Suchbuch.de

Leseproben online - Schmökern in Büchern



Kategorien
> Belletristik > Der Geist der Steine
Belletristik
Bücher Erotik
Esoterik Bücher
Fantasy Bücher
Kinderbücher
Krimis & Thriller
Kultur Bücher
Lyrikbücher
Magazine
Politik, Gesellschaftskritik
Ratgeberbücher
regionale Bücher
Reiseberichte
Bücher Satire
Science Fiction
Technikbücher
Tierbücher
Wirtschaftbücher
Bücher Zeitzeugen

Login
Login

Newsletter
Name
eMail

Belletristik
Buch Leseprobe Der Geist der Steine, Peggy Langhans
Peggy Langhans

Der Geist der Steine


Roman

Bewertung:
(284)Gefällt mir
Kommentare ansehen und verfassen

Aufrufe:
9071
Dieses Buch jetzt kaufen bei:

oder bei:
erhältlich bei Amazon, Thalia, Weltbild
Drucken Empfehlen

 


 


Der Regen perlt am Fensterglas herab. Grau, mit dicken Wolken verhangen ist der Himmel. Die Äste der Bäume beugen sich den Angriffen des durch sie hindurch pfeifenden Windes. Ein Rettungswagen mit Blaulicht fährt in hohem Tempo die schmale Straße zur Notaufnahme entlang. Dumpf klappen Türen. Schritte auf dem Flur werden lauter, entfernen sich bis sie verhallen. Unruhiges und geschäftiges Treiben bestimmt die Atmosphäre dieses Komplexes.


Hier ist es still. Unheimlich still. Das EKG durchdringt die Stille mit einem rhythmischen Piepen. Akustische Signale eines Herzens. Eines Herzens, das stark schlägt. So stark, dass sein Schlag nicht zu ertragen war. Lautlos tropft die Natriumchlorid-Lösung durch transparente Schläuche in den Körper. Wasser zum Leben. Sauerstoff wird in die Lunge gepumpt. Luft zum Atmen. Künstlich wird ersetzt, was sie selbst nicht zu sich nimmt. Nicht mehr zu sich nehmen wollte. Nicht mehr zu sich nehmen, um es endlich abzutöten. Dieses Herz, dessen Schlag schmerzt. So entsetzlich schmerzt, dass es den Körper zerreißt. Sie hat sich zurückgezogen. Zurückgezogen in sich selbst. Zurückgezogen, um ihm zu entkommen, diesem Schmerz.


Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen, erinnert Annika sich an ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry. Wie gelange ich zu dir? Wie erreiche ich dich?


Als sie gestern die Auffahrt verließ, um nach Berlin zurück zu kehren, stand sie in der Tür und winkte ihr zum Abschied. Im Rückspiegel konnte Annika sie in ihrer für sie charakteristischen sehr aufrechten Haltung beobachten. Sie hat sich nichts anmerken lassen. Zeigte keine Rührung. Und dennoch wurde Annika während der Fahrt das Gefühl einer Vorahnung, das sie bereits seit einigen Tagen beschlich, nicht los. Je weiter sie sich von dem Anwesen am Meer entfernte, desto intensiver wurde dieses ungute Gefühl.


Heute ist es genau ein Jahr her. Vor einem Jahr sind sie sich begegnet. In Berlin. Am Holocaustmahnmal. Annika führte eine Touristengruppe durch die Stadt, als sie ihr auffiel. Diese Frau, gehüllt in einen dunklen Mantel, aufrecht sitzend auf einem der Steine des Mahnmals und eine Zigarette rauchend. Nicht ungewöhnlich. Und doch konnte Annika sie nicht vergessen. Der Anblick dieser Frau begleitete sie fortan. In ihrer Erinnerung wälzte sie sämtliche Eindrücke von Begegnungen und Erlebnissen, um sie mit diesem Bildnis abzugleichen. Sie fand keines, was ihm glich. Am folgenden Tag trafen sie sich wieder. Annika nutzte die Chance, um der Frage auf den Grund zu gehen, und sprach die Fremde an. Sie gingen noch einmal zum Mahnmal und Annika erzählte so viel über sich und ihre Arbeit, dass sie vollkommen vergaß, die Fremde nach ihrem Namen zu fragen. Alles, was sie wusste, war, dass sie Französin ist und ihre Eltern zur Zeit des 2. Weltkrieges umgekommen sind. Nach dieser wiederholten Begegnung blieb Annika mit einem noch größeren Berg an Fragen und Rätseln zurück.


Wer ist diese Frau? Was haben wir miteinander zu tun? Worum geht es hier?


Für Annika war ab diesem Moment in ihrem Leben nichts mehr, wie es vorher war. Als hätte sich der Horizont ihrer Wahrnehmungen geöffnet und verschlossen zugleich, begann eine Suche nach dem Schlüssel dieser Verbindung. So plötzlich, wie die Fremde auftauchte, entschwand sie auch wieder. Seitdem spürte Annika diese stete Vertrautheit, ein stetes Dasein. Es drängte sie, nach Frankreich zu kommen.


Im Dezember war es so weit. Eine Wochenendreise führte sie nach Paris. Nach Paris, in eines der kleinen privaten Theater in der Nähe der Madeleine. In ein Boulevardstück. Sie hätte auch in ein Konzert oder in die Oper gehen können. Aber sie sah sich diese Tragikomödie an, geschrieben von einer Barbara Benoit. Der Barbara Benoit. Eine der angesagtesten Autorinnen in Frankreich, wie sie dem Programmheft entnehmen konnte. Barbara Benoit. Eine Südfranzösin mit nordischen Wurzeln. Außer dieser Information und einer Auflistung ihrer Werke war aus dem Text nichts Näheres über ihre Biographie zu erfahren. Barbara Benoit. Die Fremde. Da war sie wieder. Mitten in Paris. Nun kannte Annika wenigstens ihren Namen. Am nächsten Morgen kam es zu dieser seltsamen Begegnung in einer kleinen Bäckerei. Annika kaufte Croissants zum Frühstück. Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme ihren Namen aussprechen. Ihr Name ausgesprochen in einer Stadt, in der sie eigentlich niemand kennt. Dachte sie. Und da saß sie. Eingehüllt in ihren Mantel. Die halblangen sehr dunklen Haare etwas zerzaust vom Wind. Eine Zigarette rauchend, vor sich einen Milchkaffee und die Zeitung lesend.


Egal, wo man diese Frau hinsetzen würde, sie würde auffallen und verschwinden zugleich. In einem Augenblick ist sie so präsent, dass alles um sie herum klein und nichtig erscheint, im nächsten ist sie unsichtbar als hätte es sie nie gegeben. Die Fremde. Gleich einer Zigeunerin, die wie aus dem Nichts auftaucht, mit ihrer Kunst und ihrer Erscheinung die Menschen verzückt und betört und dann weiterzieht ohne die geringste Spur von sich zu hinterlassen. Weder weiß man, woher sie kam, noch wohin sie ging.


Annika setzte sich zu ihr. Erstaunlich, wie sich Barbara jede Kleinigkeit, die Annika betraf und die sie ihr erzählt hatte, gemerkt hat. Als wären sie sich erst gestern in Berlin begegnet. Bei einer Tasse Kaffee trafen sie ihr Abkommen, das schließlich dazu führte, dass Annika heute hier ist. In diesem Hospital am Rande der Stadt von Montpellier in einem Zimmer, in dem ihr nahezu lebloser Körper ausgestreckt auf einem Bett liegt. Es ging um eine Geschichte. Ihre Geschichte. Die Geschichte ihrer Eltern. Annika recherchierte in den Archiven, um den Fall für ihre Dissertation zu verwenden. Barbara schrieb parallel an einem Roman. Von zwei verschiedenen Seiten näherten sie sich einem Thema. Annika beschritt den sachlichen Weg. Den Weg der Fakten und Daten. Immer auf der Suche nach Beweisen. Barbara beschritt den emotionalen Weg. Den Weg der Intuition und Inspiration. Auf der Suche nach der Wahrheit. Nach einer Wahrheit, die höher steht, als alle Zahlen, höher als der Verstand, der lediglich das gefrorene Abbild dieser Wahrheit zu sein scheint. In dem kleinen Anwesen am Meer in der Nähe von Montpellier geschah etwas, das größer und unfassbarer war, als die bloße Tatsache, dass zwei Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität an einer Dissertation und einem Roman zu einem Thema arbeiteten. Erfüllt von dem Geist der Wahrheit verließen sie alt bekannte Pfade, um einen neuen Weg einzuschlagen. Den Weg der Schöpfung. Doch einen neuen Weg zu betreten, birgt auch Gefahr. Die Gefahr sich zu verirren oder gar zu verlieren.


Wo bist du? pocht es Annika mehrfach durch den Kopf.


Die Frau, die alles und jeden unter Kontrolle hatte, liegt ausgestreckt auf einem Krankenbett, zugedeckt mit einer dünnen, weißen Decke. Regungslos. Technische Geräte kontrollieren die Funktionen des Körpers. Sie, die immer stark war, stark sein wollte, unabhängig, ist nun dem Wirken Anderer ausgeliefert. Selbst den letzten Moment ihres Lebens wollte sie steuern. Den Tod nicht dem Zufall überlassen.


Hatte Annika das Recht, diesen Schritt zu vereiteln? Warum ist sie gestern wieder umgekehrt?


Der Sommer war vorbei. Alles, was Annika für die Fertigstellung ihrer Dissertation benötigte, hatte sie recherchiert. Barbara indessen hatte ihren Roman soweit abgeschlossen, dass sie ihn ihrem Verlag zum Lektorat vorlegen konnte. Sie hatten ihr Übereinkommen erfüllt. Was zog Annika wieder zurück in dieses Haus am Meer unweit von Montpellier statt nach Deutschland in ihr gewohntes Leben? Was suchte sie hier? Oder hat sie es bereits gefunden?


In der Entspannung wirkt Barbaras Gesicht sanft. Selten hat Annika diese Zartheit sehen dürfen. Selten, aber oft genug, um das wahre Wesen dieser sonst beherrschten und durchsetzungsstarken Frau zu erahnen. Sie hat ihr erlaubt, hinter die Fassade zu schauen, und das ist es, was Annika immer wieder zu ihr führen wird.


Der Wind peitscht den Herbstregen gegen die Scheiben. Dicke grau-schwarze Wolken ziehen schnell in wechselnder Formation am Himmel entlang.


Wo bist du? fragt sich Annika wieder und wieder.


Nicht da, wo du mich suchst. Aber immer bei dir, kommt ihr plötzlich die Antwort in den Sinn.


Das Manuskript. Als sie Barbara gestern auffand, lag das Manuskript ausgedruckt und mit einer Notiz versehen auf dem Schreibtisch. Jean, der Verleger, sollte es erhalten, um es auf den Weg zur Veröffentlichung zu bringen. Annika hatte es in ihre Tasche gesteckt, um es ihm zu geben. Und dort ist es noch. Die Antworten auf ihre Fragen liegen in diesem Manuskript. Sie kennt zwar den groben Inhalt und einige Passagen, an denen sie mitgewirkt hat, aber das gesamte Werk hat sie nie lesen können. Nie lesen dürfen. Barbara gewährte ihr den Einblick, soweit sie ihn für nötig erachtete, aber das Ganze gab sie nicht preis. So, wie sie es auch mit sich und ihrem Inneren hält, so ist sie mit diesem Roman umgegangen.


Annika setzt sich in den Sessel in eine Ecke des Zimmers das Manuskript auf dem Schoß.


„Die Offenbarung des Schweigens“, steht in Fettdruck der Titel auf der ersten Seite. Sie blättert weiter und liest:


„Du lehrtest mich zu fliegen,


ich lehre dich zu verweilen.


Für Annika“


Für Annika, liest sie noch einmal.


Barbara hat ihr dieses Buch gewidmet. Ihr, einer unbedeutenden deutschen Historikerin. Einer Frau, die zufällig in ihrem Leben auftauchte und ihre Vergangenheit in die Gegenwart zerrte. Die dafür verantwortlich ist, dass Barbara hier liegt. Denn wären sie sich vor einem Jahr nicht am Holocaustmahnmal begegnet, würde Barbara jetzt wahrscheinlich an ihrem Schreibtisch sitzen und an einem Theaterstück oder trivialen Roman arbeiten. Sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sich das Leben zu nehmen.


„Du lehrtest mich zu fliegen.“


Fliegen. Barbara hasst nichts so sehr wie das Fliegen. Wenn sie Annika vom Flughafen in Montpellier abholte, war ihr die Erleichterung darüber anzusehen, dass Annika heil gelandet war. Im Sommer liebte Annika die Schwärme von Taubenschwänzchen, die sich auf den Oleanderbüschen vor der Terrasse in der Morgensonne niederließen. Hunderte müssen es gewesen sein, die lautlos durch die Luft flatterten. Ewig konnte Annika dabei zusehen, wie sie sich scheinbar frei jeglicher Ordnung bewegten. Voller Lebensfreude. Kurz ließen sie sich nieder, um nach einer Pause weiterzuziehen. Wie sie selbst. Annika blieb nie lange an einem Ort. Sie fühlte sich getrieben. Getrieben dazu, schnell weiterzugehen. So manches Mal war ihr nicht bewusst, wohin sie eigentlich ziehen sollte. Sie kannte weder Rast noch Ruhe.


„Ich lehre dich zu verweilen.“


Seit ihrer Begegnung hat Annikas Leben ein Ziel. Magisch fühlt sie sich von dem Anwesen am Meer in Südfrankreich angezogen. Nur zu gern nutzte sie die Möglichkeit, um ihrem unsteten Leben in Berlin zu entfliehen. In den alten Mauern aus Felssteinen, in dem mit Büchern und Papier überfrachteten Arbeitszimmer und in der Nähe von Barbara kam sie zu einer Ruhe, die sie bislang nicht kannte und doch suchte. War diese Ruhe, dieses Gefühl des Angekommenseins, das, was Annika in ihrem bisherigen Leben so rastlos trieb? War das das Ziel, das sie suchte und hier gefunden hat? Sie ist in Barbaras Leben eingedrungen. Hat in den Archiven ihre Vergangenheit aufgestöbert. Barbara ist ihr mit unbedingtem Vertrauen begegnet. Sie hat Annika nicht nur in ihr Haus, sondern auch in ihre Seele gelassen. Wie ein Dieb fühlt Annika sich. Ein Dieb, der mit seiner Beute im Gepäck davonläuft, um das fremde Gut für sich zu verwenden.


„Ich lehre dich zu verweilen.“


Deshalb ist sie gestern wieder umgekehrt. Sie ist umgekehrt, um zu verweilen. Zu verweilen, um sich ihrerseits Barbara zu öffnen. Ihr Einblick in ihre Seele zu gewähren. Während der ganzen Zeit ihrer Arbeit ging es um Barbara und ihre Vergangenheit. Selten stellte Barbara eine Frage, die Annika betraf. Was weiß sie von Annika? Sicher – ein paar äußere Informationen. Dass sie zum Beispiel 33 Jahre alt ist, in Berlin lebt, Geschichte studiert hat, eine Promotion über den Holocaust in Europa schreibt und sich mit Stadtführungen ein wenig hinzuverdient. Sofern es jedoch um ihr Inneres ging, war sie geschickt genug darin, Barbara auszuweichen. Barbara hatte sich dem Blick in den Spiegel gestellt. Wird Annika ihr dieses Vertrauen ebenso entgegenbringen können? Das Vertrauen, dass sie den Spiegel hält und Annika sich darin erkennen kann? Sich darin erkennen. Vollkommen. Ungeschminkt. Direkt. So wie sie tatsächlich ist, um sich nicht mehr davon zu stehlen. Davon zu stehlen von sich selbst.


Vielleicht hat Barbara genau das gestern getan. Sie hat sich nicht davon gestohlen. Sie ist in den Schmerz hineingegangen. Sie hat sich ihm gestellt. Tief ist sie hineingegangen, um ihm zu begegnen.


Manchmal ist es gut, zu fliegen. Manchmal ist es wichtig, zu verweilen.


Ja, lehre mich zu verweilen, beschließt Annika und schaut dabei lange auf die geschlossenen Augen Barbaras ehe sie das Manuskript aufschlägt, um darin weiter zu lesen.


 


Für den Inhalt dieser Seite ist der jeweilige Inserent verantwortlich! Missbrauch melden



© 2008 - 2025 suchbuch.de - Leseproben online kostenlos!


ExecutionTime: 1 secs