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Belletristik
Buch Leseprobe MY IRISH CHRISTMAS DATE, Josie Charles
Josie Charles

MY IRISH CHRISTMAS DATE


Weihnachtsnovelle

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Prolog


New York City, 30. November


Lynnie


»Achtung! Vorsicht! Santa im Anmarsch! Lasst bitte Santa vorbei!«
Ich mache einen Schritt nach vorn und dränge mich gegen die Kante der Edelstahl-Arbeitsfläche, an der ich gerade Marzipanrosen auf einer Torte verteile. Emma und Jacob, zwei meiner Arbeitskollegen, tragen eine riesige, mit Watte ausgestopfte Weihnachtsmannfigur vor sich her, die ab heute wie jedes Jahr den Verkaufsraum zieren soll. Der Weihnachtsmann hält eine Torte in den Händen, auf der in großen goldgelben Buchstaben MERRY X-MAS steht.
Als Em und Jake ihn an mir vorbei wuchten, rempeln sie mich mit Santas Ellbogen an.
»Vorsicht, Santa«, lache ich. »Ich kann Roger unmöglich sagen, dass ich zu spät zum Abschiedsessen komme, weil ich alles noch mal machen muss!«
Jake und Em halten inne und drehen sich mit Santa zu mir um, sodass mich mit einem Mal alle drei überrascht ansehen.
»Echt? Ist es schon so weit?«, fragt Emma, die ihr blondes Haar unter einem roten Bandana verborgen hat.
»Kaum zu glauben, oder? Heute haben wir beide unseren letzten Arbeitstag, morgen holt ein Umzugsunternehmen unsere Sachen ab und übermorgen geht der Flieger, also ...« Ich kann nicht anders, als breit zu lächeln. »Ja, es ist so weit. Neues Leben, wir kommen.«
»Oh mein Gottdas finde ich so mutig von dir!« Jake überblickt die Konditoren, die gerade bei der Arbeit sind. Norah’s Cakes, mein Noch-Arbeitgeber, ist die größte Bäckerei von ganz New York. Wir stellen vorwiegend Torten und Cupcakes für Geburtstage, Hochzeiten und jeden anderen Anlass her, und das im Akkord. Leer ist es hier nie und so blicken etwa dreißig Augenpaare zu Jake, als er einen Trichter vor dem Mund formt und ruft: »Leute, Lynnie verlässt uns heute! Dieses verrückte Huhn zieht mit ihrem Freund ans andere Ende der Welt – nach Irland! Was sagen wir dazu?«
»Das andere Ende der Welt wäre technisch gesehen eher Australien«, raunt mir Emma zu, während unsere Kollegen für mich jubeln und applaudieren.
»Ja. Ich weiß«, raune ich zurück, aber Jake ist das völlig egal.
Er ist ständig total überdreht und sagt von sich selbst, das läge daran, dass sein Vater aus New York und seine Mutter aus Tokio käme – eine explosive Mischung, wie er meint. Die beiden werden mir fehlen, auch wenn sie keine engen Freunde von mir sind. Wir haben uns immer nur auf der Arbeit gesehen, aber da ich hier eine Menge Zeit verbracht habe, fühlen sie sich fast wie Freunde an.
Unter dem Applaus unserer übrigen Kollegen drücke ich die beiden zum Abschied, dann verpacke ich meine letzte Torte – und das war’s.
Eine halbe Stunde später verlasse ich zum letzten Mal die Bäckerei, die sich mitten in Manhattan, gleich an der Ecke 53 Street und Lexington Ave befindet. Ich trete raus in die New Yorker Winterkälte, ziehe mir das Haarnetz vom Kopf und rufe dem Weihnachtsmann, der inzwischen seinen Platz vor der Tür bezogen hat, ein »Mach’s gut, Santa« zu.
Dann verschwinde ich in der Menschenmenge, die sich durch die Straßen meiner Heimatstadt schiebt. Die Weihnachtszeit hat den Big Apple schon mit voller Wucht getroffen. Touristen sind zum Christmas Shopping angereist und die Einheimischen versuchen, schnell die besten Geschenke zu ergattern, bevor alles leergekauft ist. Es ist klirrend kalt, der erste Schnee hängt schon wartend in den Wolken zwischen den Hochhäusern und an jeder Ecke hört man Paare über die Feiertagsplanung streiten.
Ich verschwinde die U-Bahn-Stufen hinunter und es wird etwas leiser, aber dafür riecht die Luft jetzt nach kaltem Rauch. Ein paar Tauben haben sich in die Katakomben der Subway verirrt und ich muss einen Slalom um sie herum laufen, wobei ich feststelle, dass ich sowieso schon spät dran bin. Ich beschleunige meine Schritte, denn ich will das Dessert zubereiten, damit es noch ein wenig kaltstehen kann, bevor Roger und ich es unseren Freunden Paige und Sam servieren.
Ein letztes gemeinsames Essen ... Ich kann mir noch so oft vor Augen halten, dass wir bald ein neues Leben beginnen – glauben kann ich es trotzdem nicht richtig.
Eigentlich hatte ich nicht vor, New York je zu verlassen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich funktioniere im viel zu schnellen, lauten Rhythmus dieser Stadt. Aber Roger, der an der Wall Street arbeitet, träumt schon seit einer Weile von einem ruhigeren Leben, und irgendwie hat er sich dabei auf Irland eingeschossen, das Land, aus dem sein Urgroßvater einst rüber nach Amerika kam.
Roger stellt sich vor, dass wir dort beide Jobs finden, die uns nicht mehr ganz so sehr beanspruchen, dass wir mehr Zeit für uns haben, eine Familie gründen, einen Hund kaufen, ein Haus renovieren ...
Dass wir eben all die Pläne verwirklichen, für die ein waschechter New Yorker einem nur einen Vogel zeigen würde. Zuerst fand auch ich Rogers Plan verrückt, aber dann habe ich beschlossen, mich mitreißen zu lassen. Denn für mich klingt ein Umzug in ein Land, in dem ich noch nie war, wie ein Abenteuer – und Abenteuer habe ich schon immer geliebt.
Also fahre ich mit Herzklopfen und einem breiten Lächeln auf den Lippen mit der übervollen Bahn nach Queens, wo wir nur noch zwei Nächte vor uns haben, bevor es losgeht – in die Alte Welt.
Auf die Grüne Insel.
Ich greife nach einer der Haltestangen, während die Subway vor sich hin rattert und male mir dabei schon aus, wie es sein wird, zum ersten Mal irischen Boden zu betreten ...


 


Lynnie


 


Als ich nach Hause komme, erwarte ich den Duft von Truthahn. Zwar ist Thanksgiving schon vorbei, aber Roger hat angekündigt, heute zur Feier des Tages noch mal einen zuzubereiten. Oder, besser gesagt, ihn von seiner Mutter vorbereiten zu lassen, die nur ein paar Häuser entfernt wohnt, um ihn dann bei uns im Ofen fertig zu garen.
Ich schließe die Tür hinter mir, atme tief ein und rieche ...
Nichts.
Also ist der Truthahn wohl noch nicht im Ofen. Merkwürdig.
Ich sehe auf die Uhr meines Handys und bin irritiert, denn eigentlich sollten unsere Gäste schon in einer Stunde kommen.
»Rodge? Ich bin zu Hause!«, rufe ich und streife meine Boots von den Füßen.
»Bin oben!« Seine Stimme klingt überraschend entspannt dafür, dass er mit dem Essen offenbar hinterherhinkt. Dabei hasst Roger nichts so sehr wie Unpünktlichkeit.
Ich eile hoch und frage dabei: »Was ist mit dem Truthahn? Soll ich ihn schnell anstellen?«
Es ist zwar kein Geheimnis, dass ich eine super Bäckerin, aber eine miese Köchin bin – doch an ein paar Knöpfen werde ich schon noch drehen können.
In Rogers Büro brennt Licht, also trete ich ein ...
Und wundere mich gleich noch mehr.
Roger, noch in dem steifen Hemd, das er anhatte, als er heute Morgen zur Arbeit gefahren ist, steht über einen Karton gebeugt in der Mitte des Zimmers. Er ist gerade dabei, ihn wieder auszupacken. Warum? Braucht er etwas aus der Kiste oder hat er sich entschieden, nichts von seiner alten Arbeit mit nach Irland zu nehmen?
Fast ertappt richtet er sich auf, wobei er mit den Armen ein paar Aktenordner umklammert, als hätte ich ihn mit einer heimlichen Geliebten erwischt.
»Schatz«, sagt er. »Du bist spät dran. Eigentlich wollte ich vorher mit dir reden, aber ...«
»Vor was?«
»Bevor ich das Essen absage«, erwidert Roger und tritt von einem Fuß auf den anderen. Sogar seine polierten Schuhe hat er noch an, als wäre er auf dem Sprung.
Ich runzle die Stirn. Laut meiner Mom soll ich mir das abgewöhnen, wenn ich nicht vorzeitig Falten kriegen will, doch wenn mich etwas völlig verwirrt, kann ich einfach nicht anders. »Du hast das Essen abgesagt?«
Das erklärt den fehlenden Truthahnduft.
»Ja, und nicht nur das, auch ...« Roger blickt auf seine Fußspitzen. »Ich habe auch dem Umzugsunternehmen abgesagt.«
Er hat was?
Mein erster Reflex ist, ihn zu fragen, wie unsere Sachen denn jetzt nach Irland kommen sollen. Doch bevor ich die Worte aussprechen kann, wird dieser Gedanke in meinem Kopf schon von einem weiteren überschrieben.
Roger packt gerade aus, nicht ein. Das kann eigentlich nur eines bedeuten.
»Du ziehst den Schwanz ein«, sage ich tonlos.
Er strafft die Schultern. »Davon kann keine Rede sein! Vielmehr habe ich ...« Roger räuspert sich und richtet seine Füße gerade an der Kante einer Bodendiele aus – ein Spleen, der immer auftritt, wenn er sich unwohl fühlt. »Ich habe mich umorientiert. Uns umorientiert.« Er zwingt sich, mir in die Augen zu blicken. Sein Gesichtsausdruck passt nicht zu seiner Stimme, zu dem wichtigtuerischen Tonfall, den er aufgesetzt hat. »Mein Vorgesetzter hat mich heute abgefangen, praktisch in letzter Minute, und mir einen neuen Arbeitsvertrag vor die Nase geknallt. Eine spontane Beförderung. Beinahe das doppelte Gehalt. Jährliche Prämie. Dienstwagen. Eckbüro. Da konnte ich nicht nein sagen, Lynnie.«
Ich starre ihn an. Seine feinen Gesichtszüge, das kurze lockige Haar. Ich kenne Roger jetzt seit fast sechs Jahren, aber in diesem Augenblick kommt er mir wie ein Fremder vor.
»Eckbüro?«, wiederhole ich stumpf.
»Ja, mit einem Blick auf die Fifth Avenue und ...« Er macht eine ausladende Armbewegung. »Ich weiß, wir hatten andere Pläne, nur ...«
»Nur willst du lieber auf die Fifth Avenue gucken.« Ich lache fassungslos auf. »Ist dir eigentlich klar, dass ich hier alles aufgegeben habe? Ich habe meinen Job gekündigt, ich ...«
Er lächelt verschmitzt. »Macht doch nichts. Ich verdiene ab jetzt richtig gut. Du könntest zu Hause bleiben. Wir wollten doch sowieso bald mal über Nachwuchs nachdenken und ...«
»Woh.« Ich hebe beide Hände, als könnte ich die Zukunftsvorstellung, die er gerade aufbaut, damit von mir schieben. »Jetzt noch mal langsam, nur damit ich mitkomme! Wir planen gemeinsam ein neues Leben, monatelang, und dann ... entscheidest du einfach über meinen Kopf hinweg, dass wir hierbleiben? Und ich nicht mehr arbeite? Und Kinder kriege?«
»Doppeltes Gehalt«, echot er.
»Ja, selbst wenn!« Ich hebe die Arme und lasse sie gleich wieder fallen. »Du hasst deinen Job. Du wolltest was anderes machen, was Entspannteres!«
»Aber jetzt will ich hierbleiben.« Roger schürzt trotzig die Lippen und kommt auf mich zu. »Lynnie. Jetzt freu dich doch mal! Wir suchen uns ein tolles Apartment an der Upper East, das wird auch aufregend!«
Ja. Ganz sicher. Die Upper East Side war ja schon immer der reinste Abenteuerspielplatz! Statt die irische Landschaft zu erkunden und in gemütlichen Pubs Guinness zu trinken, saufen wir Champagner und tragen einen Handtaschenhund spazieren, oder wie stellt er sich das vor?
»Ich fass’ es nicht«, ist das Einzige, was ich sagen kann.
»Schlaf erst mal darüber, ja?« Er greift nach mir und reibt meine Schultern, als wäre mir kalt. Dabei ist mir eher warm, so sauer bin ich. Doch Roger versucht weiter, mir seinen Enthusiasmus aufzuzwingen. »Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus und dann planen wir unsere Zukunft neu. Das wird super!«
Ich schüttle den Kopf, sehe Roger immer noch an und spüre, wie in mir etwas passiert. Ich beginne zu verstehen, dass wir an irgendeiner Weggabelung, die wir wohl beide übersehen haben, unterschiedliche Pfade eingeschlagen haben. Roger ging es nie um das Abenteuer mit mir. Auch nicht um einen Neuanfang. Ich glaube, er wollte nur einen Ausweg aus dem Hamsterrad, egal ob durch eine Flucht nach Irland oder die Aussicht auf ein Luxusleben.
Mir geht es um etwas ganz anderes. Ich wollte mit Roger glücklich werden, doch jetzt kann ich das nicht mehr, denn er hat mir gerade offenbart, was er wirklich in mir sieht. Sein Anhängsel, sein Frauchen, das er mit einem schicken Apartment und einem Baby abspeisen kann, während er selbst Karriere macht, mit seinem Chef golft und auf glamouröse Partys geht!
Hat er mich schon immer so gesehen und ich habe es nur nicht erkannt?
Oder hat er sich einfach verändert und eine unabhängige Frau passt nicht mehr zu ihm?
Ich weiß es nicht und es ist im Grunde auch egal, denn für mich steht etwas fest, das ich ausspreche, noch bevor ich es wirklich zu Ende gedacht habe. »Ich gehe trotzdem.«
Rogers helle Brauen schießen in die Höhe, seine Mundwinkel kräuseln sich. »Wie bitte?«
»Ich gehe trotzdem«, sage ich, fester und lauter jetzt.
Warum auch nicht?
Ich habe Erspartes für zwei oder drei Monate. Die Miete für das gemütliche Cottage mit Ofen und einem kleinen Garten drüben in Irland ist ebenfalls schon für drei Monate bezahlt. Mein Koffer ist gepackt, mein Ticket gebucht. Was soll mich also daran hindern? Roger? Ein Mann, der offenbar nicht mich liebt, sondern nur eine Vorstellung von mir?
»Lynnie, das meinst du doch nicht ernst. Du kennst doch da niemanden und überhaupt ...«
»Ich werde schon jemanden kennenlernen.«
Aus Rogers Spott wird Missfallen. »Du bist wirklich undankbar, weißt du das? Ich biete dir alles und du haust einfach ab? Irland war mein Traum, Lynnie, nicht deiner.«
Tz. Diese Worte zeigen mir endgültig, dass ich hier nichts mehr verloren habe. Jegliches warme Gefühl, das ich jemals für Roger empfunden habe, ist plötzlich fort, als hätte jemand eine Kerze in meinem Inneren ausgepustet.
»Tja, und für dich wird es wohl einer bleiben«, lasse ich ihn wissen. »Aber ich gehe. Viel Spaß mit deinem Eckbüro!«
Damit verlasse ich das Arbeitszimmer und kurz darauf das Haus – und mit ihm mein altes Leben ...


 


Kapitel 1


 


Zwei Tage später


County Kerry, Irland


 


Lynnie


 


Der Aerfort Chiarraí, der Flughafen von Kerry, hat zwar einen eigenartigen Namen, unterscheidet sich aber ansonsten nicht großartig von denen, die ich aus Amerika kenne. Nach der Landung hole ich meinen Koffer, durchquere das Terminal und stelle dabei fest, dass der einzige Unterschied zu den Staaten die seltsame Art ist, auf die die Iren Englisch sprechen. Der Dialekt der Menschen ist mir völlig fremd und ich muss mich richtig anstrengen, um ihn zu verstehen.
Gespannt lauschend trete ich nach draußen – und nehme mir die nötige Zeit, um diesen Moment abzuspeichern.
Ich bin angekommen.
Mein neues Leben beginnt jetzt!
Tief atme ich die Luft ein, die mir sogleich viel frischer und klarer als zu Hause in New York erscheint. Dann sehe ich in den Himmel, der sich nicht entscheiden kann, ob er blau oder grau sein will.
»Hi, Irland«, flüstere ich und für ein paar Sekunden fühlt sich dieser Augenblick total feierlich an ...
Dann ruft mir eine flapsige Stimme von links zu: »Miss! Lady! Brauch’n Sie ’n Taxi?«
Ich drehe den Kopf und erkenne, dass ein etwas älterer Mann mit Sommersprossen und rotem Schnurrbart den Kopf aus einem grauen Fahrzeug gereckt hat.
Grau?
Skeptisch betrachte ich das Gefährt.
Es hat seine besten Tage offensichtlich schon hinter sich, aber auf dem Dach und an den Seiten befinden sich gelbe Schilder, die es als Taxi ausweisen. Ist das Fake oder sehen die Taxis hier wirklich so aus? Normalerweise sind sie doch gelb, und zwar komplett!
Unauffällig blicke ich mich um und entdecke mehrere Autos mit demselben Look. Offensichtlich sind die Taxis in Irland also grau.
»Ich muss nach Shanerra Hill«, sage ich zu dem Fahrer mit dem Schnäuzer und trete näher.
Shanerra Hill ist der Ort, aus dem Rogers Vorfahren einst in die USA aufbrachen. Aus nostalgischen Gründen wollte er unbedingt dorthin ziehen.
»Fahr’ ich Sie hin«, verkündet er und steigt aus, um mein Gepäck in den Kofferraum zu wuchten.
Ich bedanke mich und wir verlassen den Flughafen, um in die irische Landschaft abzutauchen.
Zuerst fahren wir über eine Hauptstraße und ich sehe in erster Linie andere Autos und Verkehrsschilder, aber dann biegen wir ab, die Umgebung wird ländlicher ...
Und ganz plötzlich hat sie mich eingefangen und verzaubert.
Die Straße ist kurvig und windet sich durch eine Landschaft, in der kaum noch Häuser stehen. Stattdessen sehe ich Grün in so vielen Abstufungen wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Saftige Wiesen umgeben mich, durchzogen von rauem Felsgestein. So weit das Auge die atemberaubende Ferne erfassen kann, erkenne ich Hügel, zwischen denen Nebelfetzen wie dünne Tücher wabern. Die Wolken hängen tief und es sieht an manchen Stellen aus, als würde es gleich regnen. An anderen jedoch bricht Blau hervor, das die Landschaft fleckenweise aufleuchten lässt und mir eine Vorstellung davon gibt, wie es hier im Sommer aussehen mag.
Aber dabei bleibt es nicht. Wir kommen an winzigen Dörfern mit reetgedeckten Dächern vorbei, an einer Burgruine, die stolz in den Himmel ragt und an Herden wolliger Schafe.
Je mehr wir uns den zerklüfteten Klippen an einem der westlichsten Ausläufer im County Kerry nähern, desto schöner wird die Landschaft und die gesamte Szenerie wirkt so verzaubert, dass ich mir hinter jeder nächsten Biegung alles Mögliche vorstellen könnte: Regenbögen mit Goldtöpfen an ihrem Ende. Feen. Kobolde.
Zu sehen bekomme ich allerdings noch mehr Schafe, die meinem Taxi teils träge, teils neugierige Blicke hinterherwerfen.
Ich muss lächeln. »Das sind meine ersten Schafe.«
»Hä?«, fragt der Fahrer.
»Ich habe noch nie Schafe gesehen. Außer im Fernsehen natürlich.«
Er blickt mich durch den Rückspiegel an, als hätte ich gerade verkündet, dass ich mich für Santa Claus höchstpersönlich halte. »Wie jetzt?«
»Ich komme aus New York. Da gibt es keine Schafe.«
»Das kann nicht gesund sein«, befindet der Mann.
Grinsend lehne ich mich zurück und lausche dem Folk-Song, der aus dem Radio schallt. Dabei tauchen neben uns die ersten kleinen Steinhäuser auf und schließlich erreichen wir den Ort.
Shanerra Hill, das Städtchen, in dem ich ab sofort leben werde, drängt sich an die Klippen von Dingle. Es hat nur fünfhundert Einwohner, die meinen Recherchen nach auch auf das Umland verteilt sind. Was ich dort wohl vorfinden werde? Einen Pub mit Sicherheit, denn die Iren sind trinkfest, oder? Außerdem wird es sicherlich eine Kirche geben, denn katholisch sind sie meines Wissens nach auch. Alles andere werde ich einfach auf mich zukommen lassen – und so blicke ich gespannt aus dem Fenster.
Der Ort ist winzig, aber schon auf den ersten Blick wunderschön. Die Straßen sind schmal, die Häuser klein – keines scheint mehr als zwei Stockwerke zu haben. Die Fassaden sind teils naturbelassen, teils verwittert und bunt gestrichen. Zwischen den niedrigen Gebäuden hindurch kann ich überall das Meer sehen, über dem hungrige Möwen wilde Sturzflugmanöver starten. Das Einzige, was mich wundert, ist, dass es noch nirgends Weihnachtsdeko gibt.
»Schön hier«, sage ich, ziehe mein Handy hervor und mache ein paar Fotos, um sie Mom und Dad zu schicken.
Der Fahrer stöhnt. »Jetzt seien Sie aber nicht so eine!«
»Was für eine?«, frage ich mit einem Seitenblick in seine Richtung.
»Ne Knipserin. Genießen Sie lieber die Zeit hier! Sonst sind Sie in zwei Wochen wieder zu Hause und bringen tausend Fotos mit – aber keine einzige Erinnerung!«
Auch wenn seine Worte etwas Wahres haben, beschließe ich, ihn gleich mal zu überraschen. »Das hier ist mein Zuhause. Die Dingle Street, zu der Sie mich fahren. Da wohne ich ab jetzt.«
Vor Erstaunen fällt ihm fast der Schnurrbart aus dem Gesicht. »Was Sie nicht sagen!«
Tja, damit hat er offenbar nicht gerechnet.
Ich höre trotzdem auf seinen Rat, stecke das Handy weg und genieße die letzten Minuten der Fahrt, die uns wieder raus aus dem winzigen Zentrum des Örtchens führen und in eine Gegend, wo die Häuser weiter auseinander stehen. Dazwischen befinden sich verwilderte Wiesen. Die Grundstücke sind mit niedrigen Steinmauern voneinander abgegrenzt. In der Straße, wo Roger und ich unser Cottage gemietet haben, gibt es insgesamt fünf zweistöckige Häuschen, die in einem dunstigen Hellblau gestrichen sind. Sie besitzen Vorgärten sowie winzige Treppen, die hinauf zur Tür führen. Aber keine Veranda.
»Die Nummer zwölf ist meins«, sage ich und frage mich zugleich, weshalb es bei nur fünf Häusern eine Nummer zwölf gibt.
Der Fahrer hält davor und verkündet: »Na, dann! Willkommen in Shanny Hill!«
Shanny Hill.
Die Abkürzung hat was.
»Danke«, erwidere ich und bin überrascht, dass der Fahrer mir mein Gepäck zur Tür bringt. In New York kann man schon froh sein, wenn die dauergestressten Taxifahrer nicht wieder losfahren, bevor man komplett ausgestiegen ist.
Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld und verabschiede mich. Dann wende ich mich dem Haus zu, in dem ich ab jetzt wohnen werde.
Meinem neuen Zuhause.
Obwohl es, zumindest hier im Ort, nicht geregnet zu haben scheint, spannt sich ein Regenbogen über die Landschaft hinter meinem Grundstück. Ich genieße für einen Moment den Anblick und habe das Gefühl, dass die Farben hier viel kräftiger sind als in New York.
Dann trete ich näher heran.
Die Tür besteht aus verwittertem Holz, das, wie einige Farbreste erkennen lassen, mal blau gestrichen war, jetzt aber braun ist. Hinter den Fenstern erkenne ich Blümchengardinen. Ich bin froh, dass Roger und ich möbliert gemietet haben, sonst würde ich jetzt ganz ohne was dastehen.
»Hallo und willkommen«, sagt eine angenehm warme Stimme hinter mir und ich drehe mich um.
Auf dem Bürgersteig jenseits des Vorgartens ist wie aus dem Nichts ein Mann erschienen. Er ist eher klein, hat graues Haar und ein verschmitztes Lächeln. Er trägt einen Troyer und Jeans, in deren Taschen er seine Hände vergraben hat.
»Hallo«, erwidere ich.
Der Mann deutet nach rechts. »Ich bin Nicolás, Ihr Nachbar und Vermieter. Ich dachte, ich gebe Ihnen gleich mal den hier.« Sein Lächeln wird noch verschmitzter, während er einen silberfarbenen Schlüssel aus der Tasche zieht.
»Oh, klar!«
Ich frage mich, wie ich mir das Einziehen ohne Schlüssel vorgestellt hatte. Oh, Mann! Auch wenn ich stocksauer auf Roger bin, muss ich zugeben, dass ich sein Organisationstalent gerade gut gebrauchen könnte! Immerhin habe ich es vor dem Abflug noch geschafft, meinen wichtigsten Besitz per Paketpost aufzugeben. Viel ist es nicht, überwiegend Klamotten und Backsachen, die mich in den nächsten Tagen erreichen sollten.
Ich eile zu Nicolás und nehme ihm den Schlüssel ab. »Danke schön!«
»Gern geschehen. Ich hoffe, Sie und Ihr Partner hatten eine gute Anreise?«
Ich räuspere mich. »Ich ja. Mein Partner ist ... na ja.« Mit einer umfassenden Handbewegung signalisiere ich ihm, dass ich allein bin.
»Oh.« Er macht einen kleinen Schritt zurück und mustert mich plötzlich nachdenklich. »Oh!«
»Ja.« Ich lache rau. »Oh.«
Halb rechne ich damit, dass nun Fragen folgen werden, aber es kommen keine, und irgendwie ist das bezeichnend. Als wäre über Roger in meinem Leben alles gesagt.
»Dann sind Sie Single«, stellt Nicolás fest und betont das Wort, als würde er es neumodisch finden und nicht allzu oft benutzen. Dabei kann er kaum älter als Mitte fünfzig sein.
»Ja, seit vorgestern«, gebe ich freimütig zu. Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendwie macht mein neuer Nachbar es mir leicht, offen zu reden.
»Das ist perfekt«, erwidert er.
»Ach ja?«, frage ich verwundert.
Er nickt und deutet die Straße runter. »Perfekt für Ihren Einstand in Shanny Hill. Zufälligerweise findet nämlich morgen Abend im Pub das alljährliche Elf-Nollag-Féasta statt.«
»Was soll das denn sein?«, frage ich.
»Eine Wichtel-Veranstaltung, die im besten Fall dafür sorgt, dass niemand Weihnachten allein verbringen muss.«
»Ein Date-Event?«
»So kann man es auch nennen.« Das Lächeln kehrt auf Nicolás’ Züge zurück. »Kommen Sie doch vorbei ...«
»Lynnie«, sage ich schnell. »Ich bin Lynnie.«
»Ich bin sicher, es wird dir gefallen, Lynnie.«
Ein Date gefühlte vier Sekunden nach meiner Trennung? Einerseits kommt mir das überstürzt vor, andererseits bin ich neugierig. »Ich überlege es mir.«
»Oh, glaub mir, wer zu lange überlegt, verpasst das Beste.«
Ich lache. »Na gut. Ich komme.« Ich will nicht gleich nach meiner Ankunft einen Ruf als Einsiedlerin weghaben. Dieses Event ist sicher toll, um neue Leute kennenzulernen, auch wenn ich nicht auf der Suche nach einem Mann bin.
Nicolás wirkt zufrieden und erwidert mit einem Blitzen im Blick: »Dann habe ich für heute meinen Auftrag erfüllt. Komm erst mal in Ruhe an und wenn etwas ist: Meine Frau und ich wohnen gleich nebenan.«
Ich bedanke mich und schaue ihm hinterher, wie er an einem verwitterten Schuppen vorbei geht und anschließend im Nachbarhaus verschwindet.
Sein Auftrag?
Wer hat ihn denn beauftragt? Der irische Engel der einsamen Herzen oder so?
Schmunzelnd wende ich mich meiner Tür zu und stelle dabei erneut fest, dass mir an diesem verwunschenen Ort irgendwie alles möglich erscheint ...


 


Sean


 


Die Whiskeyflaschen in den dunklen Regalen starren mich an, als würden sie mich auffordern wollen, endlich meinen Platz zu verlassen und ... ja, was? Soll ich durch den Verkaufsraum tanzen wie ein Kobold? Soll ich die Tumbler für eventuelle Whiskey-Tastings polieren, so wie es Eòghan immer tut, wenn im Old Cottage nichts los ist?
Ganz bestimmt nicht. Ich werde einfach warten, bis meine Schicht zu Ende ist und dann den Heimweg antreten.
»Lasst mich in Ruhe«, murre ich den Flaschen entgegen und lehne mich auf den Tresen. Er besteht aus altem Holz und ist an einigen Stellen schon ganz aufgeweicht von all den verschütteten Malt-Tropfen. Glücklicherweise ist heute rein gar nichts zu tun. Es regnet seit ein paar Stunden in Strömen und alle sind mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Kein Dorfbewohner, der eine Alibi-Flasche Bushmills kauft, um mich hintenrum auszufragen, wie es mir geht. Niemand, der mit mir darüber diskutieren will, ob Tumbler oder Nosing-Gläser besser für einen Redbreast geeignet sind und dann nach zwei Minuten das Thema wechselt, um sich nach meinem »Befinden« zu erkundigen.
Wie soll es mir schon gehen?
Mit den Fingern male ich die Ringe nach, die die Gläser auf dem Holz hinterlassen haben, als ich draußen durch den grauen Vorhang aus Regentropfen etwas entdecke. Oder viel mehr jemanden.
»Oh, nein«, flüstere ich. »Nein, nein, nein.«
Eine Touristin kommt mit eingezogenem Kopf geradewegs aufs Old Cottage zugelaufen. Wenn ich eins noch mehr hasse als meine neugierigen Nachbarn aus Shanny, dann sind es Touristen.
»Vergiss es!« Ich stürme auf die Eingangstür und damit auf das Ziel der Touristin zu. Beinahe gleichzeitig kriegen wir die Tür zu fassen, aber nur fast. Ich bin schneller und schaffe es, abzuschließen, genau in dem Moment, als sie sich mit der Schulter dagegenstemmt.
»Ha!«
Kurz wirkt die Touristin irritiert, dann hebt sie den Kopf und sieht mich verständnislos an. Ihre Augen sind dunkelbraun und erinnern mich an den Schokokuchen mit dem Schuss Guinness, den meine Oma früher immer gebacken hat. Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Empörung sieht sie mich an. Ihr Haar hat fast dieselbe Farbe wie ihre Augen und hängt ihr tropfnass in die Stirn. Fast könnte sie mir leidtun mit ihrem Begossener-Pudel-Look, aber nur fast.
»Geschlossen«, forme ich mit den Lippen und drehe das goldene Schild, das sich an der Ladentür befindet, herum, sodass ‚Dúnta‘, das irische Wort für ‚Geschlossen‘darauf zu lesen ist. Da außerhalb Irlands so gut wie niemand diese Sprache spricht, steht in kleineren Buchstaben darunter: Closed.
»Ist das Ihr Ernst?«, höre ich die Touristin gedämpft durch die geschlossene Glastür fragen. Ihr Akzent kommt mir bekannt vor. Ach ja, aus den Serien und Filmen aus Übersee. Amerikanerin, wenn mich nicht alles täuscht. Die mag ich ganz besonders. Nicht.
Mit einem bedauernden Grinsen hebe ich die Schultern. »Mittagspause.«
Die kleine Amerikanerin sieht mich jetzt noch zweifelnder an, was irgendwie süß ist, weil sich ihr ganzes Gesicht dabei zusammenknautscht. Sie zieht einen Schmollmund und die Nase kraus, ehe sie sagt. »Es ist siebzehn Uhr.«
Eine Klugscheißerin also.
»Ladenschluss?«, gebe ich ihr eine Alternative.
»Kommen Sie.« Die Amerikanerin tritt von einem Bein aufs andere. »Es regnet Bindfäden und ich brauche noch ein Geschenk für heute Abend. Lassen Sie mich rein, es geht auch ganz schnell.«
»Für wen ist das Geschenk?«, frage ich.
Die Kleine wirkt kurz, als würde sie meine Frage nicht beantworten wollen, dann sagt sie: »Für jemanden, den ich noch nicht kenne.«
Ah, ja. Sowas kann auch nur von Amerikanern kommen. Geschenke kaufen für Menschen, die gar nicht existieren.
»Ist dieser Unbekannte Ire?«, hake ich weiter nach. Wer weiß, welche Kuriositäten die Kleine noch offenbart.
Sie nickt. »Schätze schon.«
»Dann vergessen Sie’s. Iren stehen nicht auf Geschenke und jetzt ...« Ich mache eine wedelnde Handbewegung. »Geben Sie den Notausgang frei.«
»Den ...«
Ich hätte nicht gedacht, dass die Kleine noch fassungsloser aussehen kann. Sie amüsiert mich, aber das muss sie nicht wissen, deshalb drehe ich mich kurzerhand um und steuere wieder den Tresen an.
Vor der Tür stößt die kleine Amerikanerin noch eine Reihe wenig damenhafter Flüche aus, dann geht sie. Endlich.
Ich sehe ihr und den viel zu engen Jeans nach, die sie trägt. Sie kleben dank des Regens an ihrer Haut und lassen mich ... Nun, sie lassen mich eigentlich alles erahnen. Schlanke Beine, einen knackigen Po, eine schmale Taille.
Keine Frage, diese Fremde ist in jeder Hinsicht süß. Aber was schert mich das?
Ich bin eigentlich nur froh, dass ich sie los bin. Jetzt muss ich bloß noch den Rest des Tages hinter mich bringen und dann habe ich wieder vierundzwanzig Stunden geschafft.
Vierundzwanzig Stunden, die so trostlos und leer waren wie die zuvor und die, die noch folgen werden.
Daran ändert auch der hübsche Hintern einer Fremden nichts.


 


 


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