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Belletristik
Buch Leseprobe Der Zaunreiter, Fritz Maywald
Fritz Maywald

Der Zaunreiter



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1 wie die anderen Menschen
Wenn jemand Unbeteiligter Michael beobachtet hätte, wäre er zur Erkenntnis gekommen, daß das ein ganz normaler Mensch war, der ein ganz normales Leben führte.

Michael ging irgendwann am Vormittag aus dem Haus - zugegebenermaßen meist etwas später als die anderen Menschen, zugegebenermaßen etwas unregelmäßiger als die anderen normalen Menschen, zugegebenermaßen meist ohne Tasche oder Mappe oder sonstiges übliche und normale äußere Zeichen von Leuten, die zur Arbeit gingen, aber ordentlich und normal gekleidet und unauffällig und mit ähnlich abwesendem Blick wie die anderen Menschen, mit diesem „eigentlich bin ich gar nicht da“ oder „außer mir ist niemand sonst da“ oder „wenn ihr mich nicht wahrnehmt, nehme ich euch auch nicht wahr“ Blick.

Michael bewegte sich so schnell oder so langsam wie die anderen Menschen, je nachdem ob er eine belebte Geschäftsstraße entlangging oder etwa die Stiegen zur U-Bahn hinauf, und so war er ein perfektes Mitglied der Herde von Menschen, die sich – scheinbar zufällig und scheinbar sinnlos wie Michael selbst – in der Stadt dahinbewegte, von unbekannten Orten kommend und, ohne daß irgendein äußerer Sinn erkennbar war, zu unbekannten Orten gehend, eilend, laufend, schlendernd.

Da gab es sogar eine bedeutsame Regelmäßigkeit in seinem Tagesablauf: Er ging meist dieselbe Route, wenigstens am Beginn seines Weges, steuerte wie automatisch dieselben Punkte an, kauft sich eine Zeitung, und sogar dann, wenn dieser Unbeteiligte ihn weiter verfolgt hätte, wäre noch alles ganz normal gewesen. Manchmal stieg Michael in die Straßenbahn, manchmal ging er einfach immer weiter, scheinbar und anscheinend ganz normal und zielsicher, nur ganz selten gab es da am Morgen eine Besonderheit wie etwa ein Glas einer gelben, perlenden, vermutlich alkoholhaltigen Flüssigkeit am Markt, aber nur ganz selten, keineswegs so oft, daß er irgendwie in den Verdacht gekommen wäre, außerhalb der Norm, außerhalb dessen zu sein, was man tut, was man tun darf, was man tun soll.

Am Nachmittag oder Abend fiel es gar nicht auf, daß er manchmal, nein meistens, nein immer am Markt ein Glas einer gelben, perlenden, vermutlich alkoholhaltigen Flüssigkeit trank und ab und zu etwas Obst und Gemüse einkaufte, bevor er nachhause ging, ein ganz normales Haus betrat.

Michael erweckte also durchaus den Eindruck, ein ganz normales Leben zu führen, zumindest für einen oberflächlichen, flüchtigen Beobachter.

Hätte es so einem Beobachter gegeben und hätte der sich Michael zu erkennen gegeben und ihm gesagt, daß er – seiner subjektiven Beobachtung und Meinung nach – ein ganz normales Leben führte, dann hätte Michael wahrscheinlich gar nicht protestiert, gar nicht pro oder contra argumentiert, gar nicht darüber diskutiert, was denn eigentlich normal sei, was die Norm sei, wer diese Norm bestimmte, festlegte, überprüfte, sondern er hätte sich in seinem abwesendem Blick, diesen „eigentlich bin ich gar nicht da“ oder „außer mir ist niemand sonst da“ oder „wenn du mich nicht wahrnimmst, nehme ich dich auch nicht wahr“ Blick versteckt und wäre weitergegangen.

Michael erschien ganz normal und unauffällig, und er hatte alle Erinnerungen an Zeiten, in denen er beharrlich und angestrengt und nahezu verzweifelt von dieser Norm abzuweichen versucht hatte verdrängt, er hatte auch alle Erinnerungen an eine Zeit verdrängt, in der er auch für alle, die ihn genau und nicht nur oberflächlich kannten, ganz normal war. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, ob es angenehm für ihn war, so oberflächlich normal zu sein, ob er sich nicht gegen diesen Eindruck, den ein oberflächlicher Beobachter gewinnen würde, wehren müßte, ob er nicht deutlich machen müßte, daß er eigentlich ganz anders sei, anders als die normalen Menschen. Hätte er darüber nachgedacht, dann wäre er vermutlich sehr rasch zur Erkenntnis gelangt, daß es sich nicht lohnte, von dieser Norm abzuweichen, daß es sich überhaupt nicht lohnte, darüber nachzudenken, ob es sinnvoll sein könnte, deutlich zu machen, daß er ganz anders war als diese Norm.

Vielleicht wußte er es sogar selber nicht.

3 solange er denken konnte

Der Tagesablauf von Michael war einfach, überschaubar, durchschaubar, geregelt und doch völlig undurchschaubar und ungeregelt: Er begann den Tag damit, daß er – manchmal schon im Morgengrauen, manchmal erst gegen Mittag – das Haus in dem seine Wohnung lag verließ, durch das große dunkelgraue Tor, das schwer vergitterte ovale Glasflächen in den Flügeln hatte, von denen nur einer aufging, durch das Tor auf die Straße trat, und die Straße, in der er wohnte hinaufging.

Früher einmal, viele Jahre oder sogar einige Jahrzehnte früher, waren die Gehsteige mit großen Pflastersteinen belegt, verschieden groß, manche quadratisch, manche rechteckig, in allen nur denkbaren Grautönen, in den Ritzen Teer oder Sand oder Erde, manchmal sogar ein Löwenzahn oder Gras, Ziegelsplitter dazwischen und dunkle Flecken. Heute hatten natürlich Gehsteig und Straße eine Oberfläche aus einförmig grauem Asphalt. Sein Weg führte bis zur Ecke der zweiten Querstraße, die breiter war, gekrümmt wie es alle Straßen in einer alten Stadt sind, die es schon lang, schon immer, schon vor den Häusern gegeben hatte.

Ab und zu standen sogar noch Bäume auf diesem Weg, wie fossile Reste aus einer Zeit an denen diese Straßen unbefestigte Wege waren aus der Stadt in die Felder hinaus, Alleen die nie angelegt wurden, sondern einfach wuchsen.

Manche dieser Häuser trugen abenteuerliche Verzierungen, Friese wie griechische Tempel, Götterköpfe über den Toren, oder wenigstens hatte das Michael früher einmal so empfunden, als er noch ein Kind war und diese Häuser wirklich Tempel waren mit reichverzierten Eingängen in unermeßlich phantasievolle Räume. Heute sah er das alles nicht mehr, denn er war schon viel zu oft daran vorbeigegangen.

14 von weitem um die Ecke

Irgendwann – manchmal schon nach einer Stunde, manchmal erst am späten Nachmittag – kam Michael wieder zurück, um die Ecke herum, wie selbstverständlich, ging aber nicht wie am Morgen die gekrümmte Straße hinunter, sondern bog in einen Markt ab – einen von dieser alten, vergessenen Art, die man aber trotzdem noch oft in Wien finden konnte, eine von der Art, auf dem man gebratene Hühner und Gemüse und Würste und Schuhbänder und Obst und Messer und Töpfe und Brot und Blumen kaufen konnte.

Es war derselbe Markt, auf den seine Großmutter vor vielen Jahren täglich gegangen war, irgendwie konnte Michael sich noch vage daran erinnern, aber das war so lange her, oder doch nicht - er steuerte also diesen Markt an, um bei einer der Buden ein Glas Prosecco zu trinken.

Die meisten Marktstände waren aus Holz, hellgrün oder braun oder manchmal sogar rot gestrichen, meist an einer Seite offen mit Steigen von Obst oder Gemüse davor oder mit Blumentöpfen, die Aufschriften zeigten an, was es hier zu kaufen gab – Obst, Gemüse, Südfrüchte, saure Gurken, Grillhühner, Brot, Käse. Die Farbe war meist schon etwas verwittert, denn diesen Markt gab es immer schon, diesen Markt gab es, solange es diese Hauptstraße aus der Stadt hinaus gab.

Dieser Marktstand, an dem Michael ein Glas Prosecco trank, unterschied sich aber von den anderen. Einerseits durch ein großes Fenster, das man im Sommer öffnen konnte, andererseits durch eine schmale Tür, durch die man ihn betreten konnte, um auch im Winter nicht ohne ein Glas zu trinken vorbeigehen zu müssen. Dieser Marktstand unterschied sich auch durch seine leuchtend blaue Farbe, die so neu war, daß sie noch glänzte, durch aufgemalte goldene Sonnen und eine ebenso goldfarbene Aufschrift, die „Feine Kost, Vinothek, hausgemachte Teigwaren“ und andere Köstlichkeiten versprach. Und dieser Marktstand unterschied sich auch durch seinen ungewöhnlichen, zumindest für einen Wiener Marktstand ungewöhnlichen Namen – „ARRIGO“ war in großen goldenen Buchstaben auf jeder Seite aufgemalt.

An den Ecken dieses Standes standen schwere Töpfe aus rotgebranntem Ton mit Girlanden darauf und grünen Gewächsen darin, vor dem Stand gab es einige hohe und runde Tische, an denen man stehend diese versprochenen Köstlichkeiten auch genießen konnte, ein metallenes Bierfaß stand daneben und oft Holzkisten mit Weinflaschen, die darauf warteten, ausgepackt und in die Regale geschlichtet und wieder herausgenommen und entkorkt und der Inhalt in Gläser ausgeschenkt und getrunken zu werden.

Und eine Tafel gab es, schwarz mit einem hellen Holzrahmen, auf der all die Köstlichkeiten verzeichnet waren, die es hier zu essen gab – Pecorino aus Pienza, Parmiggano und Schinken aus Parma, Schinken aus Spanien mit dem sonnengewürzten Namen Jamon Serrano, Schinken aus San Daniele luftgetrocknet in Kirchtürmen, eingelegte kirschgroße Kapern von irgendwoher, getrocknete und in Olivenöl eingelegte Tomaten, in Rotwein geschmorte Zwiebeln, ein Leberaufstrich dem man es ansah, daß er unendlich viele Zutaten enthielt, trockene Kekse um sie in süßen Vin Santo zu tauchen, bevor man sie aß.

Der Besitzer kannte Michael gut, denn er ging bereits sein ganzes Leben, oder wenigstens fast sein ganzes Leben oder wenigstens einen großen Teil seines Lebens oder wenigstens einige Jahre dieses Lebens oder vielleicht doch erst seit voriger Woche täglich zu diesem Marktstand, um ein Glas Prosecco zu trinken, und der Besitzer dieses Standes schenkte das Glas immer schon ein, wenn er Michael von weitem um die Ecke kommen sah.


16 alles das war bedeutungslos

Hatte Michael auf dem Markt sein Glas Prosecco getrunken, gleichsam wie ein Ritual, ein Ritual, das diesen Tag so wie fast jeden beendete, ging er wieder zurück nach Hause – manchmal kaufte er vorher etwas Gemüse und Obst und Brot und Käse – die gekrümmte Erdbergstraße entlang, der man es ansehen konnte, daß sie eine sehr alte Straße war, der man es ansehen konnte, daß sie schon da war bevor überhaupt Häuser an ihr standen, daß die Häuser, die jetzt an ihr standen viel jünger waren als die Straße, vorbei an einem Supermarkt, der früher ein Kino war, vorbei an einer alten Apotheke mit einer Heiligenstatue an der Ecke, die fast so alt war wie die Straße selbst, vorbei an aufgelassenen Geschäften mit blinden Scheiben und alten Aufschriften, die Herrenhüte oder Wirkwaren oder Wäsche versprachen, aber doch nur leer waren, vorbei an einem Eisgeschäft, das es immer schon gegeben hatte, vorbei an einem Geschäft, daß in großen schwarzen Buchstaben auf grellrotem Grund Abverkauf versprach und mit Kram aller Art angefüllt war, vorbei am Friseur.

Das ehemalige Wirtshaus an der Ecke war heute ein Billiard-Café, mit einem seltsam anmutenden pompösen Eingang, von dessen Giebel ein Götterkopf herabblickte, ernst, mit goldenen Verzierungen, eines römischen Tempels würdig, der aber ganz unrömisch in der Nacht von einem Halogenscheinwerfer angestrahlte wurde, mit einer ovalen Tafel an der Mauer, die neben dem Namen des Cafés „Club Lokale“ versprach – was immer damit gemeint war – und Billard, und einem schon sehr verstaubten Brett im Fenster, auf dem mit sich teilweise ablösenden, sich teilweise kräuselnden, von weiß in goldgelb und von hellblau in braugrün vergilbtem Papierbuchstaben „Erdberger Briefmarken Sammelverein“ stand und auf einem ebenso vergilbten darübergeklebten Zettel mit krakeliger Schrift „Vereinsabende jeder 1+3. Mittwoch im Monat“ und „Neu“ stand.

33 sah man durch das Rechteck

Manchmal, wenn Michael in seiner Wohnung war, glaubte er, in der Wohnung seiner Großmutter zu sein, und das waren die glücklichsten Momente, denn es kamen Erinnerungen an die klappernde Wasserkanne, an den Kaffeegeruch in der Küche, an die Schmalzbrote, an steinharte Kekse zu Weihnachten, Berge alter Zeitungen und die Freiheit, auch einmal ohne Schuhe in den Prater zu gehen, mit einer Tasche, in der sich einige Butterbrote und eine Milchflasche voll dünnem Milchkaffee befand, der spätestens zu Mittag sauer war.

Lag Michael im Bett, dann schaute er genau auf das Fenster auf der gegenüberliegenden Wand, das einzige Fenster der Wohnung. Das war einmal eines jener alten Kastenfenster aus Holz gewesen, wie man sie in der Entstehungszeit des Hauses verwendet hatte, weiß lackiert, beim Öffnen charakteristisch klappernd. Dieses Fenster, das so alt es auch war noch eine gewisse Romantik ausgestrahlt hätte, war aber bereits vor vielen Jahren durch ein gesichtloses Kunststoffrechteck ersetzt worden, eine durchgehende Glasfläche, keine markanten Kanten mehr, keine Unterteilung, dafür billiger vergilbender Kunststoff, der eigentlich weiß sein sollte, aber jetzt fast schon gelb war mit braunen Flecken an den Isolierungen.

Vorhänge gab es an diesem Fenster keine, denn abgesehen davon, daß Michael solche Luxusgegenstände seiner Wohnung niemals gönnen würde, gab es auch keine Notwendigkeit dafür, denn aus diesem Fenster blickte man über den Donaukanal hinweg – einem der alten Arme der ungezähmten, ungefesselten, freien Donau, der als schmutziggrünbraune Brühe zwischen steilen wohlgerodeten Ufern erhalten geblieben war, sogar den Ratten hatte man die Schlupflöcher nicht gegönnt und alle Büsche abgeholzt.

Besser gesagt, man hätte über den Donaukanal hinwegblicken können, denn der Zugang zum Fenster war von dem erwähnten Sessel oder genauer gesagt von dem Wäscheberg am Sessel verstellt. Aber vom Bett aus sah man durch das Rechteck des Fensters den Himmel. Quer über die Straße vor dem Haus war ein Telefonkabel gespannt, eines jener alten, schwarzen, und diese Kabel teilte das Rechteck des Fensters in zwei Teile.

35 auf einer anderen Ebene

Meist ging Michael früh schlafen, denn es gab eigentlich nichts zu tun für ihn, wenn er einmal in seine Wohnung zurückgekehrt war. Im Schlaf hatte er die Chance, zu träumen. Aber sein Schlaf war traumlos, schon jahrelang, oder es kamen die Träume heimlich und gingen wieder, bevor er sie fassen, festhalten, sich an sie erinnern konnte. Vielleicht auch wollte er sich an seine Träume nicht erinnern, weil sie aus einer anderen Zeit stammten, die er glaubt vergessen zu können.

Irgendwann – manchmal im Morgengrauen, manchmal am späten Vormittag, manchmal, wenn er besonders glücklich war, erst zu Mittag, manchmal, wenn ihn irgend etwas undefiniertes erschreckt hatte , auch mitten in der Nacht – erwachte Michael. In diesem Übergangsstadium von einem Traum in die Realität oder von einem Traum in die Wirklichkeit oder von einem Traum in einen anderen Traum sah er immer dasselbe Bild vor sich.

Ein Drahtseil – schwarz, fast waagrecht gespannt, von einer Seite des Fensters zur anderen, es in zwei etwa gleich große Teile teilend, trotzdem auf einer anderen Ebene, in gewisser Entfernung davon, aber für Michael Augen, die sich gerade öffneten – zögernd, taumelnd, gleichsam tastend nach ein langen und doch viel zu kurzen Nacht – für Michaels Augen sind es zwei etwa gleich große Rechtecke, schwarz umrandet, hellgrau ausgefüllt, starr, unbeweglich, immer schon dagewesen und doch heute neu, heute wieder neu, wie an jedem Tag, wenn er aufwachte, oder zumindest die Augen öffnete, die Augen sich öffneten.

In diesem eigenartigen Zustand des Bewußtseins, in diesem Zwischenraum der Wirklichkeiten, in diesem eigenartig leichten, scheinbar schwerelosen, scheinbar zeitlosen Zustand meinte Michael oft, wieder ein Kind zu sein.

40 es war belanglos

Die Rechtecke und der Drahtseil waren immer da. Unendlich viele Farben hatte Michael in diesen Rechtecken schon gesehen – manchmal war die Fläche der Rechtecke grau, und

Was ist mit diesen zwei Rechtecken anzufangen, die da scheinbar statisch, flach, zweidimensional im Raum hängen, dachte Michael an vielen Tagen, an denen er langsam erwachte.

Wenn Michael wirklich wach war, dann waren die beiden Rechtecke mit dem Drahtseil dazwischen einfach und banal ein Fenster, ein Fenster, das manchmal geschlossen war und meistens offen, besonders in der Nacht, denn er liebte es, Luft zu haben und Kälte in der Nacht, um unter die Decke kriechen zu dürfen.

Wenn Michael wach war, dann war nichts Außergewöhnliches an diesem Fenster, ein Fenster eben, rechteckig, hart, begrenzt – und dahinter der Himmel und eben in der Mitte ein Drahtseil, das einen Telefondraht oder eine elektrische Leitung oder was auch immer stützte, trug, leitete, führte, von irgendwoher nach irgendwohin. Es war belanglos, woher dieser Draht kam und wohin er führte – zumindest wenn Michael wach war, war es belanglos, bedeutungslos, ohne Bedeutung.

In diesem Übergansstadium von Traum zu Wirklichkeit aber waren die beiden Rechtecke geheimnisvolle Ausschnitte des Seins, und das Drahtseil dazwischen gleichzeitig Verbindungslinie und Trennlinie. Wenn er so da lag, schien es einen Zwischenraum zu geben in der Zeit, einen Zwischenraum im Verstreichen der Zeit, einen Zwischenraum zwischen der scheinbaren Bewußtlosigkeit des Schlafes und der grellen Realität des Wachseins.

Michaels Blick blieb oft an diesen Rechtecken hängen, und es gelang ihm so, länger in diesem geliebten Zwischenraum, in diesem Übergangsstadium zu verharren, in dem es weder einen seiner verdrängten Träume, noch die harte Realität des Tages danach gab.

43 mit einiger Mühe

Eines Tages, als selbst eines der außergewöhnlichen morgendlichen Gläser Prosecco am Markt ihm nicht darüber hinweghelfen konnte, daß er einerseits bereits wirklich und wahrhaftig wach war, aber eigentlich nichts zu tun hatte, daß ihm eigentlich nichts zu tun einfiel, daß vor ihm ein langer Tag lag, den es irgendwie in die Nacht hinüberzuretten galt, aber nicht durch schlafen, denn dann wäre die Nacht dahinter schlaflos gewesen, und das war noch schlimmer wie ein zielloser Tag, am Anfang eines solchen Tages, gerade als er nachdachte, ob er wieder einer seinen endlosen Spaziergänge beginnen sollte oder doch mit der Straßenbahn ziellos durch die Stadt fahren, eines Tages faßte Michael einen kühnen Entschluß: Er wollte wegfahren, wirklich wegfahren, aber nicht zu weit, denn kein Auftrag, ein Bild zu malen gab ihm den Grund, ein oder zwei Wochen irgendwo nach Süden zu fahren, wo die Sonne gelb war und die Luft blau und die Abende violett.

Er fuhr zum Südbahnhof – das war der nächstgelegene Bahnhof zu seiner Wohnung – einen jener gesichtslosen, graubraunen Bahnhöfe einer Stadt, die ihre alten Bahnhöfe im Krieg verloren und es nicht für notwendig gefunden hatte, sie schön wieder aufzubauen, sondern nur schnell und nüchtern und häßlich, Orte wo man vergessen konnte, daß sie nicht nur Orte des Abschieds sondern auch Orte des Ankommens waren, Orte wo aus unerfindlichen Gründen Stadtstreicher, in Wien Sandler genannt, Obdachlose also herumlungerten, selbst im Sommer, wo doch jeder andere Platz schöner war als dieser graue Bahnhof mit seinen hallenden Geräuschen – er fuhr also zum Südbahnhof, einfach so, ohne Gepäck, ohne besondere Vorbereitung, und stellte sich vor die große Anzeigentafel in der Halle, gleich neben den grauschwarzen, abgebröckelten Löwen aus Sandstein, der aus unerfindlichen Gründen dort seinen Platz hatte, obwohl es auch für ihn überall anders schöner sein müßte, er stellte sich also vor oder eigentlich unter die große Anzeigentafel um zu sehen, wohin die nächsten Züge gingen.

Graz stand dort – das war ihm zu weit, denn eigentlich wollte er am Abend zurück sein, Rom stand dort, das wäre schön gewesen, aber dazu hätte er die Ausrede eines Auftrages gebraucht oder wenigstens die Anzahlung dazu, Neusiedl am See stand dort, was ihn nicht besonders reizte, selbst an diesem warmen Frühsommertag nicht, Wiener Neustadt stand dort, das war eigentlich nicht unbedingt wert, bereist zu werden, in einer Stadt war er ja schon, Payerbach-Reichenau stand dort, Eilzug nach Payerbach-Reichenau, hält nicht in allen Haltestellen, Payerbach-Reichenau, das schien ihm reizvoll, denn das klang nach rauschendem Wasser und gelbverputzten Häusern aus einer Zeit, als ein Ausflug dorthin noch eine Tagesreise war, das klang nach Frieden und Ruhe und ausrasten und vergessen und träumen.

Er war sich nicht ganz sicher, wo Payerbach-Reichenau genau lag, irgendwo Richtung Süden, aber nicht zu weit, irgendwo weg von da. Also ging er zum Schalter und kaufte eine Karte zweiter Klasse (erste Klasse hätte es in diesem Zug sowieso keine gegeben) nach Payerbach-Reichenau über Wiener Neustadt und machte sich auf den Weg, den Zug zu suchen, was nicht wirklich schwer war, denn dieser Bahnhof hatte nicht mehr als zehn oder zwölf Bahnsteige, alle ordentlich mit Leuchttafeln beschriftet.

Er fand den Zug also ganz einfach und stieg in einen Waggon ungefähr in der Mitte, nahm verwundert die Drehklinke aus gegossenem und blankpoliertem Aluminium in die Hand, zog mit einiger Mühe die Tür auf und fand sich in einem Waggon wieder, der zum Ziel seiner Reise paßte. Hätten jemand Michael erzählt, daß es solch alte Waggons noch gab, er hätte es nicht geglaubt.

46 ab und zu wieder

Während er darüber nachdachte, wo er eigentlich war (welche Bahnstation kam nach Wiener Neustadt wenn man nicht mit dem Intercity nach Italien unterwegs war und einfach über den Semmering brauste und gar nicht auf die Idee kam und gar nicht die Zeit hatte und eigentlich auch viel zu schnell fuhr, um irgendwelche graugrünen Linien nachzuträumen), während er überlegt, ob da jetzt Gloggnitz oder Neunkirchen oder Ternitz kommen mußte, wurde der Zug langsamer, ohne daß sich die das Blickfeld dominierenden Linien verändertet hätten, aber ein blaues Schild mit weißem Rand, nicht allzu groß, aber nicht zu übersehen wurde sichtbar. St. Egyden stand auf dem Schild. Michael hatte nie etwas von einer Bahnstation, von einem Ort St. Egyden gehört, noch dazu mitten im Wald, der Name klang irgendwie bedeutend, nach Wallfahrtsort oder Kultstätte. Während er nachdachte, was er mit dieser Botschaft, mit dieser offensichtlichen Standortbestimmung anfangen sollte, schob sich ein Bahnsteig in sein Blickfeld, schmal, grau, wie ein viel zu schmaler und viel zu langer Flugzeugträger, ein paar Lampen darauf und ab und zu wieder ein Schild „St. Egyden“.

Wo zum Teufel ist St. Egyden, dachte sich Michael? Und was gibt es da, außer dem, was er sah – einen langen schmalen Bahnsteig und einige Lampenpfosten in Zinkgrau und eine blaue Tafel, auf der St. Egyden stand und die graugrünen Linien dahinter, die ein Föhrenwald waren, die der Föhrenwald waren, in dem er eigentlich spazierengehen wollte.

Kurzentschlossen – oder eigentlich gedankenverlogen und noch fast im Traum und getrieben von diesem Bild der unendlich vielen Linien - stieg Michael aus dem Zug, der auch sofort wieder anfuhr. Niemand außer ihm war ausgestiegen - was sollte man auch in St. Egyden - er stand allein am Bahnsteig und konnte sehen, daß es auf der anderen Seite so etwas wie einen sehr kleinen Bahnhof oder ein großes Schrankenwärterhaus gab, dort wo die Spitze des Zuges gehalten hatte eine Straße mit Bahnschranken, welche die Bahnlinie querte – allerdings fuhr da keiner – und hinter einigen Bäumen wenige Häuser.

Aber das war die andere Seite, auf seiner Seite war nur sein Wald. Und den konnte er ganz leicht erreichen, indem er von diesem Flugzeugträger, der eigentlich ein Bahnsteig war, mutig herunterstieg, einen schmalen, geschotterten Fahrweg überquerte und in das Gewirr der Linien eindrang.

Michael stellte sehr schnell fest, daß die Bäume – allesamt Föhren, oder genauer gesagt Schwarzkiefern, wie Michael in einem Anfall von Genauigkeitswahn später herausfand – keineswegs nach einem strengen Raster gepflanzt waren, gerade die Abstände waren ähnlich weit.

Michael konnte quer zwischen den Stämme gehen, in beliebiger Richtung weg vom Bahnsteig, ohne durch irgendetwas anderes als seinen Willen daran gehindert zu werden. Ab und zu führten Wege durch den Wald, schnurgerade, offensichtlich im rechten Winkel zur Bahnlinie, offensichtlich um die Pflege des Waldes zu erleichtern, Wege, die meist genauso grünbüschelig mit Gras überwachsen waren wie der Raum zwischen den Bäumen und sich gerade durch die leicht vertieften Spuren von Fahrzeugrädern unterschieden. Manchmal lagen in diesen Spuren Nadeln, manchmal Föhrenzapfen, das aber eher selten.

56 ich könnte es einmal versuchen

Wie immer, wenn Michael eine jener traumlosen Nächte hinter sich hatte, wie immer, wenn Michael nach einem seiner Besuche im Wald sehr rasch in einen traumlosen, tiefen Schlaf gefallen war, wollte er sich am Morgen danach von diesem herrlichen Übergangsstadium nicht lösen.

Was war mit diesen beiden Rechtecken anzufangen, dann, wenn sie kein Fenster waren, sondern zwei Rechtecke eben, verschieden groß, unterschiedlich und wechselnd in der Größe, je nach dem Blickwinkel – und wenn Michael nicht mehr schlief aber auch noch nicht wach war, also in irgendeinem grauen Grenzbereich, in dem die Phantasien der Träume noch funktionierten und die Nüchternheit der Realität die Wirklichkeit noch nicht gestört, zerstört, gerade-gerückt, in Ordnung gebracht hatte, dann waren das zwei Rechtecke mit einem Seil dazwischen, das sie trennte und gleichzeitig verband.

Was war also mit diesen Rechtecken anzufangen?

Man könnte in ihnen spazierengehen, dachte sich Michael eines Morgens, als er wieder so dalag in dieser Grauzone, ich könnte es einmal versuchen. Es brauchte mehrere Anläufe, viele Phasen des er-wachens, aus-träumens, ent-schlafens, an denen er diese beiden Rechtecke in ihren immer wechselnden Farbschattierungen beobachtete, bis er genug Mut fand, um diesen Gedanken zu realisieren.

57 alt und verwittert

Michael folgte auch diesmal wieder dem Rauschen dieses geheimnisvollen Vogels, ebenso wirr durch den Wald wie beim ersten Mal, und nach einiger Zeit kam er so an eine Lichtung des Waldes, die gerade so licht war, daß man die Sonne auf dem Gras sehen konnte, die sonst von den dunkelgrünen Wipfeln der Bäume verdeckt war – außer wenn sie es spätabends oder frühmorgens schaffte, ganz schräg durch die Stämme zu leuchten.

Zu seiner Überraschung war am gegenüberliegenden Rand der Lichtung ein Zaun. Michael hatte bisher in seinem Wald nie einen Zaun gefunden, nie eine Begrenzung gefunden, bis auf das eine Mal vor langer Zeit, das er fast verdrängt hatte, er war in der Zwischenzeit zur Auffassung gekommen, daß dieser Wald grenzenlos sei. Da war aber ein Zaun – unübersehbar, real, fest, begrenzend, abgrenzend.

Dieser Zaun war einer von den alten, grauen Zäunen, die es fast nicht mehr gab. Pflöcke standen da, fest in den Boden gerammt – rauh, grau verwittert, mit wegstehenden Aststücken und Resten von Rinde dran – und dazwischen waren Bretter befestigt, Bretter denen man es ansah, daß sie ganz einfach aus ganzen Bäumen geschnitten waren, denn ihre Ränder waren gewellt und hatten manchmal noch Rinde und Flechten an sich. Auch diese Bretter waren schon grau verwittert und hatten sich der Farbe der Pfosten angepaßt. Die Rindenstücke waren alt und verwittert und dünn wie antikes Pergament einer untergegangenen Kultur. Befestigt waren sie mit langen Nägeln, die teilweise einige Zentimeter aus den Brettern herausstanden, manchmal die Köpfe, manchmal – viel bedrohender – die Spitzen. Diese Nägel waren verrostet, in abenteuerlichen Brauntönen, manche rotbraun, fast orange, manche dunkelbraun, fast schwarz, mit allen Schattierungen dazwischen. Der Abstand zwischen diesen Brettern war etwa eine Handbreit, so daß nur vier solcher Bretter die Höhe eines Zaunelements bildeten.

An einer Stelle dieses Zaunes, der sich links und rechts im Wald verlor und dessen Ende nicht einmal erahnbar war, war ein Durchgang, und so wie der Zaun war auch der Durchgang von besonderer Art. Zwischen den Pfosten – hier waren diese doppelt im den Boden geschlagen und in regelmäßigen Abständen mit Querstreben versehen - waren da Stangen eingelegt, waagrecht, in engem Abstand, so den monotonen Rhythmus der Bretter unterbrechend wie eine Synkope. Diese Stangen – fraglos die Stämme junger Föhren die ohne große Sorgfalt entrindet worden waren – konnte man herausnehmen, um den Durchgang freizumachen. Das besondere an den seitlichen Stützen dieses Durchganges war, daß sie oben durch ein schmales Brett abgedeckt waren.

Michael war klar, daß das eine ganz andere, viel bedeutendere Grenze des Waldes sein mußte, eine, die keiner logischen Richtung folgte und die man daher auch nicht finden konnte, wenn man bewußt und kontrolliert durch den Wald wanderte.

Und so, wie er die erste entdeckte Grenze seinen Waldes – jenen breiten Weg, hinter dem nur mehr niedrige Bäume zu sehen waren – nicht überschritten hatte, so überschritt er auch diese Grenze nicht, sondern kehrte zum Bahnhof zurück (daß er den Weg sehr leicht fand überraschte ihn nicht sonderlich) um nach Wien zu fahren.

66 er wagte es sogar

Gerade an Frühsommertagen wie diesem fuhr Michael oft hinaus zu seinem Wald, stieg an dem einsamen Bahnsteig aus, der im frühen Sonnenlicht manchmal eher der Hafenmauer einer längst versunkenen Stadt erinnerte, als an den Bahnsteig einer kleinen Bahnstation.

Der Weg zum Zaun war ihm schon so vertraut geworden, daß er glaubte, keinen Raben mehr zu brauchen, obwohl er ihn noch immer über sich rauschen fühlte. Er ging heute nicht nur nahe zum Zaun, er griff ihn auch wieder an, spürte ganz deutlich das alte, rissige Holz , fühlte gleichsam in die Poren hinein, strich sanft über die Rindenstücke und war fast glücklich, als sich ein dünner wegstehender Holzspan in die Haut seines Daumens bohrte, denn jetzt wußte er es mit Gewißheit, der Zaun war echt, nicht nur Einbildung.

An diesem sonnigen Tag wagte es Michael zum ersten Mal:

Er war mutiger geworden, so mutig, daß er seinen rechten Fuß auf die unterste Holzstange gleich neben dem rechten Pfosten des Durchganges stellte, zögernd, abwartend, lauschend, fühlend, spürend, gleichsam in den Zaun hineinhorchend. Er wagte es sogar, diesen rechten Fuß zu belasten und den zweiten Fuß daneben hinzustellen auf dieselbe Stange, die unter seinem Gewicht federte, ein knarrendes Geräusch von sich gab, ihn aber trug.

Er war jetzt ganz nah am rechten Pfosten des Durchganges, konnte wieder die blankgescheuerten Nägel sehen, strich mit seiner rechten Hand über das kleine Brett, das als Abdeckung oben auf den Begrenzungspfosten aufgenagelt war und erinnerte sich, wie er als Kind darauf gesessen hatte.

Eine ganze Weile stand er so da auf dem untersten Rundholz des Durchganges, blickte über den Zaun, wo der Wald unverändert weiterging, aber trotzdem ein ganz anderer Wald war, denn der Zaun war die Grenze seines Waldes, die absolute Grenze dieser Wirklichkeit.



70 einmal quer durch

Schon wenige Tage nach seinem letzten Besuch kehrte Michael wieder zu seinem Zaun zurück. Er folgte dem Hauch des Raben jetzt schon, ohne darüber nachzudenken, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, so wie wenn der Rabe ganz selbstverständlich als sein Wegweiser da wäre, so als ob es ihm schon immer klar gewesen wäre, daß er einen Raben hatte, dessen Aufgabe es war, ihn an den Zaun zu bringen.

Er folgte dem Raben jetzt schon ganz selbstverständlich und gedankenverloren, er wußte, daß ihn der Rabe den richtigen Weg zu seinem Zaun führen würde, und so fiel ihm nicht einmal auf, daß er immer einen anderen Weg ging von der Bahnstation zum Zaun, einmal den Reihen der Bäume entlang, einmal quer durch diese Reihen hindurch, einmal jede Lichtung nutzend, einmal dort entlang, wo besonders viele Brombeerranken nach seinen Füßen faßten, einmal dort entlang, wo junge Föhren um seine Beine strichen.

Hätte er über diese verschiedenen Wege nachgedacht, wäre ihm aufgefallen, daß sein Zaun bei jedem seiner Besuche wohl in einem anderen Teil des Waldes stehen mußte, aber immer eine Grenze bildend, seine Grenze, und immer das Ziel dieser Wege war. Eigenartigerweise war am Rückweg der Rabe nie mehr da als Weiser des Weges, denn der Rückweg zum Bahnhof war immer derselbe, wie wenn er einfach keine Bedeutung hatte, für Michael keine Bedeutung hatte, bedeutungslos war.

Diesmal war er fest entschlossen, wenigstens so mutig zu sein, wie er als Kind gewesen war und hinaufzuklettern und sich auf den Pfosten des Durchganges zu setzen.

Trotzdem brauchte es eine gehöriges Maß an Überwindung, langsam und vorsichtig die runden dünnen Stämme hinaufzuklettern, den rechten Fuß darüberzuschwingen und sich auf das schmale Brett der Abdeckung zu setzen. In diesem Moment wurde der Zaun ein ganz anderer Zaun, das war kein Zaun im Wald von St. Egyden, das war der Zaun am Bauernhof seiner Kindheit, er konnte deutlich die anderen Kinder rufen hören, etwas entfernt zwar, aber unverkennbar, er konnte den Bauernhof riechen, diese Mischung aus Rauch und frischem Kuhmist und Heu und altem Holz und Sonne und einer Prise frischgebackenem Brot, er sah auch den Weg ganz deutlich, der durch den Durchgang führte, ein grobgeschotterter Weg mit einigen größeren Steinen darauf und Grasbüscheln mit Löwenzahnblüten in der Mitte und auf den größeren Steinen waren dunkelgrüne und graubraune Flechten und am Rande des Weges war Moos.

Dieses Gefühl war auch wieder da, stärker als je zuvor, diese Mischung aus der Angst, etwas Verbotenes getan zu haben, aus Stolz, etwas Kühnes gewagt zu haben, aus Triumph, ganz oben zu sitzen.

Einen kurzen Moment glaubte Michael, eine Bewegung zu sehen, eigentlich mehr zu spüren wie einen Windhauch, eigentlich mehr zu fühlen wie einen kühnen Gedanken, einen kurzen Moment glaubt Michael, nein war sich sicher, daß jemand mit ihm auf diesem Zaun saß, oder er wünschte es sich vielleicht, oder er versuchte es zu träumen.

Seine Augen konnten aber nichts erkennen, und er wischte dieses Gefühl weg und stieg wieder hinunter, um zum Bahnhof zurückzugehen.

83 nicht sehr hoch

Die Landschaft änderte sich, wie wenn ein geschickter Schnittmeister eine nahtlose Überblendung von einer Szene in die andere zustandegebracht hätte. Plötzlich hatte sich das Licht verändert, es war später Abend geworden, einer jener Abende, an denen der Himmel hoch oben schon tiefdunkelblau ist und am Horizont über strahlendes Dunkelblau und helles Türkis in sattes gelborange überging, was zwar farbtechnisch völlig unmöglich war, aber die Natur kümmerte sich offensichtlich nicht darum.

Es war fast dunkel, aber die eigenartige Farbmischung des Himmels tauchte die Landschaft doch in ein geheimnisvolles Licht, in dem Michael alle Einzelheiten erkennen konnte. Er stand auf einer ebenen, mit kurzem Gras bewachsenen Wiese, die im Abstand von zehn oder zwanzig Metern in eine Geländestufe überging, nicht sehr hoch, vielleicht drei oder vier Meter, so daß er erkennen konnte, daß kurz dahinter offensichtlich dunkler Nadelwald begann.

Unmittelbar vor Michael war ein kreisförmiger Fleck, etwa fünf Meter im Durchmesser, auf dem kein Gras wuchs, vielleicht weil es dort nie gepflanzt wurde, vielleicht, weil es dort ausgegraben wurde, vielleicht weil hunderte von Füßen es im Tanz niedergetrampelt hatten. Die Erde war gleichmäßig dunkelbraun, glatt, fest und lehmig. Das dunkle Braun der Erde bildete einen eigenartigen, erregenden Kontrast zum Dunkelgrün des Grases.

Am Rande dieses Kreises lagen helle, fast weiße Steine, kopfgroße Kiesel, die soviel Licht des Himmels einfangen konnten daß sie trotz der beginnenden Nacht noch immer weiß strahlten. Die Steine lagen in gleichmäßigen Abständen da, und es waren genau zweiundzwanzig.

Eine Geschichte kam Michael in den Sinn, die er vor langer Zeit gehört hatte, soweit er sich erinnern konnte war das eine Geschichte aus der Mythologie irgendeines Naturvolkes, dessen Namen er vergessen hatte, in dieser Geschichte tanzten zweiundzwanzig weiße Frauen um ein Feuer, aber Michael konnte sich nicht mehr erinnern, wieso sie dort tanzten und wer sie waren und welche Bedeutung sie in dieser Geschichte hatten.

Auch in der Mitte dieses Kreises brannte ein Feuer, oder besser gesagt hatte bis vor kurzer Zeit ein Feuer gebrannt, denn das Holz glühte, und die hellsten Stellen der Glut waren genauso gelborangerot wie der Horizont, Michael konnte die Hitze der Glut deutlich spüren und den Rauch riechen. Aber rund um des Feuer tanzten keine weißen Frauen, sondern da lagen weiße, kopfgroße Kiesel.

Kurz bevor das türkiesgelborangerote Licht am Himmel erlosch, spürte Michael ein gewaltiges Rauschen hinter sich, und noch bevor er sich umdrehen konnte flog ein großer, schwarzer Vogel über ihn und den Kreis der Steine und das Feuer hinweg, geradewegs in den Wald hinein.

Anmerkung:
Diese Textausschnitte stammen aus dem Romanmanuskript vor Korrektur durch das Lektorat und sind daher noch nicht fehlerfrei!

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