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Belletristik
Buch Leseprobe Die Nordseeprinzeßin, Maria Braig
Maria Braig

Die Nordseeprinzeßin



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4. Vergangen ist nicht vorbei Wenig später bezahlte Delia bei der aushelfenden Enkelin ihre Rechnung und machte sich auf den Weg zu Martje Jessen. Sie hoffte, die alte Frau nicht beim Mittagschlaf anzutreffen, aber sie war nun schon einmal so weit gekommen, da wollte sie auch gleich den nächsten Schritt tun. Wenigstens sich ein wenig umsehen, sie könnte dann ja auch wieder gehen und morgen zu einem besseren Zeitpunkt den nächsten Versuch wagen. Katrin Nansens Zeitangabe war korrekt. Ziemlich genau eine halbe Stunde später konnte Delia ein Stück abseits von der Straße einen alleinstehenden alten Hof erkennen. Etwa zweihundert Meter weiter gab es noch eine andere Hofstelle, aber die war viele Jahre jünger und in wesentlich besserem Zustand, soweit sie das aus der Ferne erkennen konnte. Hier wirtschaftete vermutlich der junge Bauer, der Martjes Land gepachtet hatte. Von der Hauptstraße führte ein kleiner asphaltierter Weg direkt zum alten Hof. Den schlug Delia ein und schon wenige Minuten später konnte sie eine alte Frau erkennen, die in einem kleinen Blumengarten vor dem Haus herumwerkelte. Also kein Mittagschlaf. Glück gehabt, dachte Delia und näherte sich dem Haus. Die alte Frau hatte sie kommen gehört und kurz aufgesehen, widmete sich dann aber wieder dem Garten. „Sie haben aber schöne Blumen“, sagte Delia, als sie am Gartenzaun angekommen war. Nun richtete sich die Alte auf, um die Spaziergängerin zu begrüßen. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Sie starrte Delia wortlos an. „Entschuldigen Sie, ich hatte gedacht, Sie hätten mich bemerkt“, sagte die. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ „Schon gut, ich dachte nur ganz kurz, Sie wären jemand anderes.“ Ihre Stimme klang etwas rau, aber warm und Delia fühlte sich sofort wohl in ihrer Gegenwart. „Sind Sie Jessens Martje, der Bauer?“, fragte sie dann. „Ich bin Delia.“ „So hat mich schon lange niemand mehr genannt. Wer hat Sie denn geschickt?“ Martje lachte. „Kommen Sie doch herein. Haben Sie Lust auf ein Tässchen Tee? Ich bekomme so selten Besuch, da muss ich jede Gelegenheit nutzen.“ Es war zwar noch nicht lange her, seit sie Kaffee getrunken hatte, aber Delia wollte die Gunst der Stunde nutzen. Sie ging durch das kleine Gartentor, das hinter ihr von allein zufiel. „Kommen Sie zum Haus und setzen Sie sich. Ich muss erst mal die Hände waschen, sie sind ganz schmutzig von der Gartenerde“, sagte Martje und zeigte auf eine Bank an der Hauswand, vor der ein schwerer Holztisch stand. „Ich mache dann auch gleich Tee für uns.“ Martje verschwand im Haus, während Delia sich auf der Holzbank niederließ und die Sonnenstrahlen genoss. In Griechenland wäre es jetzt zu heiß, um direkt in der Sonne zu sitzen, ging es ihr durch den Kopf. Wie es diesem Mädchen Annemarie wohl ergangen war, als sie von der Insel in der Nordsee in die Ägäis gekommen war? Als Martje Jessen mit Tee, Sahne, Klüntjes und Keksen, alles auf einem kleinen Tablett samt friesischen Tassen und kleinen Löffeln zusammengedrängt, aus dem Haus kam, war Delia eingeschlafen. Martje stellte das Tablett ab und setze sich leise ihrem Gast gegenüber an den Tisch. Sie nutzte die Gelegenheit um dieses Gesicht, das sie auf den ersten Blick sofort an Annemarie erinnert hatte, in Ruhe zu betrachten. War diese starke Ähnlichkeit wirklich da oder bildete sie sich etwas ein? Da hatte es doch einmal eine Tante von Annemarie gegeben, die diese als junges Mädchen fast ein Jahr lang pflegte und von der sie vorher nie etwas gehört hatte. Annemarie hatte damals erzählt, wie schön es auf dieser griechischen Insel gewesen war, wie gerne sie ihre Tante hatte und dass sie am liebsten später einmal zu ihr ziehen wollte. Plötzlich kamen die alten Geschichten wieder hoch. Warum hatte diese Tante nie nach Annemarie gefragt, die ganzen Jahre nicht, wenn sie doch so eine enge Beziehung zu ihrer Nichte gehabt hatte? Und diese Frau, diese Delia, die jetzt vor ihr saß? Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent, den Martje allerdings keinem bestimmten Land zuordnen konnte. Die Tante konnte es auf keinen Fall sein, dazu war sie viel zu jung. Aber vielleicht ihre Tochter? Hatten die Verwandten in Griechenland sich plötzlich doch erinnert? Oder war die Ähnlichkeit ein reiner Zufall, ein Spiel der Natur? Delia erwachte und Martje goss Tee in die Tassen, als ob sie eben erst an den Tisch gekommen wäre. „Bin ich etwa eingeschlafen? Wie unhöflich von mir, es tut mir leid“, entschuldigte sich Delia. Martje lachte. „Das macht die Seeluft. Wie Ihnen geht es vielen Gästen auf der Insel. Aber nun sagen Sie mir, wer Sie geschickt hat. Ich bin doch ziemlich neugierig, wer mich heute noch immer Jessens Martje, der Bauer nennt.“ Delia nahm einen Schluck Tee und überlegte, während sie ganz langsam trank, um Zeit zu gewinnen, wie sie beginnen sollte. Die Situation war doch sehr ungewöhnlich und sie wollte die alte Frau auch nicht an Dinge erinnern, von denen sie möglicherweise gar nichts mehr wissen wollte. Aber es ging nicht anders, sie konnte nur versuchen, möglichst schonend vorzugehen. „Niemand hat mich geschickt“, sagte Delia und sah Martje forschend an, um auf jede unverhoffte Reaktion reagieren zu können. Sie wollte nicht riskieren, dass sie den Rettungswagen rufen müsste, weil sie selbst Martje vielleicht als Gespenst aus der Vergangenheit erschien. „Es ist eine komplizierte Geschichte und ich sollte vielleicht ein bisschen ausholen“, begann sie vorsichtig. Martje nickte erwartungsvoll, sagte aber nichts. „Ich bin wie Sie auf einer Insel aufgewachsen. Allerdings auf einer griechischen Insel in der Ägäis. Später bin ich von dort weggegangen, um zu studieren, und habe dann viele Jahre in Athen gelebt. Meine Mutter blieb nach dem frühen Tod meines Vaters allein in einem kleinen Häuschen auf unserer Insel und ich habe sie besucht, so oft es ging. Sie und meine Insel. Ich habe selbst eine Tochter, sie ist schon erwachsen und selbstständig, aber als Kind war sie oft mit mir dort. Wir haben fast alle Schulferien bei meiner Mutter, ihrer Großmutter, verbracht. Seit sie erwachsen ist, hat sie Omis Insel, wie sie sagt, häufig mit ihrer Lebensgefährtin zusammen besucht.“ Delia sah auf, um Martjes Reaktion zu beobachten. Sie hatte absichtlich erwähnt, dass ihre Tochter in einer Beziehung mit einer Frau war, in der Hoffnung, Martjes Vertrauen zu gewinnen. Martje räusperte sich. „Wie schön, dass man heute so offen darüber sprechen kann“, sagte sie. „Mir fällt es immer noch nicht ganz leicht, von meiner Ulrike zu erzählen.“ Delia nickte. „Leider ist es auch heute noch nicht überall und in allen Familien so. Meine Tochter hatte Glück. Selbst ihre Großmutter fand es völlig okay, dass sie ihre Freundin Filipa mitbrachte. Wir haben uns beide darüber gewundert.“ „Aber was führt Sie nun zu mir?“, fragte Martje nach einer kurzen Gesprächspause. „Wo war ich stehengeblieben?“ Delia überlegte kurz. „Ach ja, Omis Insel. Ich will es kurz machen. Vor ein paar Monaten ist meine Mutter gestorben und wir haben uns nach längerem Überlegen entschlossen, ihr Haus zu behalten und für Feriengäste herzurichten.“ „Das tut mir sehr leid“, sagte Martje. „Also das mit ihrer Mutter, meine ich. Das mit dem Haus ist doch eine schöne Idee.“ „Ich wollte das erst nicht, aber nachdem meine Tochter versprochen hat, sich um das Haus zu kümmern, war ich gerne einverstanden. Irgendwie hänge ich ja doch an meiner Insel und am Haus meiner Eltern, in dem ich aufgewachsen bin.“ „Ich bin nie von hier weggekommen“, warf Martje versonnen ein. „Jedenfalls nicht für lange. Ich habe es versucht, aber ich bin kläglich gescheitert. Ohne meinen Hof und die Insel habe ich es nicht ausgehalten und meine arme Ulrike musste darunter leiden. Wir haben es dann auch nicht auf Dauer zusammen geschafft.“ Sie seufzte. „Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Wir kennen uns doch kaum“, wunderte sie sich dann über sich selbst. „Aber nun habe ich Sie schon wieder unterbrochen. So wird das nie etwas.“ „Die Geschichte ist auch fast zu Ende“, fuhr Delia mit ihrem Bericht fort. „Leda, meine Tochter, hat begonnen, das Haus herzurichten, und dabei hat sie auf dem Dachboden ein paar alte Briefe gefunden.“ Delia griff nach ihrer Jacke, die sie über die Lehne der Bank gelegt hatte. Sie zog die drei verknitterten Briefe, die in der Keksdose so viele Jahre überdauert hatten, aus der Tasche und legte sie vor Martje auf den Tisch. „In diesen Briefen erzählt eine Annemarie von Ihnen und sie nennt Sie Jessens Martje, der Bauer.“ Delia überlegte kurz, dann legte sie auch den Vertrag, den Annemarie mit Enna geschlossen hatte, auf den Tisch. „Ich bin hierhergekommen, um herauszufinden, was damals geschehen ist. Wer diese Annemarie ist und ob stimmt, was ich den Briefen und diesem Papier hier zu entnehmen glaube. Und vielleicht können Sie mir dabei helfen.“ Martje las den Vertrag in Kinderschrift und wurde blass. Dann las sie die drei Briefe. Sie ließ sich Zeit, es schien Delia, als wolle sie auch nicht die kleinste Einzelheit übersehen. Als sie fertig war, begann sie von vorne, und als sie alles zweimal durchgelesen hatte, schob sie die Papiere über den Tisch zu Delia. „Was ist denn aus dieser Annemarie geworden? Hat Ihre Mutter nichts von ihr erzählt?“ „Meine Mutter erzählte sehr wenig und nur, wenn man sie sehr bedrängte, aus ihrer Vergangenheit. Ich habe sie als Jugendliche mit Fragen nach ihrer Familie genervt, ich wollte wissen, wo meine Wurzeln lagen, wie man so sagt. Die Familie meines Vaters lebte auf der Insel und auf dem griechischen Festland. Man sah sich bei Familienfesten und wusste zumindest voneinander. Von der Familie meiner Mutter wurde nie gesprochen. Alles, was ich aus ihr herausbringen konnte, war, dass sie mit einem ehemaligen Zwangsarbeiter als Mann nicht auf ihrer deutschen Heimatinsel bleiben konnte und wir deshalb in Griechenland lebten, wo sie sehr lange Zeit als die Deutsche galt, die man eigentlich nicht bei sich haben wollte. Ich habe immer wieder nachgebohrt, wollte wissen, wo ihre Familie lebt, aber ich erfuhr lediglich, dass es nur einen Bruder und seine Frau gegeben hatte und dass diese bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, als ich noch ganz klein war. Erst gestern ist mir wieder eingefallen, dass sie einmal erwähnt hat, dass in diesem Auto auch noch eine Nichte von ihr saß, die ebenfalls ums Leben kam. Ich nehme an, dabei handelt es sich um diese Annemarie.“ „Geben Sie mir etwas Zeit, Delia“, bat Martje. „Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen.“ Die beiden Frauen verließen schweigend den Garten und Delia folgte Martje auf einem kleinen Pfad, der hinter dem Haus durch die Wiesen führte. Es roch anders als in Griechenland, wo die Kräuter in der Sonne manchmal fast den Geruch des Meeres überdeckten. Aber es summte und brummte im Blühstreifen, der den schmalen Weg säumte, der zu einem kleinen Teich führte. Am Wasser stand eine Bank. Martje setzte sich und klopfte neben sich auf das Holzbrett. Setz dich zu mir, Delia. Darf ich du sagen? Es scheint mir ganz passend für das, was ich dir nun erzählen werde.“ Delia nickte gespannt, sagte aber nichts. „Annemarie war als junges Mädchen oft bei mir auf dem Hof. Heimlich, ihre Eltern durften nichts davon wissen, denn auf der ganzen Insel war bekannt, dass ich nicht normal war, dass ich so eine war. Annemarie hatte davon gehört, nachdem ihre Mutter, Grete Ekhoff, sie nackt mit ihrer Freundin Geske im Bett erwischt hatte. Geske wurde daraufhin von der Insel weg in ein Mädchenpensionat auf dem Festland geschickt und aus Annemarie sollte nun endgültig ein richtiges Mädchen werden. Die Familie hatte im Weltkrieg zwei ältere Brüder Annemaries verloren und der Vater, der selbst noch sehr lange unter seinen Erlebnissen im Krieg litt, hatte das Mädchen glauben gemacht, sie könne die Brüder für ihn ersetzen. Annemarie war als halber Junge aufgewachsen und als sie in die Pubertät kam, sollte sie plötzlich ein Mädchen mit allen Einschränkungen, die das damals bedeutete, werden. Das funktionierte natürlich mehr schlecht als recht. Dann kam Geske ins Spiel, Annemarie wurde mädchenhafter, passte sich der neuen Freundin an, aber was sich dann zwischen den beiden entwickelte, war natürlich auch nicht gewollt. Als Geske von der Insel verbannt worden war, setzte Grete Ekhoff alles daran, ihre Tochter so hinzubiegen, dass man sie eines Tages mit einem passenden jungen Mann verheiraten könnte, der dann das Gut übernehmen sollte. Passend hieß in dem Fall: Geld zu Geld, Einfluss zu Einfluss. Annemarie wollte nicht einsehen, dass sie den Hof nicht selbst führen könnte, und sie hatte von Jessens Martje, dem Bauern gehört. Wenn Martje ein Bauer sein konnte, dann könnte sie das doch auch, versuchte sie den Eltern klarzumachen, stieß dabei aber selbstverständlich auf Granit. Jessens Martje ist eben seltsam, so sagte man ihr, und mein Hof wäre schließlich nicht zu vergleichen mit dem Gut der Ekhoffs. Annemarie wollte sich selbst ein Bild machen, schlich um meinen Hof herum und ließ sich von mir erwischen. Von da an war sie häufig zu Gast, half mir, wo sie konnte, aber niemand durfte davon erfahren. Das musste ich ihr versprechen. Ich nehme an, sie hatte recht mit der Annahme, dass man ihr sonst keine Gelegenheit mehr gegeben hätte, mich zu besuchen. Annemarie wurde dann ganz nach Plan mit dem Sohn des reichen Bauern Ole Hanssen verlobt. Sie war noch sehr jung und die Hochzeit sollte frühestens stattfinden, wenn sie achtzehn Jahre alt geworden war.“ Martje machte eine Pause. „Wenn es Sie zu sehr anstrengt, kann ich auch morgen wiederkommen“, überwand sich Delia zu sagen. Sie wollte die Geschichte unbedingt weiterhören, Martje aber auch nicht überanstrengen. Das alles schien die alte Frau ziemlich mitzunehmen. „Du, Delia. Wir sagen doch du zueinander“, erinnerte Martje und nahm Delias Hand in die ihre. „Es strengt mich an, weil es vieles aufrührt in mir. Aber ich möchte gerne weitererzählen.“ Sie setze sich zurecht, ließ dabei aber Delias Hand nicht los. „Du weißt vielleicht, Delia, dass man damals in Deutschland vor dem Gesetz erst mit einundzwanzig Jahren als erwachsen galt? Annemarie wollte auf keinen Fall heiraten, aber sie konnte nichts gegen die Pläne ihrer Eltern tun, solange sie minderjährig war. Sie hoffte noch immer, eines Tages wieder mit ihrer Freundin Geske zusammenzukommen, aber selbst, wenn sie allein bleiben sollte, sie wollte auf keinen Fall einem Mann gehören, wie sie das nannte. Ich versprach ihr, sie nach Kräften zu unterstützen, aber wirklich helfen konnte ich ihr nicht. Dann fuhr ich über Weihnachten und Silvester zu meiner Freundin Ulrike nach Hamburg. Als ich zurückkam, war Annemarie irgendwie anders, aber sie wollte nicht damit herausrücken, was geschehen war und was sie so bedrückte.“ Martje verstummte, ließ Delias Hand los und wischte sich über die Augen. „Jetzt, so viele Jahre später, weiß ich endlich, was damals passiert ist. Das arme, arme Mädchen. Ich hätte es erkennen müssen damals, was Ole ihr angetan hat. Vielleicht, wenn ich nicht so mit mir selbst beschäftigt gewesen wäre – Ulrike und ich überlegten damals, dass ich den Hof aufgeben und zu ihr in die Großstadt ziehen sollte. Als lesbisches Paar auf der Insel zu leben, war einfach nicht denkbar – vielleicht hätte ich ihr dann helfen können?“ Delia legte ihren Arm um die alte Frau. „Du hättest nichts ändern können, Martje, das weißt du. Du warst für sie da. Das zählt.“ „Wahrscheinlich hast du recht, Delia. Trotzdem …“ Nach längerem Schweigen stand Martje von der Bank auf. „Delia, es tut mir leid, für heute muss es genug sein. Ich kann nicht mehr, das nimmt mich doch ziemlich mit, was ich aus diesem Brief erfahren habe. Ist es dir recht, wenn ich morgen weitererzähle?“ Delia nickte. Sie war enttäuscht, aber sie hatte auch Verständnis für Martje. Schweigend gingen die beiden zurück zum Haus. „Vielen Dank für deinen Besuch, Delia.“ Martje nahm die Frau aus Griechenland, die sie noch vor wenigen Stunden nicht gekannt hatte, in den Arm und hielt sie lange fest. „Darf ich die Briefe bis morgen behalten?“ Delia nickte. Sollte sie die Briefe nur noch ein paarmal lesen, wenn sie das wollte. Martje hatte von Annemaries Vergewaltigung bisher nichts gewusst und der Schock saß nun tief. Dass Delia das Ergebnis dieses Verbrechens war, schien bei ihr noch nicht angekommen zu sein. Darüber würden sie dann morgen sprechen. Für Martje war das vermutlich nicht so besonders aufregend und auch für Delia gab es nicht mehr viel Neues zu erfahren. Annemaries Geschichte war schon fast zu Ende erzählt, denn der Unfall, bei dem die ganze Familie Ekhoff getötet worden war, musste schon bald nach dem letzten Brief Annemaries an Enna passiert sein. Damit erklärte sich auch, warum es keine weiteren Briefe gab. Delia ging zurück zur Hauptstraße und wartete an der Haltestelle auf den Bus. Sie stieg in den ersten, der anhielt, obwohl er in die falsche Richtung fuhr. Aber schließlich war sie auf einer Insel. Ganz egal, in welche Richtung sie fuhr, irgendwann würde sie an ihrem Ziel ankommen. Außerdem war eine Inselrundfahrt genau das, was sie jetzt brauchte. Nicht nur Martje hatte vieles erfahren an diesem Nachmittag, was sie nun erst verarbeiten musste. Auch sie selbst konnte das Gehörte nicht einfach wegstecken. Was für eine Kindheit, was für eine Jugend hatte dieses Mädchen durchlebt. Ein vom Krieg traumatisierter Vater, der seine Tochter nicht wirklich wahrnahm, sondern in ihr nur einen Ersatz für seine verlorenen Söhne sah. Eine Mutter, die mit Sicherheit mindestens ebenso sehr unter deren Verlust litt und die glaubte, dem Vater helfen zu können, indem sie sein Verhalten der Tochter gegenüber zuließ, solange diese ein Kind war. Die es zugleich aber als ihre Aufgabe sah, aus dem Wildfang schließlich doch eine richtige Frau zu formen, wie die Inselgesellschaft es von ihr erwartete. Eltern, die gemeinsam dafür Sorge trugen, unter allen Umständen nach außen den Schein zu wahren, ganz egal, was geschah und wie ihr Kind darunter litt. Was das Kind sich wünschte, interessierte niemanden. Was das heranwachsende Mädchen wollte oder nicht wollte, noch weniger. Ein Patriarch, eine im Lauf des Lebens hart gewordene Frau, die das Erbe des dem Geschlecht geschuldeten Verzichts auf ein selbstbestimmtes Leben an ihre Tochter weitergab, und ein Vergewaltiger bestimmten das kurze Leben der Annemarie Ekhoff. Martje und Enna waren lediglich kleine Sandbänke gewesen, auf denen Annemarie zwischendurch Luft holen konnte, bevor die Flut zurückkam.


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