Geschwungen ist die Linie, die das Hellgrau vom Schwarzgrau in der Mitte des Bildes voneinander trennt. Geschwungen, um die Konturen des Verkörperten nachzu- zeichnen. Geschwungen, um zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt zu tönen. Geschwungen, um in die Ewigkeit zu singen. Die Luft um Marion herum vibriert, als sie mit dem Finger den Rand ihres Weinglases nachfährt und versunken die Fotografie betrachtet. „Ist das ein ‚a‘ “, überlegt sie laut. „Nein, eher ein ‚g‘ oder vielmehr noch ein ‚f ‘. Ja, das muss es sein: ein ‚f ‘. Dein Körper ist ein ‚f‘.“ „Mein Körper?“ blickt Annika sie verdutzt von der Seite an. „Ja, dein Körper. Denn das bist doch wohl du, oder nicht? Kann mir nicht vorstellen, dass Barbara von anderen Frauen so beeindruckende Akt-Fotografien gemacht hätte“, zwinkert sie Annika zu. „Du entblößt auch alles“, gibt Annika zu. „Nein, Süße, das hast du getan. Ich ... na ja, ... auch ... früher einmal, um mir Geld damit zu verdienen ... und aus Spaß.“ „Du?“ „Ja, das gehörte fast schon zum guten Ton, Aktmodel zu sein, wenn frau eine halbwegs vernünftige Figur hatte.“ „Gibt’s davon noch Beweise?“ Marion tut verlegen. „Komm schon!“, stichelt Annika.
„Wenn ich ein Glas Wein mehr getrunken hab ... und du auch“, willigt Marion ein. „Bon, also nachher“, beschließt Annika und nimmt dem Servierkellner kurzerhand zwei Schoppen Bordeaux vom Tablett. „A santé!“ Lachend stoßen sie miteinander an. „Du meinst, mein Körper klingt wie ein ‚f ‘?“, fragt Annika nach. „Wie kommst du darauf?“ „Die Linie“, zuckt Marion mit den Schultern. „Wenn man mit einem Tonabnehmer darüber fährt, würde sie klingen. Schau, sie schwingt!“ Mit der flachen Hand streicht sie den Umriss von Annikas nacktem Körper in der Luft nach, wie Barbara damals, als dieses Foto in ihrem Schlafzimmer entstand. Es war der letzte Tag im September. Ihre erste Nacht im vollständig eingerichteten Haus in Cascais. Durch den schwül-warmen Äther wehte die raue Stimme Gilbert Becauds, der das Ende des Sommers und den bron- zefarbenen Abendhimmel über dem weißen Sandstrand besang. Zu heiß war es Annika, die sich nackt auf das Bett gewor- fen hatte, um sich auch nur mit einem Laken zuzudecken. Barbara tastete mit ihrer weichen und doch kräftigen Hand ihren Körper ab und sagte: „Ich will ihn mir einprägen. Jeden Zentimeter. Jede seiner Landschaften. Die langgezogene Ebene deines Rückens mit der fingerbreiten Furche deiner Wirbelsäule, über die bei- den Rundungen deines Pos, die zu den beiden Wellen dei- ner Oberschenkel übergehen, durch die Senken deiner
Knie, die nächsten Wellen deiner Unterschenkel nehmen, um zu den schlanken Fesseln und schmalen Füßen zu ge- langen. Ich will ihn mir einprägen, um sie nie zu verges- sen: die Landschaft, die deine Seele prägte.“ Sie griff zur Kamera und drückte auf den Auslöser. Foto um Foto entstand in dieser Nacht. Unter den streichelnden Blicken Barbaras durch das Objektiv wand und wandelte sich Annika zwischen den Laken auf ihrem Bett. Lustvoll gab sie sich ihr hin, bis sie ihr die Kamera entriss und sie auf das Bett zog, um beider Landschaften miteinander zu vereinen. „Das muss ein Rausch gewesen sein“, reißt Marion Annika aus ihrer Erinnerung. „Das war es. Alles. Jede einzelne Begegnung. Ein Rausch“, sagt Annika leise. C’est en Septembre‘“, singt Jean und umarmt Annika von hinten dabei. „Hach, Melancholie pur. Der Sommer geht, der Herbst kommt. Die Liebe geht, die Einsamkeit kommt. Et voilà, nicht mehr bei mir. Wunderschöner Akt von dir, Ka! Wär’ ich ein paar Jahre jünger, nicht vergeben und würde ich nicht die behaarte Brust bevorzugen, hm, ja, da könnte ich sicher schwach werden, bei diesem Anblick.“ „Charmeur“, bufft ihn Annika mit dem Ellbogen in den Bauch. „Spaß beiseite“, wird er wieder ernst. „Die Gäste sind voll- zählig. Wenn du soweit bist, können wir mit der Lesung anfangen.“ Er lässt sie wieder los und schlendert mit einem eleganten Hüftschwung in den Saal zurück.
‚C’est en Septembre‘, denkt Annika. September. Schon wieder ist es September. Ursprünglich der siebte Monat im Jahr, deshalb abgeleitet von Septime. Eigentlich ein Neu- beginn. Denn vielerorts starten nach der Zäsur durch die Sommerpause die Lehrbetriebe in ein neues Schuljahr oder Semester, die Theater und Opernhäuser in eine neue Spiel- zeit und so manch einer in eine neue Lebensphase. Zumin- dest ist es bei ihr so. Denn im September 2006 hat sie Bar- bara kennengelernt. Im September 2007 probierte Barba- ra, sich das Leben zu nehmen, und Annika beschloss, mit ihr zusammenzuleben. Im September 2008 verließen sie Südfrankreich und zogen an die Küste Portugals. Im Sep- tember 2009 ist Barbara tot und Annika versucht, allein in Berlin über ihren Tod hinwegzukommen. Und im Septem- ber 2010 steht sie nun in Paris in einer Galerie, in der Barbaras Fotos ausgestellt werden und Annika sogleich ihren Debütroman vorstellen wird. Fünfmal der siebte Mo- nat. Fünfmal Veränderung. Fünfmal Neubeginn. Was wird heute neu beginnen?, fragt sie sich und lässt da- bei, hinter einem Pfeiler gut versteckt, ihren Blick über die Gesichter der im Raum versammelten Menschen streifen. Menschen, die gekommen sind, um ihr zuzuhören. Men- schen, die Barbaras Fotografien betrachten wollen. Men- schen, die sich für sie und ihre Geschichte geöffnet haben. Erwartungsvoll sind ihre Augen und Sinne auf den leeren Stuhl auf dem Podest, das Jean eigens für diesen Abend aufstellen und dekorieren lassen hat, gerichtet. Ruhe ist eingezogen. Hier ein Räuspern. Da ein Rascheln. Draußen ein Rauschen. Dann das Klacken von Annikas Absätzen auf dem grauen Steinboden. Das Knarzen des Stuhls, auf den sie sich setzt.
Das Knacken der Mappe, in der der Text für den heutigen Abend abgelegt ist. „DAS LEUCHTEN DES LABRADORITS“, schwingt der Titel ihres Buches in den Äther dieses Abends, wird von ihm weitergetragen, trifft auf das Trommelfell der Zuhö- renden, dringt in ihr Gehirn und von dort ... Ja, wohin dringen ihre Worte vor? In den Verstand? In das Herz? In den Geist? In die Seele? Oder werden sie aufge- halten? Prallen sie ab von den unsichtbaren Wänden des Zweifels vor dem Verstand? Stoßen sie auf den fühlbaren Widerstand vor dem Herzen? Wird ihnen so der Zugang zu Geist und Seele verwehrt? Ihr Weg liegt nicht in Annikas Hand. Sie hat diese Worte geschrieben mit der Kraft ihres Verstandes, ihres Herzens, ihres Geistes und ihrer Seele. Sie liest sie mit eben dieser Kraft aus ihrem Verstand, aus ihrem Herzen, aus ihrem Geist und aus ihrer Seele. Denn sie hat diese vier Kräfte vereint unter einer Kraft. Der fünften Kraft. Der Kraft der Liebe. Und aus eben dieser Kraft hat sie geschrieben. Und aus eben dieser Kraft liest sie. Diese Kraft schwingt im Raum. Sie führt die Linien in Barbaras Fotografien weiter. Aufgenommen hat sie ihren Schwung, resonierend durch- bricht sie ihre Umrahmungen und setzt sie fort. Zu Worten geformt hat sie ihre Intention und damit neuerlich in Grenzen gezwungen, die wiederum durchbrochen werden mithilfe ihrer Stimme, die sie über die Begrenzungen hin- wegträgt, um sich fortzusetzen. Doch fortzusetzen in wem? Wer wird mit ihrem Klang in Resonanz gehen? Wer wird sie in seine Grenzen zwingen wollen? Und wie werden die- se Begrenzungen wiederholt durchbrochen? Was stoßen sie
an an diesem Septemberabend im Jahr 2010 in einer Gale- rie im Quartier Latin in Paris? Der Applaus wallt zaghaft auf, entwickelt sich zu einem Brausen, schallt durch den Saal, bricht sich an den Säulen und hallt von den Wänden wider, nachdem der letzte Ton von BOTH SIDES NOW verklang und die Sängerin vom Mikrophon zurücktrat. Vom Licht der Scheinwerfer geblendet sucht Annika einen Halt in diesem schwarzen Meer von Gesichtern und findet ihn an eine Säule gelehnt am gegenübergelegenen Ende des Raumes. Ein Augenpaar, das unablässig auf sie gerich- tet ist. Verschränkte Arme vor der Brust. Ein Blitz, der die Finsternis zerfetzt. Ein Fotoapparat, der den Moment bannt. „Wow, war das geil!“, stürzt Jean enthusiastisch auf Anni- ka zu und drückt sie fest an seine verschwitzte Brust. „Wenn das kein Auftakt ist! Der Verkauf wird durch die Decke geh’n. Jetzt bist du berühmt.“ Noch benommen von dem gesamten Geschehen reagiert Annika knapp mit einem: „Merci, Jean!“ Händeschütteln, Umarmungen und unzählige „Cordiale- ments“ als Signatur in ihrem Buch. Als mitten in der Nacht Jean hinter dem letzten ihrer Gäste die Tür zur Ga- lerie abschließt, fällt Annika erschöpft in einen der roten Sitzsäcke und möchte am liebsten sofort einschlafen. „Na, Ka“, nähert sich Jean ihr. „War ein Rausch, nicht? Soll ich dir ein Taxi bestellen?“ „Nicht nötig“, sagt Marion. „Ich sack sie mir ein.“ „Ich dachte ...“, ist Jean bezüglich ihrer Erscheinung über- rascht.
„... ich würde ohne sie gehen? Kommt gar nicht in Frage“, protestiert Marion und streicht sich dabei ihren knöchel- langen, knallbunten Rock glatt. Offensichtlich kam sie gerade von der Toilette. „Bon, dann ist das geregelt. Wir sehen uns am Montag am Flughafen, Ka.“ „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, gähnt Annika. „Was???“, echauffiert sich Jean künstlich. „Du MUSST!“ „Gar nichts“, bietet Annika ihm Paroli. „Das fängt ja gut an. Machst du mir jetzt die Benoit?“ „Warum nicht? Ein bisschen Diva sein ...“, reizt Annika ihn weiter. Marion unterdrückt sich ein Lachen in Anbetracht dieser Szenerie und zieht sich vor einem Handspiegel die Lippen rot nach. „Wie wär’s, wenn du mir mal aus diesem Sack hier hoch- hilfst? Dann kann ich nämlich mit Marion in mein Bett gehen, mich ausschlafen und vielleicht am Montag am Flughafen sein.“ „Merde, Ka, gewöhn dir das ja nicht an“, lacht Jean er- leichtert und reicht ihr eine Hand, an der sie sich hoch- zieht. „Dreißig, vierzig Jahre lang immer wieder dieses Spiel.“ „Ein Spiel. Du sagst es selbst. Hast du es nie begriffen?“ „Was?“ „Es war ein Spiel zwischen euch. Barbara liebte es, dich zu provozieren. Und du hast dich provozieren lassen. Du hast dich förmlich dazu angeboten. Dabei hättest du das Spiel jederzeit beenden können und weniger Stress gehabt. Weißt du, mein Lieber: Du hast es mitgespielt. Und weißt
du noch etwas: Du wolltest es so“, tippt sie ihm mit ihrem spitzen Zeigefinger auf die Brust. „Frauen“, sagt er und atmet tief aus. „Ich werde euch nie verstehen.“ „Musst du auch nicht“, mischt sich Marion ein. „Dafür ver- stehst du für uns die Männer. Die verstehen wir nämlich nicht.“ „Bis Montag!“, umarmt ihn Annika. „Merci! Merci für alles! Es war ein phantastischer Abend.“ Jean drückt sie fest an sich und hält sie lange in seinen Armen. „Nicht dafür“, flüstert er. „Ich hab sie auch geliebt. Auf meine Weise.“ „Oui“, bestätigt ihm Annika und küsst seine Wange. „Bon- ne nuit!“ Dann verlässt sie im Schlepptau von Marion den Ort ihrer ersten Lesung ihres Lebens, während Jean hinter ihnen das Licht löscht. *** „Einen Milchkaffee, einen Orangensaft und ein Croissant mit Butter und Marmelade bitte“, bestellt Annika bei Ma- dame Chatel. „Oui, Madame, Petit Dejeuner“, bestätigt sie die Aufnahme ihrer Bestellung und wischt den silbernen Blechtisch vor Annika mit einem nassen Lappen ab. Madame Chatel weiß nicht, dass Annika ihren Namen kennt. Und Madame Chatel kennt Annikas Namen nicht. Sie kann sich mit Sicherheit nicht an den Dezembermorgen 2006 erinnern, an dem Annika ihre kleine Bäckerei im 2.
Arrondissement betrat, um Croissants zu kaufen. Auch wird sie sich nicht daran erinnern, dass Barbara Benoit eben an diesem Morgen eben an diesem Tisch saß, die Zei- tungen studierte, einen Kaffee, einen Orangensaft und ein Baguette mit Butter und Marmelade bestrichen zu sich nahm und Annika zum Kaffee einlud. Ebenso wenig wird sie eine Ahnung davon haben, was diese Wiederbegegnung in ihrem Café mit ihrem Kaffee in beiden Frauen auslöste. Sie sieht sich als Servicekraft, die den Menschen einen Moment des Genusses verschafft, für den sie bezahlt wird. Jedoch bedient sie nicht nur das schnöde Bedürfnis einer Sinnesbefriedigung. Jede ihrer Handlungen führt sie ge- schickt und mit Liebe zum Detail und zu ihrer Kundschaft aus. Für ein herzerwärmendes Lächeln hat sie immer Zeit. So auch zu Annika bevor sie mit dem Lappen in der Hand zum Tresen zurückgeht, um dort die Bestellung zu bearbei- ten. Menschen kehren zu den Orten zurück, an denen sie etwas Besonderes erlebten oder an denen sich etwas Bewegendes ereignete. Das hatte Annika einmal irgendwo gelesen und nun fällt es ihr wieder ein. Vielleicht ist sie deshalb heute hierhin spaziert als die ers- ten matten Sonnenstrahlen des Herbstmorgens über die Dächer von Paris krochen. Marion hatte ihr zwar gesagt, wo sie ihr Frühstück in der Küche findet, bevor sie zu ih- rem Termin aufgebrochen ist, aber Annika hatte keine Lust, allein in ihrer Wohnung zu sitzen. Nicht nach dem gestrigen Premierenabend und den vielen Begegnungen und Ereignissen. „Et voilà, petit dejeuner, Madame“, sagt Madame Chatel und baut vor ihr das Frühstück auf. „Et bon appetit!“
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Rezension zu dem Roman ″ Das Hohelied der Steine ″ von Peggy Langhans
Gibt es ein Leben nach dem Tod und eine Wiedergeburt? Können verstorbene Menschen Kontakt mit uns aufnehmen und wir mit ihnen? Die Autorin versucht in ihrem letzten Band der Romanreihe ″Die Seele der Steine ″, uns diese Fragen durch die Geschichte einer großen Liebe näher zu bringen. So begleiten wir die deutsche Historikerin Annika Strehlow in ″Das Hohelied der Steine ″ auf einer Lesereise durch Frankreich, wo sie ihren ersten Roman erfolgreich vorstellt. Sie lebt jetzt in einem kleinen Fischerdorf an der Atlantikküste Portugals. Angeregt durch den Gedankenaustausch mit guten Freunden beschäftigt sie sich mit der Literatur abendländischer Spiritualität sowie der anthroposophischen Philosophie Sie begibt sich damit bewußt auf einen spirituellen Erkenntnisweg, welcher ihr hilft, den plötzlichen Tod ihrer großen Liebe Barbara zu verarbeiten, einige Begebenheiten des Alltags anders einzuordnen und die Hoffnung auf eine Begegnung mit Barbara zu bestärken. Wie das von der Autorin beschrieben wird, ist für mich durch die sprachliche Vielfalt und Tiefgründigkeit überzeugend gelungen. Die vom Leser erwartete Begegnung geschieht in einer für mich außergewöhnlichen, von der Autorin gut vorbereiteten, sensiblen Weise. Sie wird nicht spektakulär beschrieben, sondern geschieht tief berührend , liebevoll, glaubhaft und hoffnungsvoll. Auch wenn die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Denkweisen in diesem Roman eine schwere Kost für mich waren, konnten sie mich doch bereichern und neugierig auf eine weitere Beschäftigung mit dieser Thematik machen. Das ist aber auch der flüssigen, emphatischen Schreibweise und den vielen, begleitenden, feinsinnigen Beobachtungen der Autorin zu danken. So wird das ″Das Hohelied der Steine ″von Peggy Langhans ein kleiner, sinnvoller Beitrag zum derzeitigen, unvoreingenommenen Forschungsinteresse einiger Wissenschaftler an den übersinnlichen Erfahrungen vieler Menschen und die gesamte fünfbändige Buchreihe zu einer Bereicherung der anthroposophischen Belletristik. Ich wünsche diesem Roman viele Leser, die sich gerne auf eine spirituelle Reise begeben.
Max Güldenpenning 10.01.2022
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