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Belletristik
Buch Leseprobe Die Wege des Alexander Thorogne, Alexander Thorogne
Alexander Thorogne

Die Wege des Alexander Thorogne


1.Teil (*29.02.1974 - +31.01.2003)

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Rotlicht

Ich bin gerade neun geworden. Es ist Sommer 1983. Unsere Pionierleitung hat mein Talent im Umgang mit Menschen entdeckt. Meine Schulnoten sind sowieso hervorragend und da ich mir nicht eigene Denkweisen und Argumente wenig kritisch aneigne, solange sie auf mich mit neun Jahren über-zeugend wirken und meine Grundprinzipien Gerechtigkeit und Menschlichkeit ansprechen, wurde ich zur politischen Förderung auserkoren. Ich bin im Pionierrat, Gruppenleiter. Meine Mitschüler hören auf mich und mir zu. Es macht mir nichts aus, vor 100 Schülern Vorträge zu halten und Fahnen-appelle abzunehmen. Aus diesem Grund wurde ich mit einer Fahrt in die Pionierrepublik Werbelinsee ausgezeichnet. Es ist gigantisch. Alle Pioniere treffen sich in Berlin am Bahn-hof. Es wird ein ganzer Zug bereitgestellt. Die Verab-schiedung von meinen Eltern fällt mir leicht, in Vorfreude auf die kommenden Wochen. Ich kenne bereits verschiedene Ferienlager aus den letzten Jahren und glaube, dass der Aufenthalt in der Pionierrepublik wohl ähnlich ablaufen wird, nur eben mit Schule. Ich suche mir einen Platz in einem Zugabteil. Es ist schön, dass alle mit weißem Hemd und Pioniertuch angezogen sind. In den Ferienlagern bisher gab es immer ein paar, die mit ihren Westklamotten angegeben haben, hier und heute nicht. Alle sitzen etwas betreten im Abteil, auch ich bereite mich auf sechs Wochen ohne Familie vor. Eine lange Zeit, aber nach drei Wochen dürfen uns unsere Eltern besuchen. Wir stellen uns gegenseitig vor. Doch es kehrt schnell wieder Ruhe ein, wir sind dann doch zu sehr gespannt auf das was uns erwartet. Die Zugfahrt dauert fast zwei Stunden. Ich komme mir sehr erwachsen vor, soweit allein von zu Hause weg. Der Zug hält an, mitten in einem Kiefernwald. Der Wald riecht nach Ferienlager. Die Sonne scheint durch die Bäume. Wir laufen einen be-festigten Waldweg entlang. Das Gepäck wird von einem Multicar mit Anhänger transportiert. Wir kommen auf eine asphaltierte Lichtung. Dort warten bereits mehrere Reise-busse auf uns. Wir werden aufgerufen, müssen uns melden, werden auf die Busse verteilt. Die Fahrt ist kurz und endet im selben Wald, nur die Lichtungen sind hier größer. Die Häuser sind mitten in den Wald gebaut. Typische Häuser aus den Sechzigern, gelb getüncht, graues Satteldach mit leichtem Überhang, fast so wie bei uns zu Hause, nur etwas frischer. Ich freue mich auf das Zimmer, weil in diesen Häusern mit den großen Fluren und hohen Decken ist es immer etwas kühler als draußen. Ich bin beeindruckt von den großen Hallen, die verstreut mitten in der Anlage stehen. Überall stehen Wegweiser und in Sichtweite liegt der Strand des Sees. Mich reizt es zum Wasser zu laufen und eine Brise zu nehmen. Aber nun wird erst einmal auf die Zimmer verteilt. Ich komme in Haus 12a, Zimmer 14. Mit mir auf dem Zimmer sind drei Jungs, alle wesentlich dünner als ich. Na toll denke ich, mal sehen wann die Hänselei los geht. Aber keine Spur von Imponiergehabe, alle sind ruhig und beginnen artig ihre Sachen auszupacken. Also mache ich mich auch daran. Wir haben eine halbe Stunde Zeit, dann erst mal zum Fahnenappell und zur Begrüßung. Der Fahnenappell ist sehr feierlich, wir werden zu unserer Auszeichnung belobigt. Auch werden unsere guten Leistungen in der Schule betont und man erwartet von uns, dass wir diese Leistungen auch hier, in der Pionierrepublik, zeigen. Wir bekommen ältere Patenschüler zugeteilt, jeweils einen pro Gruppe. Ich bin gespannt, bisher haben die Älteren in meiner Schule mich entweder nicht beachtet oder aber für mein Strebertum „gewürdigt“. Aber Unserer ist nett. Ein bisschen leise vielleicht und auch nicht sonderlich auffallend. Wir dürfen uns bei ihm melden, im Falle des Bedarfes, teilt er uns mit. Heute Nachmittag findet ein Pioniernachmittag statt. Bis dahin können wir das Gelände erkunden. Mir ist es recht. Ich gehe zuerst zum Strand. Ein sauberer Strand. Ein Kiosk steht am Ende. Ich sehe zum ersten mal Eis-am-Stiel. Bisher habe ich nur davon gehört. Es kommt mir sehr elitär vor, nun mein erstes Eis-am-Stiel zu probieren. Na da habe ich meinen Eltern schon was zu erzählen. Leider haben wir kein Telefon, so dass ich alles per Brief berichten muss. Der Pioniernachmittag ist schnell erledigt, alles etwas großspuriger als bekannt aber nicht wesentlich anders. Uns wird aufgetragen, täglich die Nachrichtensendung “Aktuelle Kamera“ zu schauen und alle Berichte zusammenfassend wiederzugeben. Gut, auch nicht schwer. Des weiteren sollen wir ein Tagebuch führen. Ok, nun artet es in Arbeit aus. Für den ersten Tag reicht es. Die nächste Überraschung erwartet mich beim Abendbrot. Alles was es sonst zu Hause nur einmal jährlich auf Zuteilung und mit stundenlangem Anstehen gibt, steht hier zur freien Auswahl. Das finde ich ungerecht. Meine Familie hat das nicht. Aber wenn sie mich besuchen kommen, werden sie sicher auch dieses Buffet genießen können. Am nächsten Tag geht der Unterricht los. Zu meiner Überraschung, bin ich hier auf Augenhöhe mit allen anderen. Bisher war ich es gewohnt, als Einäugiger der König unter den Blinden zu sein, aber hier, ich muss mich konzentrieren um die Geschwindigkeit zu halten und um das Pensum zu schaffen. Und jede Menge Hausaufgaben. Gerade im Russischunterricht sind alle viel weiter als ich. Ich versuche mit der Wand hinter mir zu verschmelzen um ja keine Aufforderung zum Redebeitrag zu erhalten. Aber auch diesen Unterricht überstehe ich. Nach der Schule gibt es wieder Pioniernachmittag. Also, von wegen Ferienlager und Freizeit. Hier wird man rund um die Uhr beschäftigt ! Am Pioniernachmittag wird schnell ein russisches und ein spanisches Lied einstudiert. Es geht um Nikaragua und dass Friedenstauben über Managua fliegen würden. Abends wird noch etwas Sport gemacht und ich falle anschließend völlig erschöpft in mein Bett. In den nächsten drei Wochen ändert sich die Tagesgestaltung nicht wesentlich. Der Ton wird etwas schärfer und meine bisherige Einstellung zu den Russen, geprägt durch Straßenschlachten mit den russischen Kindern am anderen Ende unserer Siedlung zu Hause und durch großer Ehrfurcht vor den Soldaten, die wir gelegentlich mit den Worten „Äto Snatschok“ zu einem Tauschgeschäft, Orden gegen Essen, aufgefordert haben, weicht nun einem Gefühl der Verbundenheit. Wir stehen auf der richtigen Seite, sind die Guten, und auf der anderen Seite die Amerikaner mit ihren Contras und CIA und ihrer Mittelamerikapolitik. Ich bin schon immer ein Anhänger von Horrorfilmen gewesen, aber was ich dort für Bilder sehe von Folterungen aus Chile, Vietnam und Nikaragua, lassen mich die Amerikaner als Unmenschen empfinden. Nicht weil es Amerikaner sind, aber weil sich Menschen untereinander so etwas nicht antun sollten. Aber es regt sich in mir keine Wut zur Vergeltung, sondern eher Mitleid mit den Opfern. Ein Überlegenheitsgefühl für unser Gesellschaftssystems. Nach den ersten drei Wochen besucht mich meine Familie. Alle sind dabei, Vater, Mutter, Raphael und Sebastian. So wie ich sie sehe, fällt alles ab und ich bin nicht mehr Klassenkämpfer sondern ein kleiner Junge, der seine Familie sehr gern hat. Ich kann nicht anders, Sturzbäche ergießen sich über meine Wangen. Ich war schon immer nahe am Wasser gebaut, aber das ist nicht zu kontrollieren. Mir wird der immense Leistungsdruck bewusst, unter dem ich die letzten drei Wochen stand. Das war nicht so leicht wie zu Hause, in meiner Schule, wo mir alles zu flog und ich alles mit links machte. Heute ist meine Familie da und ich sehne mich nach meinem vertrauten Umfeld. Ich habe keine Lust auch noch einen Tag hier zu verbringen. Ferienlager ist das nicht. Und dann sollen sie doch Ihre Bananen, Apfelsinen und Eis-am-Stiel behalten. Ich will nach Hause. Nach dem ersten starken Ausbruch von Gefühlen kann ich mich wieder beruhigen. Ich zeige tapfer meinen Eltern das gesamte Gelände, stelle Ihnen meine Zimmergenossen vor, zu denen ich immer noch keinen echten Zugang gefunden habe. Nun habe ich mich wieder unter Kontrolle und kann meiner Familie auch die Privilegien vorführen, die ich hier genieße. Wir gönnen uns alle ein Eis-am-Stiel und sitzen am See und müssen gar nicht viel sagen. Familiäre Verbundenheit kann man auch schweigend ausdrücken, bei gemeinsamen Genuss. Mein Herz wiegt wieder ein Zentner als sich meine Familie am Abend verabschiedet aber ich kann das jetzt aushalten. Es sind ja nur noch drei Wochen.


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