann sich auf die Aufgaben als Mutter und
Haushaltsvorstand konzentrieren. Sie wird zukünftig den Namen Ariane von Malotki tragen. An einem
Abend im März 1910 bittet Wolfgang Knesebeck Ariane und Elisabeth zu einer Unterredung. Wenn er in
der Familie förmlich wird, liegt Wichtiges in der Luft. Das repräsentative Wohnzimmer der Villa dient als
Rahmen der Zusammenkunft. Die Einrichtung des Raumes repräsentiert den Reichtum des Hausherrn.
Jugendstil ist in dieser Zeit angesagt. Aufwendige florale Ornamente und Intarsien zieren die Möbel.
Wolfgangs ganzer Stolz sind zwei Originale des französischen Malers Henry Toulouse-Lautrec. Der
Fußboden ist bedeckt mit teuren orientalischen Teppichen. Das Familienoberhaupt ist gekleidet wie im
Büro. Die Frauen tragen bunte Kleidern, die die Taille betonen. Elisabeth hält einen Fächer in der Hand,
ohne ihn zu benutzen. Die ernsten Gesichter der drei deuten auf Spannung hin, die sich in Kürze entladen
wird. Wolfgang geht auf und ab. Der Mann, der dem Kaiser vorgestellt wurde, ist nervös bei einem
Familientreff? Offensichtlich spürt er, dass dies kein leichter Abend werden wird. Nachdem der Diener
den Tee serviert hat, legt er ohne lange Vorrede los.
„Die freundschaftliche Verbundenheit zu der Familie von Malotki besteht nun schon seit vielen Jahren.
Die Mädchen Frieda und Bertha und unsere Ariane haben die gleiche Schule besucht. Freiherr Achim von
Malotki wurde zum Polizeipräsidenten der Provinz Rheinland befördert. Wir hatten die große Ehre bei
der Gala an ihrem Tisch sitzen zu dürfen. Die Knesebecks sind froh und stolz, sie Freunde nennen zu
dürfen.“ Ariane strafft den Körper. Sie ahnt längst, was nun folgt. „Rochus, der einzige Sohn der
Malotkis, tritt in die Fußstapfen des Vaters. Er hat erst kürzlich eine Karrierre bei der Kriminalpolizei
gestartet. Die Aussichten sind glänzend. Eine bessere Partie als ihn finden wir im gesamten Kaiserreich
nicht.“ Wolfgang legt eine kleine Pause ein. „Achim von Malotki und ich haben es heute, wie unter
Ehrenmännern üblich, per Handschlag besiegelt. Ariane und Rochus werden bald verlobt. Innerhalb eines
Jahres heiraten sie, wie es gesellschaftlicher Brauch ist. Durch die Vermählung wird Ariane in den
Adelsstand erhoben. Mein liebes Kind, ich freue mich so für dich.“ Was er nicht sagt, aber immer im
Hinterkopf behält, ist, dass die Verbindung zu von Malotki Türen zu lukrativen Rüstungsaufträgen öffnet.
Der Einfluss der Malotkis reicht bis nach Berlin, in die zentralen Stabstellen. Die Sache ist unter
Ehrenmännern beschlossen.“ Er glaubt, die Tochter überrumpelt zu haben. Elisabeth hat er vorher nicht
eingeweiht, da er die Haltung der Ehefrau zu der Verlobung nicht einschätzen kann. Einige Sekunden der
Stille vergehen. Ariane springt auf. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt Verärgerung, die Wolfgangs
Ankündigung in ihr auslöste.
“Nein. Rochus ist ein Spielkamerad. Er ist nicht der Mann, den ich heiraten will.“ Sie wirkt sehr
entschlossen. Alles in der jungen Frau rebelliert gegen die einsame Entscheidung des Vaters. Sie blickt in
Richtung der Mutter, bittet stumm um Beistand. Wie verhält sich Elisabeth? Die ärgert sich über die
Heimlichtuerei des Gatten. Nicht einen Satz hatte er ihr gegenüber über seine Wahl verloren. Wolfgang
fordert die Gemahlin auf, das Kind zur Vernunft zu bringen. Das Oberhaupt der Familie besitzt das Recht,
einen geeigneten Ehemann für die Tochter auszusuchen. So ist es preußischer Brauch.
„Arianes Ungehorsam ist unerträglich. Es ist die Aufgabe der Mutter, das Mädchen zu einer jungen
Frau zu erziehen, die die gesellschaftlichen Gepflogenheiten kennt.“ Wolfgang führt das Gespräch wie
eine geschäftliche Verhandlung. Elisabeth zögert, schließlich spricht sie in Richtung der Tochter:
„Bitte Ariane, gehorche dem Vater. Er ist das Familienoberhaupt.“ Entgeistert starrt Ariane Elisabeth
an. Sie hat auf Beistand durch die Mutter gehofft. Die ist jedoch nicht bereit, eine harte Konfrontation mit
dem Gatten zu führen. Weinend stürzt Ariane aus dem Zimmer. Sie fühlt sich verraten durch die eigenen
Eltern. Der Raum ist nach ihrem Abgang mit Schweigen gefüllt, das Wolfgang bricht.
„Liesel, du weißt es, eine Vereinbarung mit Achim von Malotki ist verbindlicher als das geschriebene
Gesetz.“
„Deshalb, deshalb lieber Mann. Dem Herrn geht man besser aus dem Weg. Aber dein Ehrgeiz, dein
verfluchter Ehrgeiz.“
Achim von Malotki, Polizeipräsident der preußischen Provinz Rheinland, Gründer der Polizeischule in
Düsseldorf, eine der Ersten im Kaiserreich. Ein Pionier der Polizeiarbeit, jedoch auch eine äußerst
vielschichtige Persönlichkeit. Heute hat er seinen einzigen Sohn Rochus ins Präsidium nach Düsseldorf
bestellt. Rochus muss zunächst eine ganze Stunde im Vorzimmer warten, bevor er ins Allerheiligste
gelassen wird. Der strenge Blick des Zerberus zermürbt sein ohnehin geringes Selbstvertrauen um
Einiges. Die Begrüßung durch den Polizeipräsidenten tut das Übrige:
„Ach, der Herr Sohn. Halt er sich mal ein bisschen gerade.“ Rochus gesenktes Haupt knickt noch ein
wenig mehr nach vorne. Der Filius beendete vor Kurzem die neu gegründete Polizeischule in Düsseldorf
und soll nach dem Willen des Vaters eine Karriere bei der Kriminalpolizei starten.
„Setze er sich, setze er sich,“ fährt Achim von Malotki fort.
„Danke, Herr Vater,“ flüstert Rochus.
„Sohn, ich habe dir etwas mitzuteilen. Ab dem nächsten 1. tritt du den Dienst bei der Kripo in Essen
an.“
„Danke, Herr Vater,“ flüstert Rochus. Essen ist eine der durch die Industrialisierung entstandenen
neuen Großstädte im Ruhrrevier. In den Nachbarstädten Oberhausen und Duisburg existieren
Zweigstellen der Kripo unter der Leitung von Essen. Achim allein bestimmt die Laufbahn des Sohnes.
Rochus muss sich in jede Entscheidung des Vaters fügen. Der Erzeuger hat nach einer Aufgabe für ihn
Ausschau gehalten, die im Zentralstaat Beachtung findet. Der Präsident setzt zu einem längeren Vortrag
an.
„In Essen wird die Sondereinheit gegen den Zigarettenschmuggel gegründet.“ Rochus, der denkt, er
müsse Interesse zeigen unterbricht:
„Zigarettenschmuggel? Hört sich interessant an.“ Sogleich fängt er einen Rüffel:
„Jetzt hör erstmal zu, du hast doch gar keine Ahnung, um was es geht.“ Verängstigt schweigt Rochus.
„Der preußische Finanzminister Georg Kreuzwendedich Freiherr von Rheinbaben hat mich persönlich
gebeten, den Zigarettenschmuggel aus den Niederlanden zu beenden.“
„Herr Vater, dabei helfe ich Ihnen gerne,“ versucht Rochus Punkte zu machen.“
„Weiter zuhören,“ bellt Achim. „Ein Gastwirt aus Oberhausen steht in Verdacht der Kopf des
Zigarettenkartells zu sein. Er muss Komplizen haben, die die Ware aus Holland in das Ruhrrevier bringen.
Du sollst der Bande das Handwerk legen. Ich erwarte Erfolg, dulde nichts, wirklich nichts, anderes.“
„Herr Vater ich versichere Ihnen, ich werde diese Verbrecher, die unseren Staat bestehlen, zur Strecke
bringen. Verlassen Sie sich auf mich.“ Nach Achims Plänen soll Rochus die Sondereinheit leiten, jedoch
unter der Fuchtel des erfahrenen Kriminologen Anton Griesbeck. Griesbeck ist eine Legende bei der
Polizei. Seine Quote bei der Aufklärung von Verbrechen ist legendär.
„Du wirst unter der Aufsicht des ollen Griesbeck arbeiten. Das ist zwar ein Tattergreis, aber erfahren,
von dem kannst du lernen.“ Rochus, besessen vor Ehrgeiz und dem Verlangen es dem Vater, der ihm
nichts zutraut, zu beweisen, protestiert:
„Ich will die Einheit allein leiten. Den Griesbeck brauchen wir nicht, Herr Vater.“ Achim wird
ungehalten. Er weiß, dass Rochus dringend auf die Hilfe eines erfahrenen Polizisten angewiesen ist. Er
kann ihn nur protegieren, wenn er die Aktion als Erfolg verkaufen kann. Dabei will er kein Risiko
eingehen.
„Der Griesbeck wird dir helfen, basta! Du wirst noch froh sein, ihn an deiner Seite zu haben,“ erklärt
Achim unmissverständlich.
„Danke, Herr Vater,“ beeilt sich Rochus zu versichern.
„Jetzt hast du genug von meiner Zeit gestohlen. Du weißt Bescheid. Abgang.“ Rochus springt auf,
verbeugt sich vor dem Polizeipräsidenten und stürmt so schnell wie möglich aus dem Büro. Am Abend
kommt Achim von Malotki vom Dienst nach Hause. Rochus, dessen Leidenschaft das Klavierspielen ist,
ist völlig versunken in sein Stück. Er sitzt am Flügel im Wohnzimmer der von Malotkis im Schloss
Oberhausen. Im Gegensatz zu dem einen Meter und neunzig großen Vater, misst er nur etwa einen Meter
und siebzig, ist schlank, drahtig. Das blasse kantige Gesicht bildet einen Kontrast zu dem dunklen
gewellten Haar. Da er den Blick häufig senkt, wirkt er auf seine Umgebung etwas verschlagen, schwierig
zu erkennen. Der schwarze Kinnbart unterstreicht den Eindruck. Da er zu jeder Sekunde vor Achim auf
der Hut sein muss, lebt er im Stadium permanenter Anspannung. Er sieht älter aus, als er tatsächlich ist
und lacht nur selten. Ariane Knesebeck kennt er aus gemeinsamen Kindertagen. Er verherrlicht sie. Vor
allem ihre rebellische Art gegenüber den eigenen Eltern fasziniert ihn. Ein solches Verhalten wäre in der
Familie von Malotki ausgeschlossen. Der Vater würde das niemals dulden. Seine Autorität ist absolut.
Sein Wort ist Gesetz. Die Anrede lautet „Herr Vater“. Rochus will sich beim Klavierspielen etwas
entspannen. Die ersten Tage bei der Kripo in Essen waren aufregend für ihn. Stolz erzählt er Ariane beim
letzten Treffen der Familien, dass er von nun an für die Ordnung im Lande kämpft, damit sie ruhig und in
Sicherheit leben kann. Typisch für Ariane, anwortete sie, sie könne auf sich selbst aufpassen. In Rochus
Augen ist das das ahnungslose Gerede einer Frau. Sie weiß nicht, wie gefährlich es wird, wenn die
Proletarier den Aufstand proben. Dieser fixen Idee hängt er ständig nach. Die Proletarier zetteln einen
Aufstand an und stellen die Ordnung auf den Kopf. Er wird sein Bestes leisten, um sie in Schach zu
halten. Beim Klavierspiel trägt Rochus eine lange Hose aus feinem Stoff, ein weißes Hemd inklusive
Krawatte, darüber eine graue Weste ohne Jacke. Die Einrichtung des Wohnzimmers ähnelt der in der Villa
Knesebeck. Lediglich Achims Kunstgeschmack ist nicht so erlesen, wie der des Wolfgang Knesebeck.
Das mag auch am Geldbeutel liegen. Sofort ins Auge fällt eine mannshohe Zentaur Figur aus edlem
Porzellan, die Pfeil und Bogen in der Hand hält. Rochus ist in das Piano versunken. Er spielt das
Klavierkonzert Nr. zwei f-Moll, das Frederic Chopin zu Ehren der Gräfin Delfina Potocka komponierte.
Achim betritt den Raum, was heißt betritt, er erstürmt ihn rüden Schrittes und unterbricht des Jungen
Spiel. Die von Malotkis sind Nachkommen eines thüringischen Rittergeschlechtes, das zu seiner Zeit
nicht den besten Ruf genoss. Sie verdienten sich den Leumund redlich. Das Vermögen, das sie
erwirschafteten, beruhte auf Mord und Raub. Achim spricht über das Kapitel nicht gerne. Einer muss sich
die Hände schmutzig machen, damit die kommenden Generationen in Sorglosigkeit leben können. Der
Polizeipräsident ist ein hochdekorierter preußischer Offizier. Die Stellung des Polizeipräsidenten
betrachtet er als eine Zwischenstation. Seine Ambitionen liegen weit höher. Er sieht für sich keine
Grenzen des Aufstiegs im Kaiserreich, außer die Position des Kaisers selbst. Der grenzenlose Ehrgeiz des
Erzeugers verängstigt den Spross. Er spürt einen Druck es dem Vater gleich tun zu müssen. In das
Klavierspiel hinein schnauzt Achim los. Rücksichtslos kanzelt er den Sohn ab.
„Du solltest lieber eine Reserveübung machen, statt deine Zeit mit dem weinerlichen Geklimper zu
verschwenden.“
„Verzeihen Sie, Herr Vater,“ ist Rochus zaghafte Antwort. „Während der Herr Sohn die Zeit vergeudet,
kümmere ich mich um die Zukunft des feinen Mackers.“
„Danke Vater, das wäre nicht nötig gewesen.“ Achim wird konkret. Er informiert den Filius über eine
Vereinbarung, die er traf. „Heute habe ich Wolfgang Knesebeck, den Fabrikbesitzer, zu mir zitiert.. Wir
haben die Verlobung seiner Tochter Ariane mit meinem sehr geehrten Herrn Sohn vereinbart.“ Er wartet
auf eine Reaktion.
„Danke, Herr Vater.“
„Es gibt kein Zurück mehr. Die Verlobungsfeier findet Anfang Mai im Schloss statt.“ Rochus ist
hocherfreut. Er träumt seit gemeinsamen Jugendzeiten davon, Ariane zu heiraten. Seinen Schwestern
Bertha und Frieda erzählte er schon als Jugendlicher häufig, dass er Ariane später einmal heiraten werde.
Dieser Vision ist er soeben ein gutes Stück näher gekommen. „Dem Knesebeck ist die Ehe eine hübsche
sechsstellige Summe wert. Darum musst du dich nicht kümmern, das übernehme ich an deiner Stelle.“ Im
nächsten Augenblick geschieht etwas Unvorhergesehenes, dass Vater und Sohn Malotki aufschrecken
lässt. Ein großer schwarzer Vogel fliegt mit hoher Geschwindigkeit gegen die Scheibe des
Wohnzimmerfensters. Der laute Aufprall lässt die beiden Malotkis herumschnellen. Reglos bleibt das
schwarze Büschel auf der Terrasse liegen. Offensichtlich hat er den Aufprall nicht überlebt. Rochus öffnet
die Tür, um dem Verunglückten zu helfen. Doch der Vogel erwacht vorher aus seiner Ohnmacht und hebt
benommen ab. Zurück bleibt ein Riss im Glas des Fensters. Der Zwischenfall ist bald vergessen. Die
Schwestern Bertha und Frieda stürmen herein. Achim begrüßt sie freudig. Er erzählt ihnen von der
bevorstehenden Verlobung. Bertha ist begeistert. Frieda dagegen nimmt die Neuigkeit eher reserviert zur
Kenntnis.
Der Frühsommer des Jahres 1910 ist gekennzeichnet durch heftige Regenschauer, die von sonnigen
Abschnitten abgelöst werden. In der Natur kümmer sich alles um die Fortpflanzung. Total durchnässt
streift Franz durch den Forst um das Schloss Oberhausen. Es dämmert bereits. Das Schloss erstrahlt heute
in Festtagsbeleuchtung. Irgendetwas Wichtiges ist im Gange. Franzens Neugierde ist geweckt. In einem
sicheren Versteck legt er sich auf die Lauer und beobachtet die Szenerie. Eine Kutsche nach der anderen,
gezogen von edlen Pferden, rollt die Auffahrt zum repräsentativen Haupteingang hinauf. Die festlich
gekleideten Passagiere klettern aus den von Bediensteten geöffneten Wagentüren. Viele der
Prachtkutschen zieren Adelswappen, die Hoheitszeichen der Herrschenden im Land. Die prächtigsten
Gefährte tragen kein Wappen, denn sie gehören Vertretern des Geldadels. Der gewaltige Auflauf deutet
auf ein feudales Fest hin. Möglicherweise begeht der Hausherr seinen Geburtstag oder Frau von Malotki
hat mal wieder das Bedürfnis eine Gala zu veranstalten. Franz spricht den Hausangestellten an, der den
Ankömmlingen den Weg weist.
„Große Feier heute im Hause von Malotki, oder?“ In diesem Moment erschüttert ein lautes Hupen die
Szenerie, was die Sensibleren der parkenden Rösser in Wallung bringt. Auch der Bedienstete reagiert
nervös.
„Nicht jetzt, die Familie Krupp fährt gerade in ihrem Benz vor. ″Es müssen spezielle Gäste sein, diese
Krupps. Der Bursche stürzt ins Haus und kommt kurze Zeit später mit Hausherr und Frau wieder heraus.
Achim von Malotki und Gattin begrüßen die Krupps überschwänglich. Achim öffnet persönlich die Tür
des Gefährts mit dem die Gäste anreisen. Nachdem die Honorationen standesgemäß empfangen worden
sind, parkt der Fahrer das wertvolle Wunderwerk der Technik etwas abseits. Franz, der sonst eher
Schüchterne, ist brennend daran interessiert, sich ein solches Vehikel einmal von der Nähe anzusehen. Er
überwindet seine Zurückhaltung und geht auf einen der Wagenlenker zu. Als Franz sich dem Vehikel
nähert, stellt sich der Chauffeur ihm in den Weg.
„Keinen Schritt näher, der Wagen gehört Herrn Krupp.“
„Ich will ihn nicht stehlen, sondern nur einmal bewundern. Wie Sie ihn gefahren haben, sah großartig
aus.“ Der Fahrer wird etwas lockerer und erlaubt, Franz den Wagen anzusehen.
„Aber fass bloß nichts an Junge.“ Franz ist von dem Fahrzeug total begeistert und bringt das auch zum
Ausdruck.
„Ein phantastisches Fortbewegungsmittel, so etwas habe ich noch nie vom Nahen gesehen.“ Der
Wagenlenker taut langsam auf. Er stellt sich Franz vor, als Ingenieur und Franzose, der seit vielen Jahren
in Diensten der Krupps steht. Sein Name ist Jean Claude. Er bietet Franz an, sich mit ihm in das Auto zu
setzen. Zu Franzens Überraschung erweist sich seine neue Bekanntschaft als absoluter Kenner der
Fahrzeughistorie.
„Junge du musst wissen, schon im Mittelalter sagte Dr. Mirabilis, „der wunderbare Lehrer“ voraus,
dass man eines Tages einen Karren bauen wird, der sich bewegt und in Bewegung bleibt ohne geschoben
oder gezogen zu werden.“ Woher weißt du so etwas Jean Claude?“
„Lesen Junge, lesen bildet.“ Jean Claude erzählt Franz von den Anfängen des Automobilbaus in
Russland, England, Frankreich und Deutschland. Ein Schotte konstruierte das erste Elektroauto der Welt.
Franz ist stumm vor Begeisterung und Erstaunen als Jean Claude von dem ersten Autorennen berichtet,
das die Welt je gesehen hat. Es fand in Amerika statt zwischen zwei Elektroautos, dem „Oskosh Steam
Wagon“ und dem „Green Bay Steamer“.
„Danke für deine Erzählungen Jean Claude. Das ist alles sehr spannend.“
„Ich höre jetzt aber auf, nur noch ein Hinweis, es war ein französisches Auto, das als erstes über 100
Stundenkilometer erreichte, der „Jamais Contente“, ein Elektrowagen.“
„Ein Franzose, natürlich ein Franzose, nichts anderes habe ich erwartet,“ schmeichelt Franz.
Als sein neuer Freund endet, schaut Franz beeindruckt.
„Weißt du, wem das Auto hier gehört Franz? Das ist Eigentum des gnädigen Herrn Krupp.“ Den
Namen Krupp hat Franz schon gehört. Am Hochofen wurde er häufig erwähnt. Das muss irgendein ganz
hohes Tier sein, wie der Herr Knesebeck.
„Was ist hier eigentlich los?“, fragt Franz. „Geburtstag Herr von Malotki?“
„Nein, mein Junge, der Sohn Rochus, verlobt sich heute. Schau, meine Herrschaften haben die
Einladung im Wagen liegen gelassen. Er zeigt Franz eine prunkvolle Einladungskarte, die goldumrandet
ist. Ariane Knesebeck ist die Glückliche. Ihr Vater ist nicht so reich wie mein Chef, aber auch steinreich.
Eine hervorragende Partie.“ „Warum schaust du so traurig, Kleiner? Hast du dir etwa Hoffnungen
gemacht?“ Er bricht in schallendes Gelächter aus, weil er glaubt, einen tollen Witz gemacht zu haben.
Franz ist nicht zum Lachen zumute.
Wie für Prinz und Prinzessin herrgerichtet, erstrahlt der riesige Festsaal des Schlosses. Franz traut
seinen Augen nicht. Er schleicht sich an eines der großen Fenster heran. Die Pracht, in die er starrt,
erzeugt in ihm eine Mischung aus Staunen und Trotz. Unzählige Kerzenleuchter erzeugen Licht und
Feierlichkeit in dem großen Saal. Prunkvoll gerahmte Gemälde zieren die Wände. Nicht weniger als
hundert Geladene verfolgen den Akt der Verlobung. Die Tafeln bedecken feinste Leinen Damast
Tischdecken. Das Geschirr repräsentiert das Beste vom Besten, handbemaltes Meissner Porzellan. Ein
speziell von der Manufaktur kreiertes Einzelstück ziert die Mitte des Saals. Ein ineinander
verschlungenes Liebespaar. Die einen halben Meter hohe Figur ragt aus all dem Edlen heraus. Silbernes
teilvergoldetes Besteck spendierte Wolfgang Knesebeck für den Anlass. Es verbleibt im Schloss. Achim
von Malotki verkündet soeben feierlich:
„Hiermit gebe ich die Verlobung meines Sohnes Baron Rochus von Malotki mit dem ehrenwerten
Fräulein Ariane Knesebeck, zukünftige Baronin von Malotki, bekannt. Johanna, seine Frau, legt Rochus
und Ariane den Verlobungsring an. Rochus strahlt vor Glück, während Ariane ernst und nachdenklich
wirkt. Wolfgang Knesebeck applaudiert heftig. Die Gäste erheben sich. Ihre Anwesenheit untermauert die
gesellschaftliche Relevanz des Ereignisses. Ein Eheversprechen, gegeben in dieser Gesellschaft, entfaltet
fast überirdische Endgültigkeit. Franz ist weiß wie eine Wand. Sein Gesicht spiegelt Trauer und Wut
gleichzeitig, wobei nicht erkennbar ist, was überwiegt. Jean Claude spricht ihn an:
„Mein Junge was ist mit dir los, du siehst aus, als hättest du eine Kröte geschluckt.“ Franz starrt ihn
kurz an und rennt dann so schnell er kann weg von diesem Ort.
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