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Buch Leseprobe Kölsche Jonge, Ruth Bader
Ruth Bader

Kölsche Jonge


Spuren einer jüdischen Familie

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Vorwort


Als junges Mädchen war mir fast nichts über die Kindheit meines Vaters Adi bekannt. Dennoch glaubte ich zu wissen, dass mein stets so humorvoller Vater kein glücklicher Mensch war und dass die Quelle seines Unglücklichseins in seiner Kindheit entsprang. Im Schlafzimmer meiner Eltern betrachtete ich als Kind oft drei Fotos, die dort eingerahmt an der Wand hingen. Schon früh glaubte ich zu wissen, dass dies traurige Fotos waren. Das eine Foto zeigte drei Kinder und ihre Eltern. Fein herausgeputzt und im Studio eines Fotografen für die Aufnahme posierend blickten sie freundlich und zugleich ernst in die Kameralinse. Das andere Foto war eine Portraitaufnahme, ebenfalls in einem Fotoatelier entstanden. Auf diesem lächelte mich sanft eine bäuerlich wirkende Frau mittleren Alters an. Das dritte Foto zeigte, so meinte ich, dieselbe Frau auf einem Schemel auf einer Weide sitzend beim Melken einer Kuh. Ich glaubte zu wissen, dass es sich bei den Leuten auf dem ersten Foto um die Eltern meines Vaters sowie ihn und seine Brüder handelte, dass außer ihm niemand mehr lebte und dass sie schon vor langer Zeit gestorben waren. Ich glaubte auch zu wissen, dass es sich bei der netten Frau auf dem zweiten und dritten Foto um eine andere Mutter handelte, die mein Vater gehabt hatte, und dass ihr Name für mich lustig klang, ganz wie der Laut, den die Kuh auf dem Foto gewiss von sich gab: »Muh«. [...]


Adi


Ich dachte eigentlich, ich wäre im Herbst 1938, als ich etwa sechseinhalb Jahre alt war, mit einem Frachtschiff von Duisburg nach Ant­werpen geschmuggelt worden. Aber es war wohl, wie ich heute weiß, ein Jahr später. Ich wurde damals von einer Frau Fuchs, einer deutschen Jüdin, begleitet, die ich ansonsten nicht kannte und auch später nie wieder sah. Den Abend vor der Abreise verbrachten wir in einem Hotelzimmer in Duisburg. Gegen Mitternacht weckte mein Vater uns und brachte uns zu einem Schiff, das am Rhein angelegt hatte. Am Kai gab mein Vater mir noch mit auf den Weg, dass ich mit dem Flämischen in Belgien keine Probleme haben würde. Denn es klänge, so sagte er, ganz wie Kölsch Platt. Ich sollte einfach auf Platt reden, und die Belgier würden mich schon verstehen. Um auf das Schiff zu gelangen, musste ich vom Kai über eine Planke laufen, wovor ich große Angst hatte. Es war für mich schrecklich, als ich mich von meinem Vater verabschieden musste, und ich weinte sehr. Für mich begann in diesem Moment das Empfinden, meinen Eltern entrissen worden zu sein. Ich fühlte mich von nun an wie ein Waisenkind. Auf der Schiffsreise gab der Kapitän mich als seinen Sohn aus. Frau Fuchs blieb während der gesamten Fahrt in einer Kajüte, wo sie sich im Bettkasten versteckte. Morgens machte das Schiff in Emmerich Halt, der letzten deutschen Anlegemöglichkeit vor Belgien. Dort nahm mich der Kapitän mit an Land, und wir gingen zu einer Metzgerei, während der Zoll den Frachter inspizierte. [...]


Menasche


Noch bevor der Krieg zuende war, hatte ich damit begonnen, an das Rote Kreuz zu schreiben, um herauszufinden, was mit meinen Eltern und Brüdern geschehen war. Nach dem Krieg, zur Mandatszeit, hörte man hier zwölf Stunden am Tag Radio. Es gab zwei besondere Arten von Sendungen. Eine Art war »Wir suchen…«. In der Sendung ging es um Leute, die nach Verwandten in Europa suchten. In der anderen wurden Listen von Leuten vorgelesen, die im Ausland überlebt hatten und in Palästina ihre Verwandten suchten. Dann kam eines Tages Tante Frimets Tochter Dora zu mir, als ich noch im Jugendheim war. Sie sagte: »Menasche, ich hab’ im Radio gehört, man sucht dich in Ramat Gan, weil man jemanden in Belgien gefunden hat.« Ich hatte damals kein Geld für eine Busfahrt, und so lief ich zu Fuß die zehn, elf Kilometer nach Ramat Gan, um heraus­zufinden, ob es sich bei diesem Jungen um einen meiner Brüder handelte. In Ramat Gan traf ich auf einen Piloten der amerikanischen Armee, der Israeli war und der sich freiwillig gemeldet hatte, als der Krieg ausbrach. Dann kam er nach Belgien. »Und da besuchte ich ein Waisenhaus«, sagte er mir, »und ein Junge sagte zu mir, er hätte einen Bruder in Israel, aber die Adresse wüsste er nicht.« So fand ich Adi wieder. [...]


Brief von Deutschland nach Palästina, 1938


Es ist mir ein Trost jedes Mal zu lesen, dass Euer Kibbuz geschützt liegt. Unser Radio haben wir abbestellt (der Kosten wegen). Daher wissen wir nicht alles so. Fritz kauft schon mal ab u. zu die Zeitung, dann lesen wir alles mit Spannung. Von der Tante hatten wir vor 14 Tagen einen kurzen Brief, worin sie uns tröstet. Wir sollen nicht verzweifeln, u. sie laufen wegen uns Tag u. Nacht, dann weiter, sie hätten schon vor Monaten zum Konsul geschrieben, warum wir abgewiesen worden sind, aber noch immer haben sie keine Antwort. Wir wären nicht die Einzigen, die darauf warten müssen, u. hofft die Tante, dass wir uns bestimmt sehen würden. Also dieselbe Leier. [...]


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